Heiner Faulenbach über Hermann Friedrich Kohlbrügge (TRE): „Kohlbrügge wollte einzig und allein Prediger, Ausleger des Wortes Gottes sein. Seine Aufgabe sah er darin, den Weg der Gnade zu jedem Menschen anhand der Schrift aufzudecken. Die Schrift interpretierte er in allen Teilen christozentrisch. Daher fordert er in seinen vielen gedruckt vorliegenden Predigten auf, allein Christus und seine Gnade zu suchen.“

Kohlbrügge, Hermann Friedrich (1803-1875)

Von Heiner Faulenbach

1. Leben

Kohlbrügge wurde am 15. August 1803 in Amsterdam geboren. Da der deutschstämmige Vater Glied der lutherischen Gemeinde in Amsterdam war, seine niederländische Mutter jedoch reformierter Herkunft, wurde er von frühester Jugend an mir den Lehrvor­stellungen beider Konfessionen vertraut. Der Hochbegabte betrieb in pietistischer Sicht eine intensive Bibellektüre. Aus diesen Voraussetzungen wurde der geistesmächtige Predi­ger geformt, der zeitlebens Schriftausleger war und der für seine Person eine Einheit von lutherischen wie reformierten Lehransichten repräsentierte, wie sie die Union in Preußen (s. TRE 10,678 f), die er wegen ihrer zwanghaften Durchsetzung und mangelnden Be­kenntnisbindung ablehnte, nicht erreichte. So wurden seine theologischen Erkenntnisse wie sein Wirken eine Herausforderung für die Kirche und sein Lebensweg mußte durch manche Schwierigkeiten hindurchgehen.

Ab dem zehnten Lebensjahr besuchte er die Schulen seiner Vaterstadt. Er wurde ein ausgezeich­neter Kenner orientalischer Sprachen, griechischer und lateinischer Literaturen. Ab 1823 nahm er das Theologiesrudium auf. Dem sterbenden Vater versprach er. Doktor der Theologie zu werden. Im Jahr 1826 wurde er Proponent ¿er lutherischen Gemeinde Amsterdam. Der von einem starken Sendungsbewußtsein geprägte und orthodoxe Lehrüberzeugungen als absolut aus dem Wort Gottes entnommene Wahrheiten verkündigende junge Prediger geriet jedoch schon nach wenigen Monaten in Konflikt mit der rationalistisch orientierten Pfarrerschaft und dem Konsistorium, weil er in einer als unzeitgemäß empfundenen Weise die Rechtfertigungslehre und andere Glaubensstücke verteidig­te. Daraufhin wurde er 1827 von seinem Hilfspredigeramt abgesetzt. Danach arbeitete er an einer Erklärung von Ps 45. Er legte seine Ausarbeitung der theologischen Fakultät in Utrecht vor. Trotz aller Einwände gegen sein christologisches Verständnis des Textes konnten die Professoren ihm die theologische Doktorwürde im Jahr 1829 nicht versagen.

Eine 1829 nach bürgerlichem Recht vollzogene Heirat mit Catharina Luise Engelbert (1808-1834) machte ihn wirtschaftlich unabhängig. Eine kirchliche Trauung wurde dem Paar ver­wehrt, weil sich kein Pfarrer fand, dem gegen den theologischen Zeitgeist opponierenden Kohlbrüg­ge diesen Dienst zu erweisen. Das führt zu weiterer Entfremdung von seiner Kirche. Der Lutherken­ner Kohlbrügge macht sich nun auch mir den Lehren Calvins vertraut. Er wendet sich der refor­mierten Gemeinde in Utrecht zu. Doch diese verlangt für eine förmliche Aufnahme ein Kirchenzeugnis für Kohlbrügge seitens seiner lutherischen Heimatgemeinde. Da ihm dies verweigert wird, bleibt der innerlich zum Reformierten gewordene kirchenrechtlich von dieser Gemeinde ausgeschlossen. Nach dem Tod seiner Frau entschloß sich der kränkelnde Kohlbrügge zum Besuch der Bäder in Godesberg. Da er schon lange Kontakte zu erwecklichen Geistesgenossen besaß, kam es nun insbe­sondere im Wuppertale zu persönlichen Begegnungen und bleibenden Freundschaften. Kohlbrügge erhielt Gelegenheit zur Predigt und seine nach dem Tod des Vaters einsetzende Bekehrungszeit findet nach eigenem Bekunden jetzt ihren Abschluß. Bei der Auslegung von Röm 7,14 erkannte er plötzlich die Bedeutung des Werkes Christi für einen Christen: Es gelte, „den durch Christi Blut gerechtfertig­ten und geheiligten und von allen Sünden abgewaschenen Christen in sich selbst“ zu beschauen. In Abgrenzung gegenüber der Weh müsse die Gemeinde der Wiedergeborenen sehen, daß sie das Evan­gelium verfehle, wenn sie sich nicht in allem an Christus orientiere. Diesen Stand­punkt hielt Kohlbrügge fortan fest.

