Karl Barth, Predigt über Psalm 103,1-4 (1943): „Irgendwo wächst jetzt schon das Holz heran, aus dem man einmal deinen Sarg machen wird, und irgendwo ist ein Stück grüner Erde, und das wird einmal aufgeworfen werden, um dein Grab zu sein. Und irgendeinmal wird die Stunde kommen, da werden deine Freunde und deine Verwandten dorthin ziehen, und du wirst auch dabeisein, aber dich wird man tragen oder fahren, und du wirst eine rätselhafte, leblose Masse, eine Leiche sein.“

Predigt über Psalm 103,1-4 (1943)

Von Karl Barth

Lobe den Herrn, meine Seele, und was in mir ist, seinen heiligen Namen! Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiß nicht, was er dir Gutes getan bat: der dir alle deine Sünden vergibt und heilet alle deine Gebrechen, der dein Leben vom Verderben erlöst, der dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit.

Liebe Gemeinde!

Es sind sehr bekannte Bibelworte, die wir eben gehört haben. «Lobe den Herrn, meine Seele», das haben wir alle schon oft gelesen und gehört und gesungen. Haben wir auch schon bemerkt, daß da Jemand offenbar mit sich selber redet? «Meine Seele»: das ist ja er selber, der hier spricht: «Lobe den Herrn!» Er selber, wie er leibt und lebt. Und «was in mir ist», das sind seine Gedanken und Absichten, seine Sorgen und Leidenschaften, sein Herz und sicher auch das, was wir heute seine Nerven nennen würden. Das alles, sich selber, ruft er gleichsam zusammen, wie eine Mutter ihre Kinder um sich versammelt oder wie ein Offizier oder Unteroffizier seinen Soldaten zuruft: Hieher! Und was er sich selber und was er Allem, was in ihm ist, zu sagen hat, das ist dies: «Lobe den Herrn!»

Wir alle haben sicher schon Selbstgespräche geführt. Wie sollte es anders sein? Du hast dir gewiß auch schon im stillen erzählt, wie du es gerne hättest, und dich beklagt, wie übel es dir gehe und wie schlecht man es dir mache. Und hast ein anderes Mal dir wohl auch selber Vorwürfe gemacht und mit dir selbst gezankt und wieder ein anderes Mal wohl auch versucht, dich selber zu trösten und aufzurufen. Das alles hat zu seiner Zeit und an seinem Ort sein gutes Recht.

Aber was hier geschieht, was wir hier hören, das ist etwas ganz Anderes: «Lobe den Herrn, meine Seele!» Wenn wir das vergleichen mit Allem, was wir sonst zu uns selber sagen, dann ist es, wie wenn ein frischer Luftzug in eine muffige Stube hineinweht. — Wir können hier gleich etwas lernen: nämlich was der Heilige Geist ist und was das heißt, den Heiligen Geist haben. Seht, das ist der Heilige Geist, der uns so mit uns selber reden macht. Und der hat den Heiligen Geist, der so mit sich selber redet: «Lobe den Herrn, meine Seele!» Hast du den Heiligen Geist? Redest du so mit dir selber? Das ist eine ernste Frage. Denn es heißt an einem anderen Ort in der Bibel: «Wer Christi Geist nicht hat, der ist nicht sein» [Röm. 8, 9]. — Aber wie dem auch sei: Die heilige Schrift, wo der Mensch so mit sich redet: «Lobe den Herrn, meine Seele!», sie hat offenbar den Heiligen Geist. Aus ihr weht er jetzt auch uns an. Und nun wollen wir keine Umstände machen, sondern uns von diesem frischen Luftzug anwehen und mitnehmen lassen und also versuchen, das mit zu sagen, ein jeder zu sich selber: «Lobe den Herrn, meine Seele!»

