Luftgeschlecht und spirituelle Kinder. Die Inszenierung des männlichen Genitales am Leib Christi
Von Monika Gsell
Was hat es auf sich mit dem aus manchen Renaissance-Gemälden bekannten Fingerzeig der Muttergottes, der die Aufmerksamkeit auf das Geschlecht des Jesuskindes lenkt? Bemerkungen zu einer noch nicht sehr alten Diskussion.
Als der amerikanische Kunsthistoriker Leo Steinberg, heute emeritierter Professor der Benjamin Franklin University of Pennsylvania, 1983 seine Studie zur bildlichen Darstellung Christi in der Kunst der Renaissance vorlegte, entfachte das in der angelsächsischen Welt der Bildungselite einen beträchtlichen Skandal. Die Rezensenten sprachen von «überhitzten Phantasien» und «Hysterie», warfen Steinberg mehr oder weniger explizit Sexismus und Androzentrismus vor, und Kunstgeschichtsstudierende einer amerikanischen Universität verlangten eine Anklage des Autors wegen Päderastie. Der Grund für den Aufruhr: Steinberg machte anhand eines umfassenden Bilderkorpus darauf aufmerksam, dass im Zentrum von spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Darstellungen des Jesuskindes sowie des gestorbenen und wiederauferstandenen Gottessohnes die ostentatio genitalium stand, die Inszenierung des männlichen Genitales am Leib Christi. Dass dieser «Befund» zu provozieren vermochte, ist in Anbetracht des heute noch überaus schwierigen Verhältnisses der christlichen Theologie zur menschlichen Sexualität verständlich: denn wie ist es zu erklären, dass ausgerechnet jener Körperteil, der seit dem Sündenfall als Symbol menschlicher Verderbnis par excellence gilt, am Leib desjenigen erscheinen kann, der einem mittelalterlichen Inkarnations-Dogma gemäss zwar ganz Mensch geworden ist – ohne aber damit zugleich des Menschen Sündhaftigkeit auf sich genommen zu haben?
Skandalös ist nicht das Buch selbst, sondern die Tatsache, dass es offensichtlich noch immer nicht möglich ist, die Frage, die es aufwirft, sachlich zu behandeln. Die nun vorliegende, um 160 Seiten erweiterte Neuauflage gibt Gelegenheit, sich erneut mit Steinbergs bedeutendem Werk und der Rezeption, die es erfahren hat, auseinanderzusetzen.
SPIEL DER HÄNDE
Der Anblick ist uns vertraut: Madonna mit Kind, in anmutiger Zweisamkeit oder in Gesellschaft weiterer Heiliger, Josef, Anna, der Knabe Johannes, die Heiligen Drei Könige … Was uns bei diesen Szenen, welche die Ankunft des menschgewordenen Gottessohnes, des Erlösers, feiern, bisher – und das heisst bis zum Erscheinen von Steinbergs Studie – entgangen ist, ist das Spiel der Hände und der Tücher, der Berührungen und Blicke, das auf all diesen Bildern des 15. und 16. Jahrhunderts nur ein Ziel zu haben scheint: die Aufmerksamkeit des Betrachters auf den niedlichen kleinen Penis des göttlichen Kindes zu lenken. Mal ist es die Muttergottes, die ihre Hand auf das Geschlecht ihres Kindes legt oder mit dem Zeigefinger darauf hinweist, mal ist es das Christkind selbst, das sich berührt oder in einer neckischen Geste das Windeltuch öffnet und zuweilen sogar ein unverkennbar erigiertes Glied enthüllt. Ist man zunächst noch geneigt, diese Bildmotive dem zum körpernah Realistischen tendierenden Stil der Renaissance zuzuschreiben und sie als – unbedeutsame – Momentaufnahmen des kindlichen Spiels zu verstehen, so lehrt einen spätestens der auf das kleine Genitale fixierte Blick der Heiligen Drei Könige, dass es sich um keinen Zufall handeln kann: Die Sichtbarkeit des kindlichen Gliedes ist gewollt, beabsichtigt und – so Steinbergs Folgerung – bedeutsam. Was aber soll es bedeuten?