Die Kritiker der preußischen Unionskirche im Wuppertale hofften, Kohlbrügge als Prediger gewinnen zu können. Sein Antrag auf Aufnahme in die Predigerkandidatenliste wurde jedoch 1834 vom Konsistorium in Koblenz abgelehnt. So kehrte Kohlbrügge in seine Heimat zurück. Dort geht er 1834 wiederum nur nach bürgerlichem Recht eine zweite Ehe mit der Baronin Ursuline Philippine van Verschur (1794-1866) ein. Er widmet sich der Erziehung seiner Kinder aus erster und zweiter Ehe und fuhrt eine immer intensiver werdende Korrespondenz mit Freunden im In- und Ausland. Auch schreibt er eine Verteidigung seiner Predigt über Das siebente Kapitel des Briefes Pauli an die Römer (1839) und er legt seinen Entwurf der Heilsgeschichte in der Abhandlung Das Wort ward Fleisch, Betrachtung über das erste Kapitel des Evangeliums nach Matthäus (1844) vor.

Die wegen der Unionsfrage von der reformierten Gemeinde dissentierenden Kreise in Elberfeld hegten über Jahre den Wunsch, mit Kohlbrügges Hilfe könnten sie all die Rechte zurückgewinnen, die sie mit der Einführung von Union, Agende und Kirchenordnung seit 1835 verloren hatten. Anläßlich eines erneuten Erholungsaufenthaltes von Kohlbrügge in Godesberg im Jahr 1845 nahm dieser Plan konkrete Züge an. Im Sommer 1846 siedelt Kohlbrügge mit seiner Familie nach Elberfeld über. Er betreibt seine Aufnahme in die reformierte Gemeinde in der Absicht, die Elberfelder Unionsgegner in ihre Muttergemeinde zurückzuführen. Kohlbrügge wurde tatsächlich im November 1846 in diese Ge­meinde aufgenommen. Er hatte jedoch für sich den Vorbehalt angemeldet, daß er zu nichts verpflichtet werden könne, was im Gottesdienst, der Agende oder der Verfassung dem reformierten Bekenntnis zuwider sei. Über diesen Vorbehalt kam es recht bald zwi­schen den Predigern der Gemeinde und Kohlbrügge zu gegensätzlichen Interpretationen. Für Kohlbrügge und seine Elberfelder Freunde tat sich kein Weg zum Ausgleich mit der Gemeinde auf. Für Kohlbrügge, der sich in seiner Heimat wie im Wuppertale bislang einer Separation von der Landeskirche entgegengestellt hatte, ergab sich die Möglichkeit einer Gemeindeneubildung, als der preußische König Ende März 1847 ein Patent erließ, das die Bildung neuer Religionsgesellschaften gestattete. Dieses Gesetz erlaubte es den Gegnern der Union im Wuppertale, am 18. April 1847 nach weltlichem Recht eine unabhängige Gemeinde zu gründen, die sofort in Konflikt mit der reformierten Gemeinde geriet, da deren Parochialrechte durch das neue Gesetz im Blick auf die Personalgemeinde Kohl­brügges nicht aufgehoben wurden. Nach einer Intervention der 5. Rheinischen Provin­zialsynode 1847 nahm die neue Religionsgesellschaft den Namen Niederländisch-Reformierte Gemeinde Elberfeld an. Kohlbrügge blieb ihr Leiter bis zu seinem Lebensende am 5. März 1875.