«Lobe den Herrn, meine Seele!» So heißt es, und wir müssen genau darauf achten. Es heißt nicht: Lobe die schöne Idee von dem, was wir für gut und schön halten. Es heißt auch nicht: Lobe die gewaltige Natur! Es heißt auch nicht: Lobe unsere schöne Schweiz und ihre tüchtigen und bis jetzt immer noch so behüteten Einwohner! Es heißt nicht: Lobe dich selber, dein gutes Gewissen, deine Tüchtigkeit und Brauchbarkeit im Leben, deine Gesundheit und dein gutes Auskommen! Es heißt auch nicht: Lobe deine Familie, deinen Mann oder deine Frau, deine Kinder oder deine Großkinder, wie wir es so gerne tun. Es hat wiederum auch sein gutes Recht, das alles zu loben. Aber wenn wir dem Heiligen Geist folgen, der in der heiligen Schrift zu uns redet, wenn wir uns von ihm mitnehmen lassen, dann lassen wir uns von ihm höher hinaufführen über alles das, was uns da als gut erscheint und was ja dann manchmal bei näherem Besehen nicht ganz so gut ist, hinauf über alles dieses Schöne und manchmal doch auch Häßliche, Herrliche und manchmal doch auch Klägliche. Höher hinauf zu dem, der alles Lobenswerte so macht und so erhält, daß es lobenswert ist und bleibt, zu dem, der allein ohne Vorbehalt und auf die Dauer lobenswert zu nennen ist. Das ist der Herr. «Lobe den Herrn, meine Seele!»

«Und was in mir ist, seinen heiligen Namen.» Der «heilige Name» des Herrn, das ist in der Bibel Gott, so wie er sich kundgegeben und offenbart hat. Es kommt darauf an, daß wir den wirklichen Herrn loben und nicht einen von uns selbst erfundenen und ausgedachten Herrn. Er könnte immer noch ein Kobold, ein Tyrann, vielleicht sogar ein Teufel sein. Wir sehen es in der heutigen Welt, wo das hinführt, wenn die Menschen einen selbsterfundenen Herrn loben zu sollen meinen. Sieh wohl zu, wen du lobst als den Herrn über Allem. Er hat uns selber Bescheid gegeben, er hat zu uns geredet in seinem lieben Sohn. Wir wollen uns daran halten. Seien wir dankbar dafür, daß wir nicht einen Herrn uns erst selber suchen und machen müssen, sondern daß wir einen Herrn haben, der sich uns gegeben hat, der uns einen Weg zu sich selber gezeigt und aufgetan hat.

«Vergiß nicht, was er dir Gutes getan hat!» Vergiß nicht! Wir vergessen alle so viel und haben schon so viel vergessen. Wir vergessen Namen, Gesichter, die wir einst gekannt, wir vergessen wichtigste Ereignisse, die in unserem Leben sich zugetragen haben, ganze Zeiten unseres Lebens. Wir alle haben viel von den schönen Dingen vergessen, die wir einst in der Schule gelernt haben. Wir vergessen aber leider auch gute Vorsätze und Einsichten und leider auch Pflichten, an die wir uns halten sollten und wollten. Das ist traurig, daß dem so ist, das ist ein deutliches Zeichen der ganzen Hinfälligkeit und Vergänglichkeit unseres Daseins. Es ist freilich manchmal auch ein Glück, daß man gewisse Dinge vergessen darf. Einmal wird eine Stunde kommen, da werden wir Alles vergessen, alles Große und Kleine vergessen müssen, aber gerade dann wird Alles darauf ankommen, daß wir Eines nicht vergessen haben. Darum ist es aber nötig, daß wir es schon heute nicht vergessen: «Vergiß nicht, was er dir Gutes getan hat!»

«Getan hat», heißt es, nicht: was er dir tun wird, später einmal, in irgend einer Zukunft, vielleicht erst im Himmel. Merken wir es uns: Es gibt kein Gutes, das Gott nicht schon für uns getan, uns schon zubereitet und zurechtgestellt hat, so daß wir es bloß in Gebrauch nehmen müssen. Vergiß das nicht! Denk daran! Wenn wir nicht an das denken, was für uns bereitgestellt ist, was hilft es uns dann? Denk daran! Sieh, es liegt vielleicht nur eine dünne Staubschicht darüber, die du nur wegzublasen brauchst, um die Sache wieder vor dir zu haben. Vielleicht ist es auch eine dicke Kruste geworden, und du mußt dir einen Ruck und mußt dir Mühe geben, daran zu denken. Aber wie dem auch sei, wenn du daran denkst, dann kann es nicht anders sein, als daß das Lob des Herrn, der dir so viel Gutes getan hat, wie ein Strom aus dir hervorbricht.

