Die Urenkel Martin Luthers. Die Pfingstbewegung hat die religiöse Weltkarte verändert
Die Ausbreitung der Pfingstbewegung seit der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ist die derzeit größte Verschiebung in der religiösen Landschaft. Nur die Verbreitung des Katholizismus und die islamische Erweckungsbewegung kommen dem nahe. Sie stößt aber auf wenig öffentliches Interesse, weil, anders als im Fall des Islam, in ihrem Verlauf niemand ums Leben gekommen und keine Regierung gestürzt worden ist. Und es hat auch keine so umstrittene Lehre gegeben wie das katholische Verbot von Empfängnisverhütung und Schwangerschaftsabbruch, dessen Aufrechterhaltung ihren Preis hatte.
Von David Martin
Als ich 1990 in meinem Buch Tongues of Fire das vorhandene schriftliche Material zusammentrug, war es noch möglich, fast die gesamte einschlägige Literatur zu lesen. 2002, als Pentecostalism: The World their Parish herauskam, hätte ich allein mit der Bibliographie ein ganzes Buch füllen können, nicht nur über Lateinamerika, sondern auch über Afrika und Asien. „Die Entwicklung ist so schnell, dass die Forscher hinterherhinken“, so der Kommentar eines Anthropologen.
Die Pfingstbewegung ist eine Bewegung von Menschen, die auf dem Wege sind – dezentralisiert und sich durch Teilung vermehrend, gegründet auf persönlicher Veränderung und Entscheidung kann sie jederzeit irgendwo zwischen Haiti und Burkina Faso, Indonesien und Usbekistan aufbrechen. Man kann sie mit einem Steppenbrand des Geistes vergleichen, der an einem Ende moderne Spiritualität und am anderen Ende alte geisterfüllte Räume in sich aufnimmt und weiße mit schwarzer Erweckung verbindet. Das Epizentrum lag 1906 in Kalifornien, mit seismischen Strömungen, die sich schnell nach Korea, Südafrika, Norwegen, Brasilien und Chile ausbreiteten. Aber die Bewegung tauchte auch in Gestalt einer Reihe von spontanen Vorwarnschocks auf, und zwar an so entfernt voneinander liegenden Orten wie Indien und Wales.
Man kann diese Bewegung auch als Fundamentalismus bezeichnen; doch das bedeutete eine Sichtweise durch das Prisma amerikanischer Kulturkriege und liberaler moralischer Panik. Wer die Pfingstbewegung fundamentalistisch nennt, verwechselt das Beiläufige mit dem Wesentlichen. Das Wesentliche ist nämlich ihre Inspiration im wörtlichen Sinne: Der Atem des Geistes bemächtigt sich der Menschen, so, wie er sich der alttestamentlichen Propheten bemächtigt hat. Man kann in der Pfingstbewegung eine intensive emotionale Befreiung und die lautstarke Ekstase der Armen sehen; doch dann übersieht man die Selbstdisziplin und die Autorität des Pastors. Man kann sie auch abtun als Autoritarismus in charismatischem Gewand und darüber die unvermittelte Kraft universaler Teilhabe vergessen und die Notwendigkeit von Solidarität als Schutzraum gegenseitiger Hilfe gegen die Zersetzungskräfte einer Verachtung hegenden Welt. Zu viele Menschen haben nur die wenig bedeutende Rolle amerikanischer Missionare und amerikanischer Kultur und Finanzen im Blick und übersehen dabei die außergewöhnliche Fähigkeit der Pfingstbewegung zur Inkulturation, zum Erwerb von Autonomie und finanzieller Eigenständigkeit.