2. Lehre

Kohlbrügge wollte einzig und allein Prediger, Ausleger des Wortes Gottes sein. Seine Aufgabe sah er darin, den Weg der Gnade zu jedem Menschen anhand der Schrift aufzudecken (vgl. TRE 13,502,50ff). Die Schrift interpretierte er in allen Teilen christozentrisch. Daher fordert er in seinen vielen gedruckt vorliegenden Predigten auf, allein Christus und seine Gnade zu suchen. Von Luther ist seine Rechtfertigungslehre, von Calvin und Olevian seine Forderung nach Heiligung des Menschen beeinflußt. Hinzu kommen mystische und pietistisch-erweckliche Elemente, wenn Kohlbrügge den Glaubenden auf die Einheit mit Christus ausrichtet, Buße und Bekehrung als iterati­ve Haltung von jedem verlangt, weil es um das Behalten des Heils in jedem Wiedergebore­nen geht. Wiedergeburt ist ihm die subjektive Erfahrung der Christusgemeinschaft. Mit dieser Erfahrung beginnt in einem vollendeten Sinne meine Christusgemeinschaft. Dies hat zur Folge, daß die Eschatologie bei Kohlbrügge sehr zurückgedrängt und nur als Ende aller sichtbaren Dinge, nicht aber als Heilsvollendung verstanden wird. Christi Königreich ist da. Gottes Wille geschieht in den Erwählten. Die Gemeinde steht schon am Ende ihres Glaubens. In ihr ist der Prediger Kohlbrügge, der durch sein ganzes Leben erprobte Diener Christi, der wie ein Prophet und Apostel absolute Leitungsbefugnis beanspruchte, der in Verbindung mit seinem Presbyterium auch die Reinheit des Lebens eines jeden Gemeindegliedes durch regelmäßige Hausbesuche prüfte und, wenn es nach seinen konservativen Wertmaßstäben nötig war, durch Kirchenzucht ohne Scheu vor gelegentlichen Konflikten die Trennung von Unbotmäßigen durchsetzte. In all seinem Handeln verstand er das Gesetz Mose zwar als eine Predigt Christi, aber er bezeugt auch, daß die Erfahrung der Gnade Furcht vor dem Gesetz Gottes auslöst, weil Christus es allein erfüllt hat. Der Heilige Geist hält jedoch die Erwählten der reinen Gemeinde mittels des Gesetzes auf dem rechten Glaubensweg. Das Gesetz steht dem Evangelium also nicht gegenüber, sondern es ist Form des Evangeliums (Gesetz und Evangelium). Die Früchte des Glaubens sind eine aufrichtige Beachtung aller Gebote Gottes; dies zeichnet einen guten Lebenswandel aus. In dieser Lehre von der Heiligung des Gerechtfertigten bleibt Gott der Urquell hinter dem Wandel des Bekehrten. In seiner Elberfelder Gemeinde hat Kohlbrügge diese Lehrüberzeugung verwirklicht.

3. Nachwirkung

Kohlbrügges Einfluß blieb äußerlich begrenzt auf seine Gemeinde und seine Nachfol­ger im Predigeramt. In Johannes Wichelhaus, a.o. Professor in Halle (1819-1858), besaß er einen einzigen früh verstorbenen unmittelbaren Schüler. Sein Schwiegersohn Eduard Böhl, o. Professorin Wien (1836-1903), wie auch der Enkel eines maßgeblichen Mitgrün­ders der Gemeinde Kohlbrügges, der reformierte Prediger Adolf Zahn (1834-1900), ha­ben in Verbindung mit der Gemeinde dafür gesorgt, daß das geistige Erbe beider weiterge­tragen wurde. Durch Herausgabe, Nachdrucke und Übersetzungen, insbesondere der 15 Predigten Kohlbrügges, fand dieser einen größeren Leserkreis in Deutschland, Holland, Böhmen, England, Frankreich und den USA. Im Amsterdamsche Zondagsblad wie dem Korrespondenzblatt der Freunde des Heidelberger Katechismus fanden sich die Kohlbrüggianer, zu denen z.B. Emanuel Felke (1856-1926) und Fritz Horn (1875-1957) zu rechnen sind. Durch Horn wurde Karl Barth auf Kohlbrügge aufmerksam. Barths die theologischen Stärken wie Schwächen Kohlbrügges prüfendes Urteil bewirkte in den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts, da die Freiheit der Kirche und das Bekenntnis zu Jesus Christus umkämpft waren, eine breitere historische wie theologische Forschung über Kohlbrügge, weil man für beides in Kohlbrügge einen Zeugen und ein Vorbild für den eigenen Weg fand. Anläßlich des 100. Todestages von Kohlbrügge wurde im Jahr 1975 eine Gedenkwoche in Wuppertal durchgeführt, deren wissenschaftliche Beiträge den derzeitigen Forschungsstand repräsentieren.