Und nun höre die Beschreibung des Guten, das er dir getan hat: «der dir alle deine Sünden vergibt — und heilet alle deine Gebrechen — der dein Leben vom Verderben erlöst — der dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit». Liebe Gemeinde, was ist das für eine wunderbar aufsteigende Reihe, in der wir wie bei einer Bergbesteigung immer höher und höher kommen. Immer freier wird der Blick nach allen Seiten, immer reiner die Luft, und immer freudiger und mutiger wird man selber, weiter und weiter zu steigen. Ja, wenn ich jetzt recht reden sollte von dem, was da gesagt ist, dann müßte ich über jedes einzelne dieser Worte, dieser Stufen des Höhenweges eine besondere Predigt halten können. Wir wollen jetzt nur in Kürze das Ganze anschauen und durcheilen.

Zum Ersten: « Der dir alle deine Sünden vergibt.» Ist es uns ganz klar, daß das das Erste und wirklich auch Wichtigste ist, das Gott uns zu geben hat? Wichtiger als alles Andere, wichtiger, als daß wir gesund sind und unser Auskommen haben und daß uns der Friede in der Schweiz erhalten bleibt? Denn was hülfe uns das alles, wenn wir vor Gott dastehen müßten beladen mit unserer Sünde, wenn sie uns nicht abgenommen, wenn wir um ihretwillen von Gott Verurteilte sein und bleiben müßten?

Liebe Freunde, wir alle ohne Unterschied sind solche, die Vergebung unserer Sünden nötig haben. Da stehen wir und haben vor Gott und an Gott gesündigt, wie wir vorhin gebetet haben: «Mit bösen Gedanken, Worten und Werken von Jugend an bis auf diese gegenwärtige Stunde.» Wir haben in einer langen Reihe von Ereignissen immer wieder Gottes Gnade zurückgewiesen und nicht aus ihr, sondern aus unserem eigenen Wollen und Wirken heraus leben wollen. Damit haben wir uns zu Gottes Feinden und damit sicher auch immer wieder an unserem Nächsten schuldig gemacht. Denn alles Übel, aller Streit gegen Gott und aller Streit gegen die Menschen kommt davon her, daß wir unser Leben nicht aus Gottes Gnade annehmen, sondern selber meistern wollen. Von diesem Übel können wir uns selber nicht befreien und reinigen. Da sind wir: unwiderruflich die Wesen, die so gelebt haben und noch leben. Da gibt es keine Entschuldigung und Ausrede, sondern nur das Urteil Gottes, daß dieses unser Leben ein unmögliches Leben ist.

Und nun hört das Gute, das er uns getan hat: «der dir alle deine Sünden vergibt». Das tut er, indem er es schon getan hat: damals, als Jesus Christus starb am Kreuz von Golgatha. Denn da geschah es, dort hat Gott alle deine und meine und unsere Sünde ihm aufgeladen. Dort stand er als der Verurteilte an unserer Stelle, und als er starb, da starb mit ihm unsere Sünde. Da wurden wir von unserer Sünde freigesprochen. Es geht Alles ganz mit rechten Dingen zu: Wir sind Sünder, Gott nimmt unsere Sünde ernst, aber er nimmt sie damit ernst, daß er seinen Sohn für uns dahingegeben hat, damit wir frei seien.

Vergiß nicht: dieses Gute, das er dir getan hat! Nun gilt es: wir sind freigesprochen. Vergiß nicht, daß du ein Sünder bist, aber vergiß auch nicht, daß Jesus Christus für dich eingetreten ist. Vergiß nicht, ganz demütig, vergiß aber auch nicht, ganz fröhlich und getrost zu sein. Du darfst Gott frei in die Augen schauen. Nicht um dessentwillen, was du ihm zu bringen und zu zeigen hast, aber um dessentwillen, was Jesus Christus für dich getan hat.

