Klaus Koch über Gerhard von Rad 1966: „Das Alte Testament bezieht demnach durchweg Gottes Offenbarung auf eine Geschichte, die durch Verheißung und Erfüllung gekennzeichnet ist. Die Verheißungen laden immer breiter aus. ‚Das Alte Testament kann nicht anders denn als Buch einer ins Ungeheure anwachsenden Erwartung gelesen werden.‘ Dabei werden immer wieder alte Verheißungen und Ge­schichts­traditionen aktualisiert, wie es schließlich mit dem gesamten Alten Testament im Neuen geschieht.“

Gerhard von Rad

Von Klaus Koch

Gerhard von Rad, geboren am 21. Oktober 1901 in Nürnberg. Theologiestudium in Erlangen und Tübingen, 1925 Vikar, 1929 Repetent in Erlangen, 1930 Privat­dozent in Leipzig, 1934 Professor für Altes Testament in Jena, 1945 in Göttin­gen, seit 1949 in Heidelberg.

Hauptschriften: Das Gottesvolk im Deuteronomium (1929); Das Geschichtsbild des chronistischen Werkes (1930); Das formgeschichtliche Problem des Hexateuchs (1938); Das erste Buch Mose (1949-53); Der Heilige Krieg im alten Israel (1951); Theologie des Alten Testaments I/II (1957-60); Gesammelte Studien zum Alten Testament (1958); Das fünfte Buch Mose (1964).

Kirche und Theologie haben in den letzten drei Jahrzehnten das Alte Testament wiederentdeckt. Während zu Anfang unsres Jahrhunderts ernst­hafte Theologen wie A. v. Harnack forderten, auf den christlichen Ge­brauch dieses Buches zu verzichten, und damit einen weiten Widerhall fan­den, spielt es heute bei grundsätzlichen theologischen Erwägungen wie in der kirchlichen Predigt und der christlichen Öffentlichkeit eine Rolle wie nie zuvor in der Kirchengeschichte. Der Lebensweg Gerhard von Rads ist mit der steigenden Wertschätzung eng verknüpft; es ist sein Verdienst, daß die in den dreißiger Jahren innerhalb der kirchlichen Praxis hier und dort spürbare neue Zuwendung zum Alten Testament sich nach dem zweiten Weltkrieg auch innerhalb der wissenschaftlichen Theologie in Deutschland Bahn gebrochen hat.

Dem jungen Vikar von Rad begegnen in seiner fränkischen Heimat Ver­treter der „Deutschkirche“ und damit einer „völkischen Religiosität“, die das Alte Testament aus der Bibel ausschließen und statt dessen deutsche Märchen als Vorschule zum christlichen Glauben einsetzen wollen. Das Weckt den Wunsch, die eigenen Kenntnisse über das Alte Testament zu vertiefen. So erbittet von Rad von seiner Kirche Urlaub und kehrt an die Universität zurück, zunächst nach Erlangen, dann nach Leipzig. Die Über­siedlung nach Leipzig und der lebhafte Gedankenaustausch mit Albrecht Alt und dessen Schülerkreis, zu dem damals auch Martin Noth zählt, wird für von Rads exegetischen Weg entscheidend. Während Alt aber bei seiner genialen Begabung, staats- und territorialgeschichtliche Zusammenhänge zu erfassen und zu veranschaulichen, sich im wesentlichen darauf be­schränkt, „Geschichte“ als unentbehrliche Kategorie unsres Begreifens des Alten Testaments herauszustellen, geht von Rad bald einen Schritt weiter und erfaßt „Geschichte“ als Grundkategorie der israelitischen Religion selbst. So gelingt es, der Altschen Sicht der Geschichte Israels gleichsam einen theologischen Unterbau zu geben und daraus Folgerungen für die theologischen Aufgaben der Gegenwart zu ziehen.

Die Dissertationsschrift „Das Gottesvolk im Deuteronomium“ handelt über das 5. Mosebuch, ein Gesetzbuch, das unter dem König Josia 622/1 v. Chr. zum Staatsgesetz erhoben wurde. (Die Ausgrenzung des Disserta­tionsthemas erfolgte vielleicht nicht von ungefähr; um den Volksbegriff ging es in der Auseinandersetzung mit der Deutschkirche.) Nach eingehen­den Stil- und Motivuntersuchungen stellt von Rad fest, daß hier tatsäch­lich „die Nation als solche als eine unverrückbare Gottesordnung emp­funden wurde“, aber gerade jeder „Relativierung Jahwes als eines ein­fachen Volksgottes“ strikt gewehrt wird. Die Leistung des Deuterono­miums liegt darin, daß es die mit dem Glauben Israels verbundene uralte nomadische Weltanschauung abstößt und die zu Bauern gewordenen Israe­liten lehrt, was es heißt, im Zustand der Seßhaftigkeit und staatlichen Selbständigkeit sich als Gottesvolk zu verstehen und zu bewähren. Wie ist solche Neuinterpretation möglich? Sie ist Frucht „des Glaubens an den Gott, der in der Geschichte offenbar ist und in der Geschichte wirkt“.

