Martin Luthers Vorrede zum Psalter (1528): „Ein menschliches Herz ist wie ein Schiff auf einem wilden Meer, das die Sturmwinde aus den vier Himmelsrichtungen der Welt hin und her treiben. Hier gibt es Furcht und Sorge vor zukünftigem Unglück, dort fährt Grämen mit und Traurigkeit aus gegenwärtigem Übel. Hier weht Hoffnung und Vermessenheit aus zukünftigem Glück, dort bläst Sicherheit und Freude an gegenwärtigen Gütern.“

Vorrede zum Psalter (1528)

Von Martin Luther

Es haben viele heilige Väter den Psalter vor allen anderen Büchern der Schrift gelobt und geliebt. Zwar lobt das Werk seinen Meister selbst genug. Doch müssen auch wir ihm unser Lob und unseren Dank erweisen.

Man hat in vergangenen Jahren sehr viele Legenden, Märtyrerakten, Exempelbücher und Historien eingeführt und die Welt damit angefüllt, während der Psalter unter der Bank und in solcher Finsternis lag, dass man kaum einen Psalm recht verstand, wo er doch einen so trefflichen, edlen Geruch von sich gab, dass alle frommen Herzen auch aus den unverstandenen Worten Andacht und Kraft empfanden und das Büchlein darum liebhatten.

Ich behaupte aber, dass kein besseres Exempel- oder Legendenbuch von den Heiligen auf Erden bereits existiert oder noch kommen wird, als es der Psalter ist. Und wenn man wünschen dürfte, dass aus allen Exempeln, Legenden, Historien das Beste ausgewählt, herbeigebracht und auf die beste Weise zusammengestellt würde, so müsste es der jetzige Psalter werden. Denn hier finden wir nicht nur, was einer oder zwei Heilige getan haben, sondern was das Haupt aller Heiligen selbst getan hat und was noch alle Heiligen tun: wie sie sich gegen Gott, gegen Freunde und Feinde stellen, wie sie sich in aller Gefahr und Leiden verhalten und in sie fügen. Darüber hinaus stehen allerlei göttliche, heilsame Lehren und Gebote darin.

Allein schon deshalb sollte uns der Psalter lieb und teuer sein, weil er so deutlich Christi Sterben und Auferstehung verheißt und sein Reich und der ganzen Christenheit Stand und Wesen abbildet, so dass er wohl eine kleine Bibel für sich heißen könnte, in der alles aufs Schönste und Kürzeste, was in der ganzen Bibel steht, zusammengefasst und zu einem feinen Handbuch gemacht und aufbereitet ist, so dass ich glaube, der Heilige Geist habe selbst die Mühe auf sich genommen und eine kurze Bibel und ein Exempelbuch von der ganzen Christenheit oder allen Heiligen zusammenbringen wollen, damit für alle, die die Bibel insgesamt nicht lesen können, in ihm die ganze Summe dessen in einem kleinen Büchlein zusammengefasst wäre.

Aber über das alles hinaus ist es die edle Tugend und Art des Psalters, dass andere Bücher wohl viel Rumpeln von Werken und Heiligen machen, aber sehr wenig von ihren Worten wiedergeben. Da ist der Psalter einzig in seiner Art, wodurch er uns auch so wohl und süß riecht, wenn man in ihm liest, dass er nicht nur die Werke der Heiligen erzählt, sondern auch ihre Worte bietet, die sie mit Gott geredet und gebetet haben und noch immer reden und beten. Wenn man die anderen Legenden und Exempel mit dem Psalter vergleicht, stehen uns fast nichts als stumme Heilige vor Augen, aber der Psalter führt uns rechte, kraftvolle, lebendige Heilige vor Augen.