Zum Zweiten: « Und heilet alle deine Gebrechen.» Ja, hast du jetzt vielleicht gedacht: das möchte schon sein, daß mir meine Sünden vergeben sind. Aber da sind ja alle meine Gebrechen, alle meine Schwachheiten gewissen Versuchungen gegenüber, mein Übereifer, meine Ängstlichkeit, meine Empfindlichkeit, meine Aufregung, in die ich so leicht gerate. Alle diese Dinge, die ich an mir selbst wahrnehme und erlebe, und wenn ich sie nicht wahrnehme, so tun es gewiß die Anderen. Alle diese Dinge, mit denen ich mir mein Leben schwer mache und dann sicher auch den Anderen das ihre. Da stehe ich, und wenn mir auch meine Sünden vergeben sind, so sind da doch alle meine Gebrechen und machen mir von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr mehr Not.

Er heilt alle deine Gebrechen! Wir wollen gut hinhören. Es heißt: Er heilt. Heilen ist auch im ärztlichen Sinn des Wortes nicht einfach ein Beseitigen des Übels — das kann in den wenigsten Fällen geschehen —, sondern heilen heißt: unschädlich, ungefährlich, erträglich machen. Da stehen wir also wirklich alle mit unseren Gebrechen: da ein lahmes Bein und da ein blindes Auge, da eine Beule und da eine Wunde, da ein sturmer Kopf und da ein böses Mundwerk. Und da sind wir alle beieinander, und es ist keiner viel schöner als der Andere. Wir wollen es doch ja nicht leugnen, daß wir diese Gebrechen haben, und wollen doch ja nicht immer auf die Gebrechen der Anderen zeigen, als ob die viel wichtiger und interessanter wären als unsere eigenen!

Aber etwas Anderes kann geschehen; wir können es hören: er heilt alle deine Gebrechen. Das ist das Gute, das er dir getan hat. Wie tut Gott das? Wie heilt er alle unsere Gebrechen? Sieh, es geht um eine ganz einfache Sache: Vor Gott wirst du mit allen deinen Gebrechen, welcher Art sie auch seien, vollständig durchsichtig wie Glas, und durch dich hindurch sieht Gott einen ganz anderen Mann mit seinen Gebrechen: eine Stirne, die blutet von der Dornenkrone, und Hände und Füße, die von den Nägeln des Kreuzes durchbohrt sind, und erlöschende Augen und einen Mund, der nur noch stammeln kann: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?» [Mk. 15, 34 par.]. Diesen Mann sieht Gott an, indem er durch dich hindurchsieht, und diesen Mann in seiner ganzen Gebrechlichkeit hat Gott umgeben mit seiner Herrlichkeit. Und wenn er dich ansieht und deine Gebrechlichkeit, dann sieht er diesen Mann. Verstehst du es, daß das deine Heilung ist, die Heilung aller deiner Gebrechen? « Er trug unsere Krankheit» [Jes. 53, 4]. Und wenn es mit dir so steht, dann bestreite und leugne nicht deine Gebrechlichkeit, aber dann verzweifle auch nicht, sondern dann:

«Vergiß nicht, was er dir Gutes getan hat.» Du bist geheilt. «Durch seine Wunden wir geheilt» [Jes. 53, 5]. Vergiß nicht die Bescheidenheit, die Vorsicht, die du nötig hast. Du weißt ja, wie das ist, wenn man von Jemand sagt: «er ist als geheilt entlassen». Er muß noch achthaben auf sich. Gib acht!, aber vergiß vor allem nicht, dich zu freuen, daß du geheilt, von Gott wirklich schon geheilt bist.

