Otto Dudzus über Dietrich Bonhoeffer: „Von Haus aus war er alles andere als ein Revolutionär. Vor Ordnung und Recht hatte er einen großen Respekt. Er konnte zornig werden, wenn wir als junge Studenten auf einer gemeinsamen Reise über das Bahnhofsgeleise gingen, statt den Fußgängerüberweg zu be­nützen. Weil er Ordnung und Recht im Großen verletzt und geschändet sah in unserem Volk, wußte er sich je länger desto entschlossener dort­hin gestellt, wo man dieser Schändung Widerstand leistete.“

Von Otto Dudzus, der selbst am Predigerseminar Finkenwalde bis zur polizeilichen Schließung des Seminars Ende September 1937 teilgenommen hatte, stammt das folgende Bonhoeffer-Porträt:

Über Dietrich Bonhoeffer

geb. 4. 2. 1906 in Breslau, gest. 9. 4. 1945 im Konzentrationslager Flossenbürg

Von Otto Dudzus

Warum er denn unbedingt Theologie studieren wolle, wurde der ge­rade 17 Jahre alte Dietrich Bonhoeffer von einem seiner älteren Brüder, der zum Atheismus neigte, gefragt. Es sei doch offenkundig, daß die Kirche im Spiel der geistigen Kräfte nichts mehr zu bedeuten habe, in der Zukunft noch weniger als in der Gegenwart. „Dann werde ich die Kirche eben reformieren“, gab der Gefragte zur Antwort. Später wird er über dieses hohe jugendliche Selbstbewußtsein gelächelt haben. Nein, als Reformator hat er sich dann nie gefühlt. Aber daß er einen wich­tigen Dienst zu leisten habe in Theologie, Kirche und Welt, dessen war er in allen Perioden seines Lebens völlig gewiß, in der kurzen Zeit seines akademischen Lehrens an der Berliner Universität (1931-1933); in seinen verschiedenen Diensten für die Bekennende Kirche (1935 bis 1940); in seiner ökumenischen Tätigkeit als Jugendsekretär des „Welt­bundes für Freundschaftsarbeit der Kirchen“; und schließlich als er, der Theologe aus Leidenschaft, innerhalb der Widerstandsbewegung gegen Hitler politische Verantwortung übernahm und sein und seiner Gefährten ungewöhnliches Tun in den Vorarbeiten zu seiner „Ethik“ denkend verantwortete. Das letzte Stadium seines Lebens hat für Kir­che und Christenheit in der ganzen Welt Fragen, Überlegungen und Umorientierungen in Gang gesetzt, die uns noch lange beschäftigen werden.

Bonhoeffer war seit seiner frühen Jugend viel im Ausland, auf privaten Reisen sowohl wie zum Studium. Er war als Vikar in Barcelona und nachher als Pfarrer in London, später zu Studien in New York. Das alles war damals eine Ausnahme für junge Deutsche. So lernte er frühzeitig, über den Horizont der eigenen Kirche und des eigenen Volkes hinaus­zudenken. Er konnte zwar entsetzt sein über den oberflächlichen Opti­mismus, der Ende der zwanziger Jahre bei Studenten und Professoren der amerikanischen Universitäten anzutreffen war. Aber er war viel zu klug, um amerikanische Verhältnisse mit evangelisch-deutschen Maßstäben zu messen.

Er war zu offen und lernbegierig, um nicht tief beeindruckt zu sein von dem opferreichen Eintreten der Christen dort für die Sache ihrer Kirche und ihres Glaubens. Er empfing bleibende Anstöße durch die Art, wie dort die Bergpredigt ernst genommen wurde, ganz anders als bei uns. Die Frage nach dem heute geltenden Gebot Gottes und nach dem Gehorsam des Christen wurde dort zu dem beunruhigenden Thema seiner Theologie, das ihn dann zeitlebens in Atem halten sollte. So oft er konnte, war er im Negerviertel New Yorks. Ihn faszinierte die ur­christliche Art des Gemeindelebens, des Glaubens, Hoffens, Liebens. Er war wohl einer der ersten Deutschen, der auf die eigenartige und eindrückliche Welt der „Spiritual Songs“ aufmerksam machte und sie mittels Schallplatten dann bei uns bekannt zu machen suchte. Hellsich­tig nahm er aber auch wahr, wie die Elite unter der schwarzen Jugend sich von der Kirche entfernte, weil sie in einer bestimmten Art von Christentum nur ein Hin­dernis sehen konnte auf dem Weg zur Selbst­befreiung. Schon im Jahre 1930, längst ehe es eine „Black-Power-Be­wegung“ gab, hat Bonhoeffer sehr deutliche Warnungen in dieser Rich­tung ausgesprochen. Kurz vor Ausbruch des Krieges war er ein zweites Mal in den Vereinigten Staaten. Freunde hatten ihn eingeladen, weil sie in Deutschland um sein Leben fürchteten und ihn aus allen kom­menden Entwicklungen herausholen wollten. Nach kurzer Zeit war ihm aber klar, daß es falsch war, wegzugehen, und daß er während des Krieges unbedingt in Deutschland sein müsse. Die Fülle der Eindrücke und Beobachtungen faßte er nach seiner Rückkehr in einer glänzenden Studie zusammen: „Protestantismus ohne Reformation“. Er versucht hier, das Besondere der amerikanischen Mentalität und Kirchlichkeit von der Tatsache her zu verstehen, daß dieses Land von Anfang seiner Geschichte an Zufluchtstätte für Flüchtlinge aus Gewissensgründen ge­wesen ist. Ein amerikanischer Theologe äußerte nach der Lektüre, erst durch Bonhoeffer habe er die politische und kirchliche Situation seines Landes und deren Hintergründe richtig begreifen gelernt.