Kurz gesagt, man muss sich der Pfingstbewegung mit einem Sinn für die Kraft der Mehrdeutigkeit nähern, anstatt mit einer Liste anerkannter westlicher liberaler Werte. Pastoren sind keine Wissensquellen oder Ratgeber im bewährten Stil, sondern eine „vergrabene Intelligenz“, unverbildet, tatkräftig und unternehmerisch. Sie sind Kapitäne in der Industrie des Heils, an der Praxis und in Gemeinschaft ihresgleichen geschult. Sie streben nicht danach, „inkulturiert“ zu werden, denn sie sind schon in der Kultur. Sie können keine „Option für die Armen“ verfolgen, weil sie ja selbst arm sind, wenngleich ausgestattet mit dem, was ich ein afro-jüdisches Verlangen nach „Gütern“ und Sicherheit nennen möchte als Bestandteil eines „Reichseins in Gott“. Kritiker haben Glauben immer wieder als „Hoffnung auf Belohnung im Himmel“ und obendrein noch als rückständig beanstandet. Belohnung im „Hier und Jetzt“ als Teil einer entschiedenen Option für globale Modernität nun ebenfalls zu beanstanden, ist deshalb paradox.
Gewiss, die Kraft des Geistes und die daraus erwachsene Stärkung, die sich auf den Glauben stützt, dass „alle Dinge möglich sind“, kann leicht durch Sex oder Geld korrumpiert werden oder durch die big men (und big women), die sich durch Einschmeicheln bei den big men der Politik in Sicherheit wiegen. Doch die aktuelle Praxis westlicher liberaler Politik, die ihrem herausposaunten Tugendkatalogen ja auch nicht entspricht, gibt wenig her für kritische Bemerkungen über andere, die in schwierigen Umständen in Entwicklungsländern arbeiten, wo es erstmal ums Überleben geht.
Der westliche Feminismus möchte die Frauen von den Zwängen der häuslichen Verpflichtungen befreit wissen. Pfingstlerische Frauen möchten, dass die Männer Respekt haben vor den Zwängen häuslicher Verpflichtungen und der Disziplin familiärer Solidarität. Ihre Schreckgespinste sind Lasterhaftigkeit, Verschwendung, Alkoholismus, Drogen und Aids und ein Wurf Kinder nach dem anderen mit einer Frau nach der anderen. Eine chilenische Frau hat beispielsweise gebetet: „O Herr, schicke mir einen Protestanten, selbst wenn er nur Müllmann ist.“ Ähnliche Überlegungen bewegen wohl gut katholische Frauen dazu, eher evangelische Hausangestellte zu beschäftigen, denn sie gehen davon aus, dass diese eher sauber sind und beten und keinen ungestümen boyfriend ins Haus bringen. Die Pfingstbewegung kann man deshalb in mancherlei Hinsicht als eine Gewerkschaft von Frauen betrachten, ausgerichtet auf eine Disziplin des Überlebens und auf Selbstachtung. Belohnung im Himmel ist für sie das, was korrupte Politiker in Afrika und Lateinamerika zusammen mit anderen verlockenden Scheinangeboten verpacken.
Eine allseits bekannte, durchaus liebenswerte Tendenz unter Forschern besteht darin, sich mit ihrem Untersuchungsgegenstand zu identifizieren und ihn gegen Fehldarstellungen, vor allem in den Medien, zu verteidigen. Wenn Pfingstgemeinschaften beispielsweise als autoritär bezeichnet werden, oder wenn man ihnen gefährliche Versuche von Exorzismus und göttlichen Heilungen vorwirft oder ihnen vorhält, sie seien apolitisch und identifizierten sich mit der falschen Art von Politik, ist man deshalb schnell geneigt, sie zu verteidigen. In einer Bewegung von etwa einer viertel Milliarde Menschen – die Schätzungen hängen davon ab, inwieweit man eine charismatische Grauzone in den neuen Mittelschichten der Entwicklungsländer oder die afrikanischen zionistischen Bewegungen dazurechnet, die pfingstlerische Gene enthalten – gibt es natürlich jede Menge Anlässe für gerechtfertigte oder ungerechtfertigte Kritik.