Zum Dritten: «Der dein Leben vom Verderben erlöst.» Das Verderben ist der Tod, der Untergang, die Vernichtung. Wir alle gehen dem Tod entgegen. Wir denken unwillkürlich an die Unzähligen unserer Mitmenschen, die jetzt sozusagen Tag und Nacht unmittelbar vom Tode bedroht sind. Aber wir wollen uns nicht täuschen: der Unterschied zwischen ihnen und uns ist nicht allzu groß. Wir alle werden älter, und Älterwerden heißt: dem Tod entgegenreifen. Man faßt heutzutage das Sterben als einen Vorgang auf, der schon unmittelbar nach der Geburt des Kindes beginnt. Irgendwo wächst jetzt schon das Holz heran, aus dem man einmal deinen Sarg machen wird, und irgendwo ist ein Stück grüner Erde, und das wird einmal aufgeworfen werden, um dein Grab zu sein. Und irgendeinmal wird die Stunde kommen, da werden deine Freunde und deine Verwandten dorthin ziehen, und du wirst auch dabeisein, aber dich wird man tragen oder fahren, und du wirst eine rätselhafte, leblose Masse, eine Leiche sein. Und irgendeinmal wird der letzte Mensch gestorben sein, der dich noch gekannt und noch von dir gewußt hat. Was wird dann mit dir sein? Das ist der Tod. Das ist genau genommen das Einzige, was wir von ihm wissen: daß er unser Ende ist und daß dieses Ende einmal kommt.

Aber: er erlöst dein Leben vom Verderben. Das ist das Gute, das er dir getan hat, daß er dein Leben vom Verderben schon erlöst hat. Du wirst dem nicht entrinnen, du mußt und wirst einmal sterben, ich auch, wir alle. Wir wissen aber, daß unser Erlöser lebt [vgl. Hi. 19, 25]. Denn damals, als Jesus Christus, derselbe, der um unserer Sünden willen gestorben ist, und derselbe, der unsere Gebrechen getragen hat, auferstand von den Toten, da ist auch unser Tod getötet worden. Da ist unser Leben als ewiges Leben ans Licht gebracht worden [vgl. 2. Tim. 1, 10]; da ist der Grund gelegt worden für dich und für mich zu einem Dasein, das nicht vergehen, das nicht sterben kann. Du brauchst nicht Angst zu haben vor dem Tod. Du brauchst aber auch nicht die Augen zu verschließen, du brauchst dir nichts vorzumachen, du brauchst dir auch keine künstliche Lehre über das Jenseits zurechtzulegen oder von Anderen erzählen zu lassen. Du brauchst gar nichts zu wissen außer dem Einen: «Jesus lebt, mit ihm auch ich, Tod, wo sind nun deine Schrecken?» Du brauchst dich nur daran zu halten, und dann darfst du fröhlich sein, ganz fröhlich, obwohl du und indem du dem Verderben entgegengehst, wie Paul Gerhardt es beschrieben hat: «Ich will gehn in Angst und Not, ich will gehn bis in den Tod, ich will gehen bis ins Grab hinein und doch allzeit fröhlich sein.» Es ist wirklich wahr, daß wir uns «des Lebens freuen» dürfen, nicht, wie es in dem törichten Lied heißt, «weil noch das Lämpchen glüht», aber weil Gott in unserem Herrn Jesus Christus das Licht des ewigen Lebens, die Auferstehung von den Toten, auf die wir hoffen dürfen, angezündet hat.

Vergiß nicht, daß er dir dieses Gute getan hat. Denk daran! Vergiß nicht, daß du sterben und zu Staub und Asche werden mußt. Vergiß aber noch viel weniger, daß Jesus Christus von den Toten auferstanden ist. Fürchte dich nicht! Lebe nicht dem, was verderben muß, sondern freue dich deiner Errettung aus dem Verderben!

Und nun zum Vierten: «Der dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit.» Krönung, das bedeutet offenbar Ehre, Glanz und Herrlichkeit. «Der dich krönet … »? Du fragst: Wie komme ich dazu? Wie will und werde ich das verdienen, von Gott geehrt und verherrlicht zu werden? Du hast ganz recht: du hast das nicht verdient, und du wirst das nie verdienen. Die Kronen, die Ehren und Herrlichkeiten, die wir verdienen können wie die Schüler ihre guten Zeugnisse oder die Sportsleute ihre Abzeichen, das sind Ehren und Herrlichkeiten und Kronen, die ihre Zeit haben, das sind im letzten Grund — Papierkronen. Die wirkliche Krone, die wirkliche Ehre und Herrlichkeit, die uns verheißen ist, die werden wir uns nicht verdienen.