Wer sich mit dieser Frage den Schriften der mittelalterlichen Theologie zuwendet und hofft, dort eine Antwort zu finden, sieht sich enttäuscht: Die grossen Kirchenväter und Theologen haben sich zu Fragen, die das Genitale Christi betreffen, ausgeschwiegen. (Wer das Genitale Christi erwähnt – so Augustins Begründung dieses bis heute wirksamen Tabus -, muss damit rechnen, ungehörige Gedanken zu provozieren.) Steinberg sah sich daher gezwungen, die Frage nach der Bedeutung der ostentatio genitalium primär den Bildern selbst zu entlocken, und er gelangte zu der Überzeugung, dass sie nichts anderes bedeuten konnte, als den visuellen Beweis dafür zu erbringen, dass der Sohn Gottes ganz und gar Mensch geworden ist: Die ostentatio genitalium ist das Zeichen grösstmöglicher Selbsterniedrigung, ein Beweis für «Gottes Annahme menschlicher Schwäche» («the assumption of human weakness»), die Annahme von Sexualität und – damit untrennbar verknüpft – von Sterblichkeit.
Einen indirekten Beleg für diese Deutung sah Steinberg in den theologischen Exegesen der Beschneidung Christi, die einen festen Platz in den Predigten des Spätmittelalters und der Renaissance hatten und für die zwei Momente bestimmend gewesen sind: Einerseits wird die Beschneidung als grösstmögliche Erniedrigung empfunden, als Zeichen der Unvollständigkeit, andererseits wird gerade in dieser Erniedrigung – als Präfiguration der Passion Christi – ein vorausweisendes Zeichen für die Auferstehung und damit für die Erlösung aller gesehen. Diese doppelte Konnotation der Beschneidung Christi macht Steinberg auch für die ostentatio genitalium geltend, und dies obwohl die Beschneidung selbst in der Ikonographie der Renaissance und des Humanismus gar nie explizit dargestellt wurde, sondern lediglich zeichenhaft, etwa durch die beschützend über das klein kindliche Glied gehaltene Hand der Mutter. Deutlicher hingegen finden sich die Anspielungen auf die Beschneidung am Ende des Lebens Christi, in Kreuzes-, Grablegungs- und Auferstehungsszenen: So, wenn das Blut der Seitenwunde ins Lendentuch des gestorbenen Christus fliesst und damit symbolisch die letzte Wunde mit der ersten, die Seitenwunde mit derjenigen der Beschneidung, verbindet. Dieselbe Bedeutung misst Steinberg auch jener Geste der Selbstberührung zu, mit welcher der tote Christus in Szenen der Grablegung seine Hand auf den Genitalbereich legt. Es sind stets der Aspekt der Erniedrigung, der Annahme von Leid und Schmerz sowie gleichzeitig der Hinweis auf die Erlösung, die wiederkehren.
Diese einsinnige Interpretation vermag allerdings in Anbetracht der motivischen Heterogenität der Bilder nicht ganz zu überzeugen. Denn vergleicht man etwa die ostentatio genitalium des Jesuskindes mit den Darstellungen des gestorbenen Christus, so fällt auf, dass das Geschlecht Christi hier – mit Ausnahme des seltenen Motivs des erigierten Genitales beim toten Christus – nirgends sichtbar wird, im Gegenteil: In markantem Unterschied zur kindlichen ostentatio genitalium scheint es sich bei vielen Inszenierungen des toten Jesus eher um eine Präsentation des fehlenden Geschlechts, um den Hinweis auf eine Aufhebung oder Transformation von Geschlechtlichkeit überhaupt zu handeln.
Diese vom Genfer Kunsthistoriker Jean Wirth angeregte und von den beiden französischen Mediävisten Jean-Claude Schmitt und Jerome Baschet aufgenommene Sichtweise stützt sich insbesondere auf das Motiv der transparenten sowie das der voluminösen, im Wind sich bauschenden Lendentücher: eine «Anhäufung von Falten, irgend etwas wie ein ‹Luftgeschlecht›».
Schmitt und Baschet sprechen in diesem Zusammenhang von «symbolischer Kastration», gleichzeitig aber auch – in Übereinstimmung mit Wirth – von einer Feminisierung des Körpers Christi, denn die blutende Seitenwunde wird im 15. Jahrhundert immer wieder als ein weibliches Geschlecht dargestellt. – Ein zunächst irritierendes Phänomen, das aber leicht nachzuvollziehen ist, wenn man sich vergegenwärtigt, dass auch die Seitenwunde Christi als Öffnung dargestellt wurde, aus der heraus Ecclesia geboren wird, das Symbol der spirituellen Erneuerung des Lebens durch die Kirche.