Angesichts der Tatsache, dass politische Veränderungen in den Augen westlicher Kommentatoren sehr viel sichtbarer und wichtiger sind als eine kulturelle Revolution, muss man sich an Anthropologen und Kulturgeschichtler wenden, wenn man sich eine Vorstellung davon machen will, wie die Pfingstbewegung an der Basis wirkt und was sie für das Leben zahlreicher Menschen, insbesondere der Frauen ausmacht. Außerdem unterscheiden sich die politischen Einstellungen zwischen einzelnen Pfingstgemeinschaften (und evangelikalen Gemeinschaften) erheblich. Das hat der Soziologe Paul Freston, der bedeutendste Fachmann auf diesem Gebiet, dokumentiert. Da gibt es genauso große Unterschiede bei politischen Einstellungen wie im Katholizismus, etwa zwischen Argentinien, Kroatien, den Philippinnen und dem Kongo.
Die politischen Einstellungen der Pfingstbewegung kann man aus der fünfzehnmonatigen Präsidentschaft von General Rios Montt in Guatemala ebensowenig ablesen wie die politischen Einstellungen des Katholizismus aus den Aktivitäten eines Jozef Tiso in der Slowakei oder des Erzbischofs Stepinac in Kroatien. Ähnlich ist es mit der angeblichen Äußerung des ehemaligen US-Präsidenten Ronald Reagan, nach der die USA die Pfingstgemeinschaften der lateinamerikanischen Befreiungstheologie vorzögen. Feindliche Interpretationen der Pfingstbewegung von Kreisen, die sich durch diese bedroht fühlen, darunter die Kulturnationalisten und „historischen Protestanten“, sind ausgesprochen selektiv. Eine besondere Zielscheibe der Kritik ist die Universal Church of the Kingdom of God, an der kein gutes Haar gelassen wird wegen ihres farbenfreudigen brasilianischen Stils und ihrer Fähigkeit, sich ihr eigenes Medienimperium zu schaffen gegen die Konkurrenz des brasilianischen Medienkonzerns Globo. Doch nach dem Urteil Frestons tendiert diese Kirche in Brasilien und im südlichen und portugiesischsprachigen Afrika in jüngster Zeit politisch durchaus nicht nach rechts.
Im modernen demokratischen Deutschland gibt es verständliche Ängste gegenüber einer „starken Religion“ und einer „starken Politik“; und in gewisser Weise werden islamische und pfingstlerische (oder evangelikale) Konfessionen als politisch und religiös gefährlich in einen Topf geworfen. Doch der Unterschied zwischen einer Religion der Freiwilligkeit, die eine persönliche Entscheidung verlangt und in unzählige Formen zerfällt, und einer organisch-inklusiven Religion mit einem religiös-politischen Gesetzeskonzept ist gewaltig. Natürlich sind die meisten muslimischen Migranten friedlich, doch die Pfingstbewegung hat nicht einmal einen Spielraum für Gewalt und politische Militanz geschaffen. Das wird ihnen von den Erben einer langen europäischen intellektuellen Tradition der Bewunderung von Gewalt ja gerade vorgehalten. Ihrem friedlichen Sichheraushalten wird das gesellschaftspolitische Engagement von Guerillas und Freiheitskämpfern entgegengehalten. Pfingstbewegung und Kalaschnikow-Kultur passen nicht zusammen, was (erneut) etwas mit der Tatsache zu tun haben mag, dass die Mehrzahl der Pflingstler Frauen sind.
Die Ängste von Kulturnationalisten in den Eliten Lateinamerikas und Afrikas vor einer transnationalen Bewegung der emporstrebenden Armen, die unkontrolliert über Grenzen hinweg in „erdachte Gemeinschaften“ strömen, sind verständlich. Sie ergeben sich aus der Geschichte des Kolonialismus, aus Fragen der Identität und der Politik der Identität sowie aus einer „Kulturentfremdung“, die geschichtlich den christlichen Missionen zugeschrieben werden. Doch zu den Klagen über die Pfingstbewegung gehört auch das Wiederaufleben traditioneller Erscheinungen, wenn auch in anderer Gestalt: etwa der big men in Afrika oder der Zuflucht zur Jungfrau Maria (oder curanderos, Schamanen) für Heilungen in Lateinamerika. Wie dem auch sei, die gegenwärtige Geschichtsrevision und die Anthropologie haben gemeinsam die konventionelle Ansicht, dass christliche Expansion, Kolonialismus und „Kulturentfremdung“ miteinander verbunden sind, gelockert. Die wirklich große christliche Expansion in Afrika fand in der postkolonialen Zeit statt; und es besteht kein Zweifel daran, dass ihre Träger in überwältigender Mehrheit afrikanisch waren.