Es ist ja ein stummer Mensch im Vergleich zu einem redenden fast als ein halbtoter Mensch zu betrachten. Und es gibt nichts Kräftigeres noch Edleres am Menschen als das Reden, weil der Mensch durch das Reden von den Tieren am meisten unterschieden wird, mehr als durch die Gestalt oder etwas anderes, weil etwa auch ein Holz durch Schnitzkunst eines Menschen Gestalt bekommen und ein Tier sowohl sehen, hören, riechen, singen, gehen, stehen, essen, trinken, fasten, dürsten, Hunger, Frost und hartes Lager ertragen kann wie ein Mensch.

Zudem bietet der Psalter noch mehr als schlichte, gewöhnliche Reden der Heiligen, sondern die allerbesten, die sie mit großem Ernst in den allertrefflichsten Sachen mit Gott selbst geredet haben, womit er uns nicht nur ihre Worte über ihre Werke, sondern auch ihr Herz und den wahren Schatz ihrer Seelen vor Augen führt. So können wir in den Grund und die Quelle ihrer Worte und Werke, also in ihr Herz sehen: was sie für Gedanken gehabt haben, wie sich ihr Herz gestellt und gehalten hat in allerlei Sachen, Gefahr und Not, die die Legenden oder Exempel so nicht bieten und auch nicht bieten können, sondern die nur ganz äußerlich das Werk der Heiligen oder ihre Wunder rühmen. Denn ich kann nicht wissen, wie es in seinem Herzen aussieht, auch wenn ich viele treffliche Werke von einem sehe oder höre.

Und obwohl ich sehr viel lieber einen Heiligen reden höre als seine Werke sehen möchte, so wollte ich noch viel lieber sein Herz und den Schatz in seiner Seele sehen als sein Wort hören. Das aber bietet uns der Psalter aufs Allerreichlichste an den Heiligen, so dass wir gewiss sein können, wie es in ihrem Herzen ausgesehen hat und wie ihre Worte an Gott und jedermann gelautet haben. Denn ein menschliches Herz ist wie ein Schiff auf einem wilden Meer, das die Sturmwinde aus den vier Himmelsrichtungen der Welt hin und her treiben. Hier gibt es Furcht und Sorge vor zukünftigem Unglück, dort fährt Grämen mit und Traurigkeit aus gegenwärtigem Übel. Hier weht Hoffnung und Vermessenheit aus zukünftigem Glück, dort bläst Sicherheit und Freude an gegenwärtigen Gütern.

Solche Sturmwinde aber lehren, um nun ernst zu reden, das Herz zu öffnen und den Grund herauszuschütten. Denn wer in Furcht und Not steckt, redet ganz anders vom Unglück als wer in Freuden schwebt. Und wer in Freuden schwebt, redet und singt ganz anders von Freuden als wer in Furcht steckt. Es geht nicht von Herzen, sagt man, wenn ein Trauriger lachen oder ein Fröhlicher weinen soll, das heißt: Seines Herzens Grund steht nicht offen und blickt nicht heraus.

Was ist aber das meiste im Psalter, wenn nicht solch ernstes Reden in allerlei Sturmwinden? Wo findet man feinere Worte der Freude, als sie die Lobpsalmen und Dankpsalmen enthalten? Da siehst du allen Heiligen ins Herz wie in schöne, liebliche Gärten, ja wie in den Himmel: wie feine, herzliche, liebliche Blumen darin aufgehen von allerlei schönen, fröhlichen Gedanken über Gott um seiner Wohltat willen.

Wo findest du umgekehrt tiefere, kläglichere, jämmerlichere Worte der Traurigkeit, als sie die Klagepsalmen haben? Da siehst du ebenfalls allen Heiligen ins Herz wie in den Tod, ja wie in die Hölle. Wie finster und dunkel ist es da durch allerlei betrübten Anblick von Gottes Zorn. Auch da, wo sie von Furcht oder Hoffnung reden, brauchen sie solche Worte, dass dir kein Maler die Furcht oder Hoffnung so abmalen und kein Cicero oder Redekundiger sie dir so schildern könnte.