Darum aber handelt es sich: um wirkliche Ehre und Herrlichkeit, um eine echte Königskrone. Und eben die besteht in Gnade und Barmherzigkeit. Warum ist das die echte Krone, die wirkliche und dauernde Ehre? Weil Gnade und Barmherzigkeit das innerste Wesen, das Herz Gottes ist. Mit Gnade und Barmherzigkeit will er dich krönen. Das ist das Gute, das er dir getan, schon getan hat. Denn als Jesus Christus, derselbe, der unsere Sünde getragen und unsere Gebrechlichkeit an sich genommen hat, auferstand von den Toten, auffuhr gen Himmel und sich zur Rechten Gottes des Vaters setzte unter dem Jauchzen von tausend und tausend Engeln, siehe, da wurdest auch du, lange bevor du da warst, gekrönt. Indem er ihm dort den Namen gegeben hat, der über alle Namen ist [Phil. 2, 9], ist auch dein Name eingeschrieben worden in das Buch des Lebens [vgl. Phil. 4, 3 u. ö.], bist du geehrt und verherrlicht worden, aufgenommen in die Schar der Kinder Gottes, die seine Brüder und Schwestern sind, so daß dein ganzes Dasein nichts Anderes mehr sein kann als ein Entdecken dessen, was dort geschehen ist.

Vergiß nicht, vergiß das Gute nicht, das er dir getan hat! Vergiß nicht, daß der echte Glanz, der Glanz Gottes, schon auf deinem Leben ist. Wenn du daran denkst, dann wirst du in aller Demut dein Haupt erheben, wissend, daß unsere Erlösung, die Offenbarung unserer jetzt noch verborgenen Herrlichkeit, nahe ist [vgl. Lk. 21, 28].

So haben wir nun gehört, daß wir Anlaß haben, den Herrn zu loben, den Herrn, der uns so viel Gutes getan hat, und sind am Ende. Aber eine letzte kleine Überlegung wollen wir jetzt noch anschließen: Was heißt denn das, den Herrn loben?

Wir denken bei Loben an ein Singen. Und darum geht es in der Tat, es geht um ein Singen wie das, zu dem wir uns hier in der Kirche versammelt haben. Ja, unser Singen ist ein Lob Gottes, besonders dann, wenn wir von dem Guten singen, das er, der Herr, uns getan hat. So wollen wir uns freuen darüber, daß wir ein neues Gesangbuch bekommen, in dem wir gerade dazu besser angeleitet werden als im alten. Und wenn dieses neue Buch den Namen «Probeband» trägt, so heißt das nicht nur, daß wir hier etwas probieren, sondern auch und vor allem das, daß wir auf die Probe gestellt sind, ob wir es begreifen, was es heißt, daß wir den Herrn loben dürfen. Und noch etwas: unser Singen ist dann ein Loben des Herrn, wenn es aus einem aufrichtigen Herzen kommt, wenn wir den Mund dabei auftun, wenn wir also freudig und kräftig singen. Ich muß es einmal aussprechen: Es ist ein rechter Kummer, daß man in den Basler Kirchen im ganzen so selten freudig, stark und mit offenem Munde singen hört. Das ist kein gutes Zeichen. Das sollte anders werden. Wenn wir daran denken, was er uns Gutes getan hat, dann muß das anders werden.