In Europa hatte die Pfingstbewegung nur eine marginale Bedeutung. Sie tauchten in drei Variationen auf: pfingstkirchliche Mission unter „ordentlichen Bürgern“ mit bescheidenem Einkommen, eine internationale, Wohlstand verheißende Evangelisierung sowie in Großbritannien und den Niederlanden Mittelschicht-Charismatiker der Diaspora aus Ländern wie Nigeria und Ghana. Was die Pfingstmissionen betrifft, so hat es verschiedene Wellen gegeben, die sich überschnitten haben. Eine gab es im frühen zwanzigsten Jahrhundert; sie wurde von einer etwas gesetzten freikirchlichen Tradition assimiliert, zum Beispiel in Skandinavien. Eine andere Welle ergriff zumeist die Peripherie Europas, zum Beispiel Süditalien, die Balkanländer – und die Zigeuner sowohl in West- als auch in Osteuropa. Eine wiederum andere Welle jedoch kam in Gestalt eines modernen internationalen erfolgsbetonten Evangeliums in den europäischen Kernländern, zum Beispiel die Glaubensmission in Budapest, die gewisse Verbindungen zur liberalen Wirtschaftspolitik hatte, und in Uppsala, wo sie in den Augen der Schweden außerhalb des anerkannten nationalen Konsenses stand. Interessanterweise gewann die Universal Church of the Kingdom of God einen gewissen Einfluss in Portugal, ja sogar auf die portugiesische Politik und zwar unter Mithilfe von Konvertiten, die vornehmlich aus der Mittelschicht stammten.
Die Anziehungskraft der Pfingstmission für die Mittelschicht, die in Budapest, Uppsala und Portugal zu beobachten ist, kennzeichnet auch die pfingstlerische und charismatische Diaspora aus Westafrika, die man in London, Amsterdam und anderswo antrifft. Während die Pfingstbewegung auf den Westindischen Inseln unter den Armen am aktivsten war und sich unter den von den westindischen Inseln stammenden Einwanderern in Großbritannien schnell ausbreitete, erfasste die Pfingstbewegung in Westafrika zahlreiche Menschen aus den neuen freiberuflichen Schichten, einschließlich derer mit Universitätsausbildung. Einige der größten und dynamischsten Megakirchen im säkularen „Ödland“ der großen Städte Nordwesteuropas sind ihrer Herkunft nach vornehmlich schwarz, doch auch multi-ethnisch. Sie haben oft die Art von Zellstruktur, die man in den Megakirchen Koreas findet.
Zwei Mobilisierungsmodelle mögen einen Gegensatz zwischen der weltweiten Pfingstbewegung und dem weltweiten Katholizismus deutlich machen. Die katholische Kirche ist aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung politischen Engagements gut platziert, um sich auf gesponsorte Mobilisierung einzulassen. Das trifft sogar of partizipatorische Laienbewegungen wie die Cursillos zu, die das christliche Leben in den Familien und Gemeinschaften erneuern wollen, ist doch der Katholizismus eine Religion, die in einer zentralisierten Autorität verankert ist. Sie verfügt darüber hinaus, insbesondere seit dem zweiten Vatikanischen Konzil, über ein Programm für Frieden und Gerechtigkeit.