Im Übrigen ist es (wie gesagt) das Allerbeste, dass sie solche Worte zu Gott und mit Gott reden. Das bewirkt, dass doppelter Ernst und Leben in den Worten stecken. Denn wo man sonst mit Menschen über solche Sachen redet, geht es nicht so sehr von Herzen, brennt, lebt und dringt es nicht so sehr ein. Daher kommt es auch, dass der Psalter das Büchlein aller Heiligen ist und ein jeder von ihnen, in was für Umständen er auch ist, Gesänge und Worte darin findet, die sich auf seine Sachen reimen und ihm so angemessen sind, als wären sie allein um seinetwillen so gesprochen, wie er selbst sie nicht besser sprechen, finden oder wünschen könnte.

Das ist denn auch dazu gut, dass, wenn einem solche Worte gefallen und sich auf ihn reimen, er gewiss ist, er befinde sich in der Gemeinschaft der Heiligen und es sei allen Heiligen so gegangen, wie es ihm geht, weil sie alle mit ihm ein Liedlein singen, insbesondere dann, wenn er sie auch so zu Gott reden sieht, wie sie es getan haben, was im Glauben geschehen muss, denn einem gottlosen Menschen schmecken sie nicht.

Zuletzt finden sich im Psalter Sicherheit und ein wohl verwahrtes Geleit, so dass man allen Heiligen ohne Gefahr darin nachfolgen kann. Denn andere Exempel oder Legenden von den stummen Heiligen tragen manches Werk vor, das man nicht nachahmen kann. Und noch viel mehr Werke tragen sie vor, die gefährlich nachzuahmen sind und gewöhnlich Sekten und Rotten bilden helfen, dagegen von der Gemeinschaft der Heiligen wegführen und fortreißen. Aber der Psalter hält dich von den Rotten fern und bringt dich zur Gemeinschaft der Heiligen, denn er lehrt dich in Freude, Furcht, Hoffnung, Traurigkeit gleichgesinnt zu sein und zu reden, wie alle Heiligen gesinnt waren und geredet haben.

Zusammengefasst: Willst du die heilige christliche Kirche mit lebendiger Farbe und Gestalt abgemalt sehen, in ein kleines Bild zusammengefasst, so nimm dir den Psalter vor. Darin findest du einen feinen, hellen, reinen Spiegel, der dir zeigen wird, was die Christenheit ist. Ja, du wirst auch dich selbst darin und das rechte »Erkenne dich selbst« finden, weiter noch Gott selbst und alle Kreaturen.

Darum lasst uns nun auch darauf bedacht sein, dass wir Gott für solche unaussprechlichen Güter danken und diese mit Fleiß und Ernst annehmen, benutzen und üben, Gott zu Lob und Ehre, auf dass wir nicht mit unserer Undankbarkeit etwas Schlimmeres verdienen. Denn für welchen Schatz hätte man es früher zur Zeit der Finsternis gehalten, wenn jemand einen Psalm hätte recht verstehen und in verständlichem Deutsch lesen oder hören können – wir haben es eben nicht besessen. Nun aber sind selig die Augen, die sehen, was wir sehen, und die Ohren, die hören, was wir hören. Und ich fürchte doch, ja leider sehen wir es, dass es uns geht wie den Juden in der Wüste, die vom Himmelsbrot sagten: »Unsre Seele ekelt sich vor der unansehnlichen Speise.« Aber wir sollen auch wissen, dass dort beschrieben ist, wie sie dafür geplagt wurden und gestorben sind, damit es uns nicht genauso ergehe.

Dazu helfe uns der Vater aller Gnade und Barmherzigkeit durch Jesus Christus, unsern Herrn, dem Lob und Dank, Ehre und Preis sei für diesen deutschen Psalter und für alle seine unzähligen, unaussprechlichen Wohltaten in Ewigkeit, Amen. Amen!

Quelle: Weimarer Ausgabe, Abt. Deutsche Bibel, Bd. 10, S. 98-104.

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