Aber bei dieser Analogie von Seitenwunde und weiblichem Geschlecht scheint es den Autoren weniger darum zu gehen, Christus als weiblich zu kennzeichnen (wie ihnen Steinberg vorwirft), als vielmehr die spezielle, nämlich ganz und gar «unmenschliche» Art seiner Fruchtbarkeit zu charakterisieren: «Die Fruchtbarkeit Christi hat nicht zum Ziel, reale Kinder hervorzhubringen, und sie resultiert nicht aus dem Sperma […]; sie generiert vielmehr spirituelle Kinder – die Christen und allen voran die Kohorten der Jungfrauen und Keuschen und sie hat ihren Sitz im Blut und im Herzen. Das wahre ‹Geschlecht› Christi ist nicht ‹unten›, dort, wo man es normalerweise suchen würde (aber wo man es, wie wir gezeigt haben, meistens nicht findet), sondern ‹oben›.»
Steinberg selbst konnte dieser These von der Spiritualisierung der menschlichen Sexualität im Zeichen der Überwindung fleischlicher Reproduktion durch die Kirche, den mystischen Leib Christi, nichts abgewinnen: In den neu hinzukommenden Kapiteln der Zweitauflage von «The Sexuality of Christ», in denen er sich mit der Kritik auseinandersetzt, verwirft er Wirths sowie Schmitts und Baschets konstruktive Ansätze einer alternativen Bildlektüre, indem er sie kurz und bündig unter jene diversen Verleugnungsstrategien subsumiert, die den sexuellen Aspekt in der Christus-Ikonographie der Renaissance wegzuerklären versuchen. In dieser Hinsicht sind die Zusätze der Zweitauflage denn auch enttäuschend.
Nebst polemischer Apologie enthält die Neuausgabe aber auch eine Aufarbeitung von argumentativen Schwachstellen der Erstausgabe, insbesondere was die methodisch nur sehr dürftig abgesicherte Übertragung der Beschneidungssymbolik auf die ostentatio genitalium des Jesuskindes betrifft. Die Argumentationslücke versucht Steinberg durch die Klärung von zentralen theologischen Begriffen wie «Inkarnation» und, damit verbunden, dem von der Kritik am stärksten in Frage gestellten Titelbegriff der «Sexualität Christi» zu schliessen.
JA ODER NEIN
Die entscheidende Frage lautet demnach: Hat Jesus mit der Menschlichkeit auch die Sexualität angenommen? Steinbergs Antwort lautet: Jein. Denn die Sexualität, die Jesus mit seiner Menschwerdung auf sich genommen hat, kann – so sein insbesondere auf Augustin gestütztes Argument – nicht diejenige sein, die Gott den Menschen zur Strafe auferlegte, sondern einzig und allein jene Sexualität, mit der Gott die Menschen ursprünglich versehen hat: eine von unkontrolliertem Begehren und Lust noch unverdorbene, sündenfreie Geschlechtlichkeit: «Christus als Mensch besitzt all die Gaben des sündenlosen Adam; seine Göttlichkeit gibt ihm die Kraft, sich – aus freiem Willen und in selbst gewähltem Mass – den Auswirkungen von Adams Erniedrigung zu unterziehen. Willentlich nimmt er unsere durch den Sündenfall bewirkten Gebrechen auf sich – er unterwirft sich der sprachlosen Kindheit und erleidet Hunger, er ist bereit, zu altem und Schmerzen zu ertragen, und schliesslich nimmt er den Tod auf sich.» Der einzige Makel, den Jesus – in Steinbergs Logik – nicht angenommen hat, wäre demnach derjenige der (potentiell) sündhaften Sexualität.
Ähnlich argumentiert Steinberg in bezug auf das Motiv der Erektion: Rekurrierte er 1983 noch auf eine (christlich gewendete) antike Phallus-Symbolik, in der Erektion mit Unsterblichkeit, Überwindung des Todes, Auferstehung des Fleisches assoziiert wird, so erachtet er nun diese Erklärung für unzureichend. Das Schlüsselwort ist wiederum der Begriff der Willentlichkeit: Laut Augustin unterlag die Erektion ursprünglich dem Willen, ihre Unkontrollierbarkeit ist Strafe Gottes. Die Erektion Christi, so Steinberg, könne daher gar nicht anders denn als ein willentlicher Akt verstanden werden. Das gewagte Motiv des Christus erectus werde daher für die Künstler des 16. Jahrhunderts geradezu zum Zeichen für die Wiederherstellung paradiesischer Zustände, die Annullierung von Sünde und Tod. Um aber jegliche Anspielung auf sexuelle Aktivitäten zu verhindern, sei es dem Kind und dem toten Leib des Erlösers zugewiesen worden.
