Von Alfred de Quervain
1. Das neutestamentliche Zeugnis von der Kirche setzt die Kirche bereits wesenhaft in eine Beziehung zur Politik. Es gilt nicht nur für das AT, daß es in einer besonderen Weise ein politisches Buch ist. Der Ausdruck von Martin Buber „Theopolitik“ erweist sich im Blick auf die alttestamentliche Forschung und Auslegung der Gegenwart als fruchtbar (Heiliges Recht; Israel als Stämmebund usw.). Wie auch das Königtum Jesu Christi im NT verstanden wird, es wird nicht geleugnet, daß er der (verworfene!) König der Juden ist. Es wird bezeugt, daß er der „Herr aller Herren“ ist, daß er eine Gemeinde sammelt, die mit ihrem Bekenntnis in das öffentliche Leben eingreift und das Leben ihrer Glieder in der Öffentlichkeit bestimmt. Das Bekenntnis zu Jesus dem Christus ist auch ein politischer Akt (Phil 2,9-11), ebenso wie der brüderliche Dienst eines Menschen, der in der Gesellschaft Sklave ist (Phm 1,16). Das heißt auch, daß der Mensch im NT durch den Glauben an Jesus Christus bestimmt ist in seinem Verhältnis zum jüd. Volk und dem Gesetz dieses Volkes, zum Imperium Romanum, zum Kaiser (Mt 10,17.18; Lk 2.11; Joh 19,10-15; Phil 3,20.21; Eph 1,20-23; Kol 1,16.17; Phm; Offb 1,5.6; 5,12; 11,15). Licht der erwarteten Vollendung des Reiches (Röm 13,1ff.) findet sich im NT einerseits eine „relative“ Bejahung der politischen Ordnung auch in der heidnischen Welt (vgl. Röm 13,1ff.; 1Tim 2,1ff.; Mk 12,13ff.; 1Petr 2,3ff.), andererseits der entschiedene Widerspruch gegen eine selbstherrlich werdende politische Macht (Offb 13; Joh 19,11).
2. Weil die Bibel in dem eben gekennzeichneten Sinn ein politisches Buch ist, darum ist das Verkündigen, Lehren und Leben der Kirche und ihrer Glieder nicht unpolitisch. Im Folgenden werden neben dem oben kurz gekennzeichneten politischen Gehalt der Verkündigung zwei Gefahren unterschieden: a) die Politisierung der Kirche, in der sie einer irdischen Macht dienstbar gemacht wird, oder sich selbst zu einer solchen erhebt, b) eine Kirche, die (als sakrale Genossenschaft oder als rein spirituelle Gemeinschaft) entpolitisiert und vergeistigt ist, die nicht mehr in der Welt und für die Welt von Jesus dem Christus Zeugnis ablegt.
Die feinste, ausgewogenste Form der politisierten Kirche und der verkirchlichten P. ist die röm.-kath. Kirche als societas perfecta, als vollkommene, keiner Ergänzung bedürfende Gesellschaft, als Beschützerin des Naturrechts. Allerdings erkennen röm. Katholiken — z.B. die Frankfurter Hefte und in Frankreich Esprit — die Gefahren, die sich für die Kirche und für die P. daraus ergeben. Die Reformation selber bedeutet eine Ablehnung der Politisierung der K. sowohl im Sinne der röm.-kath. Kirche als auch im Sinne mancher Schwärmer. Es kann aber nicht gesagt werden, daß der reformatorische Protestantismus eine Trennung von Kirche und Politik, von Glauben und Politik zur Folge hat. Es ist eine unerlaubte Vereinfachung, in Luther den Vertreter einer unpolitischen, rein innerlichen Verkündigung, in Calvin aber den Vertreter einer politisierten Kirche, eines politisierenden Christentums zu sehen. Jedoch sind manche Formulierungen Luthers und Calvins nicht ungeprüft zu übernehmen. Dies gilt um so mehr, als Luthers Gedanken später wesentlich durch das Medium der melanchthonisch gefärbten Orthodoxie wirksam wurden und diejenigen Calvins sich mit politisch-naturrechtlichen Bewegungen namentlich in Frankreich verbanden. Es muß bedacht werden, daß sowohl die Politisierung als auch die Vergeistigung des Lebens und Lehrens der Kirche eine immer neue Versuchung bedeuten. Das soll an einigen theol. und kirchl. Entscheidungen der letzten 150 Jahre verdeutlicht werden.