Wer mit Bonhoeffer zusammentraf, war fast immer tief von ihm be­eindruckt. Er besaß die seltene Gabe, ganz gegenwärtig zu sein. Wer auch mit ihm sprach, jeder fühlte sich ernst und wichtig genommen, und man konnte den Eindruck gewinnen, man befinde sich bei ihm in einer Art Vorzugsstellung. Er drängte sich niemandem auf. Seiner Na­tur nach war er distanziert. Aber mit dieser vornehmen Distanz ver­band er solche Offenheit und Zuwendung, daß es schwer war, sich dem Charme seiner Persönlichkeit zu entziehen. Er war in keiner Weise auf Wirkung aus. Die heute so begehrte Publizität war ihm widerlich. Vielleicht ist gerade dies der Grund, warum er bis zur Stunde so große Wirkung ausübt. Besonders auffallend war das während seiner Haft. Mitgefangene und Wärter suchten, wenn sich nur eine Gelegenheit bot, seine Nähe. „Es ist so nett, sich mit Ihnen zu unterhalten.“ Die­sem Tatbestand ist es zu verdanken, daß Briefe und Abhandlungen, die er im Gefängnis geschrieben hat, auf uns gekommen sind. Die ihn bewachen sollten, riskierten unter Lebensgefahr, seine Helfer zu wer­den. Bonhoeffer selber war durch seinen Eindruck auf andere so über­rascht, daß er meinte, sich in einem Gedicht darüber Rechenschaft ge­ben zu müssen.

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich träte aus meiner Zelle
gelassen und heiter und fest
wie ein Gutsherr aus seinem Schlosse.

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen Bewachern
frei und freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten.

Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des Unglücks
gleichmütig, lächelnd und stolz
wie einer, der siegen gewohnt ist.

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich nur das, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,
zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,
umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,
müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?

Wer bin ich? Der oder jener?
Bin ich denn heute dieser und morgen ein anderer?
Bin ich beides zugleich? Vor den Menschen ein Heuchler
und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?
Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?

Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott.

Zwei Dinge sind es, die Dietrich Bonhoeffer weit über die Grenzen unseres Landes hinaus bekannt gemacht haben. Zuerst ist es seine aktive Teilnahme am Widerstand gegen Unrecht und Tyrannei in allen Phasen und Entwicklungen der Jahre 1933-1945. Er hat sich seinen Platz in der Widerstandsbewegung nicht voreilig und eigenmächtig gewählt. Von Haus aus war er alles andere als ein Revolutionär. Vor Ordnung und Recht hatte er einen großen Respekt. Er konnte zornig werden, wenn wir als junge Studenten auf einer gemeinsamen Reise über das Bahnhofsgeleise gingen, statt den Fußgängerüberweg zu be­nützen. Weil er Ordnung und Recht im Großen verletzt und geschändet sah in unserem Volk, wußte er sich je länger desto entschlossener dort­hin gestellt, wo man dieser Schändung Widerstand leistete.

Durch familiäre und freundschaftliche Verbindungen war er über die Ereignisse jener Jahre und auch über deren Hintergründe ungewöhnlich gut orientiert. Er litt unter dem Versagen der führenden Stände in Ju­stiz, Verwaltung, Wissenschaft, Wirtschaft, Militär, wo man den skru­pellosen und verbrecherischen Weg Hitlers und seiner Gefolgsleute wohl durchschaute, aber in gut deutscher Untertanentradition „nur seine Pflicht tat“. Als Bedenklichkeit, Feigheit und falsch verstandener Gehorsam sich als die großen Hindernisse erwiesen, dem Verbrechen Einhalt zu gebieten, als die eigentlich Verantwortlichen ihre Verant­wortung an den abtraten, der selber jenseits aller Verantwortung stand, da wollte Bonhoeffer als Christ und Theologe sich nicht entziehen, als die Anforderung zu handeln auf ihn zukam. Er hat diese seine Ent­scheidung selber einmal am anschaulichsten erläutert. Während eines Rundgangs im Gefängnishof wurde er von einem ausländischen Ge­fangenen gefragt, wie er es verantworten könne, als Christ und Pfarrer bei Plänen zu einer gewaltsamen Beseitigung Hitlers mitzuwirken, wo es doch im Neuen Testament heißt: „Jedermann sei untertan der Obrig­keit, die Gewalt über ihn hat“ (Römer 13,1). Er antwortete mit fol­gendem Bild: „Wenn ein Betrunkener mit seinem Auto über den Kur­fürstendamm (Hauptverkehrsstraße in Berlin) rast und auf den Bürger­steig gerät, kann es doch nicht meine, des Pfarrers erste oder gar ein­zige Aufgabe sein, die Opfer des Wahnsinnigen zu beerdigen und die Angehörigen zu trösten, sondern dem Betrunkenen das Steuer zu ent­reißen.“ Bonhoeffer hat diesen Versuch mit dem Leben bezahlen müs­sen. Aber er hat ihn bis in den letzten Tag hinein fröhlich bejaht. Er wußte, daß es für ihn keine andere Möglichkeit gab.