Ob dieses Programm verwirklicht wird und inwieweit die Gesamtkirche daran beteiligt wird, hängt davon ab, wie eng die Beziehungen zwischen Kirche und Staat sind, das Militär inbegriffen. In Argentinien zum Beispiel war die Kirche – wenn sie auch Zeiten der Spannung zum Staat gekannt hat – weitgehend Komplizin des Militärregimes. Selbst wenn sie Befreiungstendenzen aufweist wie in Chile und Brasilien, hat sie institutionelle Interessen, die sie bewahren möchte. Sie möchte zum Beispiel die Kontrolle über Basisgemeinschaften behalten, um sicher zu gehen, dass die Mobilisierung ihr nicht entgleitet. Wenn es auch zu ihren Zielen gehört, dem Marxismus und/oder der Pfingstbewegung den Rang abzulaufen, so will man doch nicht politisch so radikal sein, dass die Radikalen die Oberhand gewinnen; man will auch nicht einen quasi-pfingstlerischen Eifer auslösen, der die Autorität der Kirche strapaziert. Jemandem den Rang abzulaufen, ist immer riskant für eine Institution, wenn man einen bestimmten Punkt überschreitet.
Noch einmal: Die institutionellen Interessen der Kirche in der Gesellschaft erfordern die Aufrechterhaltung eines gewissen Maßes an Kommunikation mit den Kräften des Staates, gegen den man protestiert. So folgte in Chile nach der Opposition gegen das Pinochet-Regime eine Periode der Verhandlungen; und in Brasilien wurden mit ergebenen Katholiken im Regime geheime Gespräche geführt, um die Verbindungslinien aufrecht zu erhalten. Dies sind Zwänge, und ein weiterer Zwang liegt in der Notwendigkeit für Institutionen, in einer post-militärischen Periode Einfluss auf den Staat auszuüben, um katholische Normen beispielsweise im Bereich der Familie durchzusetzen. Das ist in der heutigen Welt in Ländern wie Chile zunehmend schwierig angesichts der Tatsache, dass die katholische Kirche selbst in Lateinamerika immer mehr zu einer Art gemeinnütziger pressure group wird. Wenn die Krise vorüber ist, übernehmen andere Institutionen das Heft von den Basisgemeinschaften; säkuläre Radikale müssen nicht länger bei ihnen Unterschlupf suchen, weil das nützlich sein kann, um sich halbwegs vor dem Militär zu schützen. Die radikalen ausländischen Priester weichen den örtlichen Priestern, die besser in die örtlichen Machtstrukturen eingebunden sind.
Was die Ausbildungsstätten betrifft, so wählen die katholischen Eliten eher diejenigen, die von Opus Dei oder den Legionären Christi geführt werden – mit einer paternalistischen Sozialethik in Rahmen einer Marktwirtschaft –, als solche, welche die vorhandenen Strukturen in Frage stellen, wie zum Beispiel in Chile. Das ist Ausdruck eines moralischen Konservatismus im Blick auf Familie und gegenseitige Hilfe oder ambulante Sozialarbeit und nicht viel anders als das, was man unter Pfingstgemeinschaften findet – allerdings mit dem Unterschied, dass die eine Gruppe aus der unternehmerischen Elite besteht, während die anderen aus „kleinen Leuten“ zusammengesetzt sind, Kleinstunternehmern, die sich oft in der Schattenwirtschaft betätigen. In Chile macht diese Gruppe 14 Prozent der Bevölkerung aus oder 21,4 Prozent der untersten sozialen Schicht.