Aber das Loben Gottes ist ja sicher nicht nur in unserem Singen zu suchen, sondern das Singen ist nur ein Zeichen davon, daß wir im Begriff sind, unsere Freude über das Gute, das Gott uns getan hat, einander zu zeigen. Das erwartet Gott von uns. Was sollten wir Besseres tun, als die große Freude, die Gott uns gemacht hat, auch Anderen zeigen? Friedrich Nietzsche hat einmal boshaft gesagt: «Erlöster müßten die Erlösten aussehen.» Er hat ganz recht gehabt. Es gibt unter den Christen viel zu viel griesgrämige und saure Gesichter. Wie kann man aber griesgrämig und sauer dreinsehen, wenn man weiß, daß man den Herrn zu loben hat? Du hast keinen Anlaß, und es tut dir nicht gut, so dreinzusehen. Laß das doch und zeige es ein wenig, so gut du kannst: der Herr hat mir Gutes getan!

Aber auch das ist noch nicht das Letzte. Im Grunde ist das Loben Gottes etwas noch viel Einfacheres: ein Sein, ein Dasein dessen, dem Gott Gutes getan hat. Ihr kennt alle das Wort, daß das Werk den Meister lobt. Man sagt das wohl vom Werk eines Handwerkers oder eines Künstlers. Du bist ein Werk Gottes. Indem er dir so viel Gutes getan hat, hat er dich geschaffen. Und nun besteht deine Aufgabe ganz schlicht darin, daß du der bist, als der du von ihm geschaffen, von ihm begabt worden bist. Sei jetzt der von ihm Begabte und also kein Unbegabter, und versäume nicht, indem du das bist, das Lob Gottes zu singen, auch wenn du keine stattliche Stimme hast, und in der Freude, in die du versetzt bist, zu leben, auch wenn du sie nur unvollkommen sichtbar machen kannst. Das ist keine Kunst. Das kannst auch du. Und das ist das Lob, das Gott von dir erwartet.

Aber daß das unter uns Menschen geschehe, immer besser geschehe und wirklich durch uns geschehen dürfe, das können wir uns nicht nehmen, das walte und schaffe unter uns und durch uns Gott der Vater, der Sohn und der Heilige Geist! — Lasset uns ihn anrufen und also miteinander beten:

Herr unser Gott,
lieber Vater in Jesus Christus!
Wir reden vergeblich mit uns selber,
wenn du nicht zuvor mit uns geredet hast.
Und wir haben dir kein deiner würdiges Lob darzubringen,
wenn du es nicht auf unsere Herzen und auf unsere Lippen legen,
wenn du nicht unser ganzes Leben,
alle unsere Gedanken, Worte und Werke zu deinem Lob machen
und als dein Lob annehmen willst.
Daß du das tun wollest, darum bitten wir dich.
Und wir bitten dich für die ganze Christenheit und Kirche auf Erden,
daß es ihr geschenkt werde, dich besser, aufrichtiger, kräftiger zu loben als bisher.
Wir bitten dich, daß du dir in der ganzen verwirrten, entzweiten, geplagten Menschheit unserer Tage ein neues Lob bereiten mögest,
indem du die Erkenntnis deines Erbarmens groß machst
unter denen, die dich anrufen,
und unter denen, die in Finsternis ihren eigenen Weg gehen.
Wir alle haben außer dir keinen Helfer.
Und so gedenken wir vor dir des ganzen Jammers unserer Zeit,
der unzähligen Leidenden und Sterbenden,
daß du dein Angesicht nicht vor ihnen verbergest —
aller Regierenden, daß du sie recht richtest —
unseres Volkes, unserer Behörden und unserer Armee,
daß wir nicht müde werden, zu wachen und Gutes zu tun —
aller derer, die zu lehren und zu unterrichten haben,
daß es in Weisheit und Vollmacht geschehe —
aller Betrübten, Verlassenen, Kranken und Armen,
daß sie nicht ohne Hilfe und Trost seien;
damit in Allem und durch Alle du von uns gelobt werdest.
Das bitten wir dich um Jesu Christi willen, in dessen Namen wir beten:
Unser Vater …!

Gehalten am 12. September 1943 in Gerzensee, am 26. September 1943 in Safenwil und am 24. Oktober 1943 in der St. Jakobskirche Basel.

Quelle: Karl Barth, Fürchte Dich nicht! Predigten aus den Jahren 1934 bis 1948, München: Chr. Kaiser, 1949, S. 255-264.

Hier die Predigt als pdf.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s