Mit dieser politischen Verantwortung steht das Zweite sicher in einem tiefen inneren Zusammenhang, seine Vision eines „religionslosen Chri­stentums“, die in den Briefen aus dem Gefängnis enthalten ist. Schon als junger Theologe hat Bonhoeffer darunter gelitten, daß die Kirche immer mindestens 20 Jahre hinter den Ereignissen herhinkt und daß sie immer erst merkt, was die Stunde geschlagen hat, wenn es bereits zu spät ist.

Er seinerseits war mit einer großen Leidenschaft hinter dem Wort her, das gerade heute gilt. Ihn quälte das bloße Zitieren von Richtigkeiten, die im Augenblick zu nichts verpflichten und darum auch niemandem helfen. Er verstand es, dem fälligen Wort so überzeugend Ausdruck zu geben, daß seine Hörer sich oft noch nach Jahren der Situation und des in sie hineingesprochenen Zuspruches oder Anspruches erinnerten. Im Gefängnis hat ihn dann eine Frage besonders umgetrieben. In der letzten Periode seiner Wirksamkeit hatte er ständig mit Menschen zu tun, die kaum ein inneres Verhältnis zum christlichen Glauben hatten und deren Handeln trotzdem von größter Verantwortung gekennzeich­net war. In ihnen hatte er vor Augen, in welchem Stadium der gei­stigen Entwicklung wir uns befinden. Er hatte den Mut, Dinge ohne Scheuklappen zu sehen. Er verlernte es gründlich, die Entwicklung zur Eigenverantwortlichkeit, zur Autonomie als einen beklagenswerten Vor­gang anzusehen oder als eine Bewegung weg vom christlichen Glauben. Er verstand immer tiefer, wie verhängnisvoll es von der Kirche war, durch Jahrhunderte hindurch die „Säkularisierung“ zu verteufeln und ihre Träger so in einen Gegensatz zum christlichen Glauben hineinzu­drängen. Bonhoeffer sah in ihr nicht nur einen geschichtlich notwen­digen und unaufhaltsamen Prozeß, sondern war darüber hinaus der Meinung, daß durch dieses Mündigwerden unserer Welt der christliche Glaube von falschen Bildern und Vorstellungen gereinigt werde und daß es zu einer ganz neuen und hoffnungsvollen Begegnung mit dem Evangelium kommen könne. „Wer ist Jesus Christus für uns heute in der mündig gewordenen Welt?“ — so lautet seine Frage. Er weiß deut­lich zu machen, daß Christus nicht der Herr einer versinkenden reli­giösen Provinz ist, die bei immer weniger Menschen eine Rolle spielt, sondern der uns für eine ganze Fülle von Aufgaben beanspruchende Herr, der jeder möglichen Entwicklung immer schon meilenweit voraus ist. Unsere Aufgabe kann es nur sein, ihm nachzukommen und ihn redlich und glaubwürdig in seiner ganzen befreienden, den Menschen aus aller Selbstentfremdung herausholenden Kraft zu bezeugen. Gerade diese letzte Etappe in Bonhoeffers Leben und Denken atmet noch mehr als die voraufgegangenen einen weiten und aristokratischen Geist.

Sein am 9. April 1945 in Flossenbürg gewaltsam beendetes Leben ist ein Fragment. Das hat niemand deutlicher empfunden als er selbst. Er hätte gerne seine „Ethik“ zum Abschluß gebracht, in der er seine eigentliche Lebensaufgabe sah. Außerdem schrieb er in den letzten Monaten an einer Studie über die „nichtreligiöse Interpretation biblischer Begriffe“. Diese Arbeit scheint unwiederbringlich verloren. Aber „es kommt wohl nur darauf an, ob man dem Fragment unseres Lebens noch ansieht, wie das Ganze eigentlich angelegt und gedacht war und aus welchem Material es besteht“ (Widerstand und Ergebung, S. 153).

Quelle: Markus Hartenstein (Hrsg.), Lesebuch für den Religionsunterricht. Zwei Jahrgänge für 15-17jährige, Stuttgart: Calwer, 1969, S. 78-83.

Hier der Text als pdf.

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