Wir befassen uns hier mit gegensätzlichen Fällen, den gegensätzlichen Fällen der beiden größten und erfolgreichsten Formen des heutigen Christentums. Und wir tun das ausgehend von einem moralischen und politischen Gegensatz. Dabei ist es genau so wichtig, den soziologischen Gegensatz ins Auge zu fassen. Ich spreche hier von einer Rolle oder einem Platz, den die katholische Kirche als eine inklusive und klerikale Organisation nicht leicht ausfüllen kann, nämlich die autonome Mobilisierung einer stark engagierten freiwilligen Gruppe, die auf der Basis religiöser Selbsthilfe arbeitet. Das bedeutet, dass soziologisch betrachtet der Katholizismus und der „schwärmerische“ Protestantismus sich auf einem differenzierten religiösen Feld ergänzen können, und dass einer nicht dem anderen den Rang ablaufen kann, ohne aufzuhören, er selbst zu sein. Man denke an die Situation der Pfingstgemeinschaften und ihre Grauzone frei schwebender Charismatiker und Evangelikaler. Sie haben eine vergrabene Intelligenz der Armen zu bieten, die nach Anerkennung streben, nach einer Chance, ihre Dinge selbst in die Hand zu nehmen, und zwar außerhalb der Status-gebundenen Struktur, zu der jede etablierte Kirche notgedrungen gehört. Diejenigen, die anführen, und diejenigen, die folgen, ziehen soziale Grenzen um einen Schutzraum gegenseitiger Hilfe und moralischer Sicherheit und verbinden dabei Befreiung und Erneuerung des Geistes (das heißt Glück, gaudium et spes) mit einer Disziplin für den Alltag.
Die Gläubigen, insbesondere die Frauen, die unter den Folgen des Machotums leiden, sehen, dass sie in der Kirche etwas gelten und dass sie gemeinsam vielleicht sogar in der größeren Gesellschaft anfangen können, etwas zu gelten. Sie erwerben die Fähigkeit, mit dieser Gesellschaft zu verhandeln; sie lernen, organisatorische Rollen zu übernehmen und werden getragen von der Gewissheit göttlicher Gnade und nicht von den Beschlüssen eines zufälligen Schicksals. Wenn sie sich nicht gleich in der Politik engagieren, dann liegt es daran, dass sie darin einen Schauplatz von Korruption sehen, auf dem sie die Geringsten unter den Beteiligten sind und eher Gefahr laufen, ihre Redlichkeit einzubüßen als die Korruption zu ersticken.
So oder so leben sie aus der Bibel, mit deren Gestalten sie sich identifizieren; und die Bibel hat mehr zu sagen über Wohlergehen als über die Beziehung zwischen Kirche und Staat, womit sie keine Erfahrung haben. Wenn es also Zwänge gibt, welche sich auf die katholische Kirche auswirken, dann sind das andere als die Zwänge, die sich auf die Pfingstgemeinschaften auswirken.
Ich möchte betonen, dass diese Zwänge zur heutigen Mobilität dazugehören ebenso wie der Verlust der Verankerung an einem Ort und in sozialen Hierarchien. In der ländlichen Gesellschaft findet ein Aussiebungsprozess statt, der zu einer großen Abwanderung in die Großstadt führt; und das schließt eine plötzliche Ausweitung des Horizonts auf einen größeren globalen Raum ein. Pfingstler sind Menschen auf dem Wege, die sich sicherheitshalber in einem geordneten Geleitzug bewegen, doch neu ausgestattet sind mit Entscheidungsfreiheit und berauscht von Autonomie. Sie gewinnen die Energie, aufzustehen und voranzugehen aus dem Bewusstsein heraus, dass sie nicht self-made, sondern God-made Männer und Frauen sind, vor allem Frauen. Der Schlüssel dazu ist die ihnen verliehene Kraft, mit der Vergangenheit zu brechen – einer modernen Zukunft entgegen.
David Martin ist Professor emeritus der Religionssoziologie der „London School of Economics and Political Science“ (LSE) und hat sich seit 1986 mit dem Wachstum der Pfingstkirchen in Entwicklungsländern beschäftigt. Er ist ordinierter Priester der „Church of England“. David Martin ist Autor mehrerer Bücher zum Thema Pfingstkirchen, unter anderem: „Pentecostalism: The World Their Parish“, Blackwell Publishers, Oxford 2001. Mit seiner Frau Bernice Martin schrieb er zuletzt: „Betterment from on High: Evangelical lives in Chile and Brazil“, Oxford University Press 2006.
Quelle: der überblick 02/2006, Seiten 68-73.