Quellen

Archivalien befinden sich hauptsächlich in der Universitätsbibliothek Utrecht, im Archiv der ev.-ref. Gemeinde wie der niederl.-ref. Gemeinde Elberfeld. Einen Katalog der Schriften Kohlbrügges gab die Vereeniging voor Uitgave van Gereformeerde Geschriften in Ommen heraus. Die wichtigsten Schriften, Übersetzungen, Nachdrucke sowie Auswahlausgaben werden z. B. aufgeführt: Biografisch Lexicon voor de Geschiedenis van her Nederlandse Protestantisme (BLGNP), Kämpen, II 1983, 284-288 und in den Werken von H.K. Hesse und W. A. Hock, vgl. Lit.

Ausgewählte Literatur

Karl Barth, Die prot. Theol. im 19. Jh., Zollikon 1947. – Josef Castanye, Kirchenverständnis in Elberfeld. Hermann Friedrich Kohlbrügge u. Alfred de Quervain: JGP 11 (1985) 296-317. – Rolf Eberhard, Das homiletische Problem in der Predigt Hermann Friedrich Kohlbrügges: EvTh 1 (1934) 138-160. – Ders., Die theol. Existenz Hermann Friedrich Kohlbrügges: EvTh 1 (1934) 403-420. – Heiner Faulenbach, Die geordnete Gemeinde bei Hermann Friedrich Kohlbrügge: MEKGR 25 (1976) 65-102. – Heinrich Forsthoff, H.E Kohlbrügges Schüler: RKZ S1 (1931) 81-102. – J.E Gerhard Goeters, Der Weg der ref. Gemeinde Elberfeld in die Spaltung von 1847: MEKGR 25 (1976) 133–143. – Wolfgang E. Heinrichs, Freikirchen – eine moderne Kirchenform. Entstehung u. Entwicklung v. fünf Freikirchen in Wuppertal, Köln 1989. – Hermann Klugkist Hesse, Hermann Fried­rich Kohlbrügge, Wuppertal/Barmen 1935. – Willem Andries Hoek, H.F. Kohlbrügge, De onheilige Heilige, Amsterdam 1964. – Fritz Horn, Hermann Friedrich Kohlbrügge: ZZ 2 (1924) 47-62. – M. Elisabeth Kluit, Het Protestanste Réveil in Nederland en daarbuiten 1815- 1865, Paris/Amsterdam. 1970. – Walter Kreek, Die Lehre v. der Heiligung bei H.E Kohlbrügge, München 1936. – Ders., Das Bild Kohlbrügges in der dialektischen Theol.: RKZ 125 (1975) 275-277 und MEKGR 25 (1976) 103-117. – Ders., Hermann Friedrich Kohlbrügge als Wiedererwecker reformatorischer Verkündigung: RKZ 132 (1982) 234–238. – Simon van der Linde, Kohlbrügges Kampf gegen den religiösen Subjektivismus: MEKGR 25 (1976) 119-131.-Benjamin Locher, Das Leben Kohlbrügges: MEKGR 25 (1976) 1-32. – Jan van Longhuijzen, H.E Kohlbrügge en zijn prediking in de lijsr van zijn tijd, Wageningen 1905. – J. Loos, De theologie van Kohlbrügge, Amsterdam 1948. –Elisabeth Moltmann-Wendel, Theol. u. Kirche bei Hermann Friedrich Kohlbrügge, München 1957. – Alfred de Quervain, Die bekennende Kirche bei H.E Kohlbrügge: Aus Theol. u. Gesch. der ref. Kirche. FG Ernst Fried­rich Karl Müller, Neukirchen 1933, 215-240. – Ders., Kohlbrügge u. das Erbe Calvins: EvTh 25 (1965; 263-273. – Theodor Stiasny, Die Theol. Kohlbrügges, Düsseldorf 1935. – Manfred Wichelhaus, Einheit u. Freiheit im preußischen Kirchenkampf des 19. Jh. Die Elberfelder Kirchenspaltung 1847: MEKGR 25 (1976) 33-64. – Walter Zwanzger, Christus f. uns gestorben. Die ev. Passionspre­digt, Stuttgart 1985.

TRE 19 (1990), 356-359.

Hier der Text als pdf.

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