3. Wie der politische Gehalt der Bibel verkannt wird, wie damit auch eine Entscheidung im Leben der Kirche und ihrer Glieder fällt, erkennen wir am deutlichsten an der Theologie Schleiermachers. Er hat manche Erscheinungen des politischen Lebens klug beurteilt, tapfer und hingebend politisch gearbeitet. Er hat aber Anstoß genommen am politischen Charakter des AT. Seine Begründung für die politische Verantwortung des Gemeindegliedes ist eine ethische, keine theol.-biblische. Die Entscheidung über das, was das Glied der Kirche im öffentlichen Leben tun soll, fällt in der philosophischen und politischen Ethik. Da allerdings Schleiermachers philosophische und politische Ethik eine gehaltvolle war, so sind auch die politischen Belehrungen, die er gibt, und die politischen Entscheidungen, die er trifft, bedeutsam. Man vgl. insbes. seinen Streit um das ius liturgicum des Landesherrn. Aber bei ihm ist der politisch Handelnde nicht befreit und gebunden durch die Botschaft der Bibel. Viele Christen im 19. und 20. Jh., die nicht so behütet waren wie der Idealist und Humanist Schleiermacher, haben von den Wogen der politischen Leidenschaft sich treiben lassen. Vor einem zuchtlosen politischen Denken und Handeln warnen dann der Lutheraner Vilmar und der Reformierte Paul Geyser, wobei Vilmar freilich oft die biblische Botschaft im Sinne einer konservativen Weltanschauung versteht, J. Gotthelf spricht vom politischen Fieber, das die Menschen befallen hat. Er kämpft gegen die Mißachtung dessen, was von der Politik der Zeit aufgelöst wird: Kirche Jesu Christi, Ehe, Elternschaft, Kindschaft, Nachbarschaft, Gemeinschaft in der Ruhe und in der Arbeit, Verantwortung für den Nächsten, Freude an der anvertrauten Scholle. Viele konservative Christen mißverstanden die Warnungen aber so, daß der Christ den Weisungen der Regierenden lediglich zu gehorchen und der Politik sich zu enthalten habe. Das gilt insbes. für Deutschland. Aber auch in Ländern mit älterer demokratischer Tradition wurde aus der christl. Wachsamkeit Willfährigkeit gegenüber Losungen und Programmen, die einer politischen Weltanschauung entsprachen. So kam es immer wieder zu einer unsachgemäßen Trennung von Kirche und Politik. Im 20. Jh. gab das neue Verständnis der biblischen Botschaft und der Verkündigung der Reformation der Theologie ein aufmerksames Ohr für den politischen Auftrag der Gemeinde. Die politische Verantwortung der Kirche wurde im Kirchenkampf der 30er und 40er Jahre auch außerhalb der dt. Grenze erkannt.
4. Die zwei dringendsten Fragen lauten: a) Was bedeutet es für die politische Predigt heute, daß das Evangelium bezeugt, das Ziel der Geschichte sei das Reich der Herrlichkeit? b) Welche Verantwortung trägt der Mensch als Glied der Kirche im politischen Geschehen?
Predigt ist Verkündigung der in einem biblischen Text enthaltenen Frohen Botschaft. Sie ist Bezeugung, daß Gott mit der Kindschaft den Seinen die Erde und alles Gute auf ihr schenkt (Mt 5,5; 6,33). Wird Gott als der Geber und Helfer gepriesen, so ist damit der Anspruch von Menschen, die sich einbilden, an die Stelle Gottes treten zu können, abgewiesen. Es wird dem Menschen gesagt, daß er auch im politischen Handeln der Diener Gottes ist, der nicht als der bloße Ursprung oder Träger von (auch ohne ihn verstehbaren) „Schöpfungsordnungen“ aufzufassen ist, sondern dem Menschen seine Liebe und das für ihn bestimmte Gute schenken will. Politik ist darum nichts anderes, als der Versuch des Gott antwortenden Menschen, mit den Mitteln des Rechtes die von Gott dem Menschen verliehene Würde zu schützen. Politische Predigt bedeutet nicht — dies soll der Prediger bedenken — Empfehlung eines Programmes, sondern Verkündigung der Hilfe Gottes, Ermahnung zur Gottes- und Nächstenliebe. Warnung vor Mißachtung des Nächsten, vor Furcht und Unglauben in einer konkreten Situation.
Gerade als Glied der Kirche ist der Mensch seinen: Nächsten jede Hilfe schuldig: Fürbitte, Bezeugung der Liebe Gottes; und das heißt Trost, Rat, Mahnung, den Erweis der brüderlichen Liebe, die reichlich schenkt. Er ist ihm aber auch Rechtsschutz und das Einstehen für eine gerechtere Ordnung schuldig. Der Christ kann dafür nicht die Verantwortung auf die Politiker abladen und erklären, daß er für diese Hilfe nicht zuständig oder verantwortlich sei. Gerade als Glied der Gemeinde muß er Mitverantwortung im Betrieb, in der politischen Gemeinde, im Staate tragen.
Quelle: EKL2, Bd. 3 (1962), Sp. 250-253.