Diese Interpretation, welche alle Probleme einer sexualisierten Christusfigur mit dem Hinweis auf die ursprüngliche und daher der Kontrolle des Willens unterliegende «Einsetzung» der Sexualität zu lösen versucht, wirft mehr Fragen auf, als sie zu beantworten verspricht. Problematisch ist zunächst, dass sie sich ausschliesslich aus der mittelalterlichen Theologie herleitet und dabei die Frage, inwiefern sich diese auf die zur Diskussion stehenden Bilder des 15. und 16. Jahrhunderts übertragen lässt, äusserst dürftig beantwortet. Damit fällt Steinberg offensichtlich hinter seinen (auch noch 1997 vehement vertretenen) Anspruch zurück, die Interpretation der ostentatio genitalium in erster Linie aus der Sprache der Bilder selbst zu gewinnen. In diesem Zusammenhang erscheint es auch als inkonsequent, wenn Steinberg das gänzliche Fehlen des Genitales in der mittelalterlichen Christus-Ikonographie (10. bis 14. Jahrhundert) als bewusst gewähltes Symbol einer «sündenfreien und folglich asexuellen Menschlichkeit» verstanden wissen will, umgekehrt aber nicht bereit ist, die unerhört gewagte künstlerische Innovation, welche die Hinzufügung dieses Körperteils in den darauffolgenden zwei Jahrhunderten bedeutete, als Ausdruck einer radikalen Neuinterpretation des christlichen Inkarnationsgedanken anzuerkennen. Indem er darauf insistiert, dass sowohl dem Weglassen des Genitales im Mittelalter wie dessen Hinzufügung in Renaissance und Humanismus letztlich dieselbe Bedeutung zukommt (Sündenfreiheit), muss er sich den Vorwurf gefallen lassen, nun selbst zu jenen von ihm gegeisselten «Verleugnern» zu gehören, welche das Skandalon einer sexualisierten Christusfigur wegzuargumentieren versuchen.
Was Steinberg in seiner Argumentation «verleugnet» und vor allem: inwiefern diese «Verleugnung» nicht zuletzt eine Wirkung, wenn nicht sogar eine der Hauptintentionen der von ihm vorgestellten Inszenierungen des gestorbenen Christus sein mag, das wird am Beispiel jenes Bildes augenfällig, das vielleicht die extremste Form einer sexualisierten Christusfigur darstellt: Maerten van Heemskercks Schmerzensmann (etwa 1550) gewinnt seine ganze Ausdruckskraft aus der extremen Spannung, die sich zwischen dem Anblick des von unendlicher Trauer gezeichneten Hauptes Christi sowie seiner dem Betrachter dargebotenen Wunden einerseits und dem unter dem Lendentuch verborgenen, aufgerichteten Glied andererseits einstellt. Sind die Wunden Zeichen der Versehrung – und damit auch Symbol für die Versehrtheit des menschlichen Geschlechts –, so ist der «Phallus», wie Steinberg richtig gesehen hat, Inbild des Heilen und Ganzen, Symbol der Auferstehung und Wiedererlangung der unversehrten menschlichen Natur.
Hinzu kommt aber ein Zweites, das Steinberg geflissentlich übergeht: die stimulierende Kraft, die von dem Phallus ausgeht und – sozusagen in statu nascendi – sofort wieder gebrochen wird angesichts des trauernden Gesichtes und der Zeichen des erlittenen Schmerzes. Was sich in den Betrachtern dieses Bildes – bewusst oder unbewusst – einstellen muss oder soll, ist ein Schuldgefühl: Schuld angesichts der eigenen Regungen des «Fleisches» in Anbetracht des Leides, das Christus zu unserer Erlösung auf sich genommen hat. Die Botschaft, welche diese Bilder des phallischen Christus transportieren, ist daher im Grunde nichts anderes als ein Sexualverbot, denn sie erzwingen die Verdrängung der – durch die drastische Motivik der Erektion bewusst provozierten – sexuellen Gefühle. Die ostentatio genitalium ist demnach nicht nur das Symbol für die Wiedererlangung des Heils, sondern vermittelt gleichzeitig die Bedingung, unter der dieses zu haben wäre: die Negation des Begehrens.
Leo Steinberg: The Sexuality of Christ in Renaissance Art and in Modern Oblivion. Second Edition, Revised and Expanded. University of Chicago Press, Chicago 1997. 417 S., 250 Abb., Fr. 87.20.
Neue Zürcher Zeitung – Internationale Ausgabe, 11./12. April 1998, S. 51f.