Mit der Wendung vom „Gott, der sich in der Geschichte offenbart“, ist von Rads große exegetische Entdeckung prägnant umschrieben. Kein Exeget vor ihm hatte bemerkt, wie sehr das Alte Testament sein religiöses Den­ken um die Geschichte konzentriert. Zielsicher hat von Rad die Spur weiterverfolgt. Schon die nächste Veröffentlichung, „Das Geschichtsbild des chroni­stischen Werkes“, beginnt programmatisch: „Das gespannte Hö­ren auf den Gang der Geschichte, das Vermögen, in ihr das Walten Gottes zu sehen … ist eine der wichtigsten Besonderheiten der israelitischen Reli­gion.“ Was aber heißt Geschichte für den Israeliten? Im „Gottesvolk“ wird es noch von den modernen Begriffen Nation und Kultur her erklärt. Von Rad zollt der strikten Ausrichtung des deuteronomischen Geschichts­denkens auf die Gegenwart hohes Lob, weil auf den Ausblick in eine künf­tige Heilszeit verzichtet wird. Der Glaube ist „enteschatologisiert“ und damit „illusionslos“ geworden, ganz auf das Hier und Jetzt bezogen. Diese ersten Erklärungen dessen, was Geschichte im Alten Testament heißt, hat von Rad bald durch andere und sachgemäßere ersetzt.

1934 wird von Rad Professor in Jena, gehört damit zu einer Fakultät, m der die Vertreter der dem Nationalsozialismus hörigen Deutschen Chri­sten die Überhand hatten. Bald tritt deshalb von Rad der Bekennenden Kirche bei und ist für sie unermüdlich auf Vortragsreisen unterwegs. Die harten kirchenpolitischen Auseinandersetzungen tragen dazu bei, daß von Rad sich bemüht, genauer zu bestimmen, was das Alte Testament eigentlich unter Geschichte versteht. Die Deutschen Christen propagierten einen Glauben an den Gott, der sich in der Gegenwart des nationalen Auf­bruchs offenbare und sahen in der Nation eine unverrückbare Gottesord-nung, kommen in manchen Äußerungen dem gefährlich nahe, was von Rad als deuteronomische Geschichtsauffassung herausgearbeitet hatte — und lehnen gerade das Alte Testament entschieden ab. In der Bekennenden Kirche ziehen viele aus der Ideologie der Gegner die Folgerung, die Ge­schichte mehr oder weniger Gott abzusprechen und dem Teufel zuzu­schreiben; im Gefolge der Dialektischen Theologie reden sie vom Wort Gottes, das nur „senkrecht von oben“ in die Weltwirklichkeit einbreche und den Glaubenden aus seiner und aller Geschichte befreie (eine These, die nach dem Zweiten Weltkrieg durch Rudolf Bultmann ihre letzte Zu­spitzung erhielt); damit schien eine klare Gegenposition geschaffen und die Auseinandersetzung war vereinfacht. Obwohl von der Dialektischen Theo­logie und vor allem ihrem Initiator Karl Barth beeindruckt, hat von Rad sich vor dieser Abwertung der Geschichte gehütet. Die Sprache des Alten Testaments ist für ihn zu gebieterisch, von ihr erhofft er gerade in diesen schweren Jahren entscheidende Anstöße: „Wir glauben, daß schon lange nicht mehr so viel Verheißung auf unserer Arbeit am Alten Testament lag wie heute, eben weil wir die Texte heute geschichtlich besser verstehen“ (1935). In dieser Zeit wird ihm das Verhältnis von Wort Gottes und Ge­schichte in den alttestamentlichen Schriften klar und so jede Verwechslung mit einem deutschchristlich klingenden Geschichtsverständnis unmöglich.

1938 erscheint „Das formgeschichtliche Problem des Hexateuchs“ (das heißt des Sechs-Bücher-Werks: 1. Mose-Josua), ein ganz großer Wurf, der die moderne „redaktionsgeschichtliche“ Betrachtung der biblischen Literatur eröffnet. Die exegetischen Methoden sind gegenüber den früheren Schrif­ten von Rads erheblich verfeinert. Wie der Titel erweist, arbeitet er jetzt mit der Formgeschichte (die auf H. Gunkel zurückgeht), achtet auf die sprachliche Form und die Gattung jedes einzelnen Abschnitts und jeder Quellenschrift. Zugleich wird die „kultfunktionale“ Betrachtung alttestamentlicher Überlieferungen aufgenommen, die der große nor­wegische Alttestamentler Sigmund Mowinckel aufgebracht hat. Während bis dahin die ersten sechs Bücher der Bibel von den Exegeten vornehmlich analytisch be­handelt und immer mehr Quellen und redaktionelle Zutaten ausgesondert wurden, beginnt von Rad mit einer synthetischen Erfassung. Er fragt, wie die barocke Aufhäufung von Überlieferungen, Quellen und Zusätzen im Hexateuch möglich wurde. Und er findet urtümliche Glaubenssätze wie das kleine geschichtliche Credo 5. Mose 26,5-11, in dem bereits der Inhalt des Gesamtwerkes in Kurzform vorweggenommen wird; ein Bekenntnis am Tempel zum Gott, der einst Israel aus Ägypten heraus- und in das gelobte Land Palästina hineingeführt hat. Dem Bekenntnis aber liegt — wie von Rad nachweist — eine jährlich gefeierte kultische Begehung zu­gründe, in der die Geschichte vom Auszug aus Ägypten bis zum Einzug ins Kulturland als Festlegende rezitiert wurde. Ein ähnliches Fest erinnerte an den Bundesschluß am Sinai. Beide Festtraditionen werden von der älte­sten Hexateuchquelle, dem Jahwisten, verkoppelt und mit der zeitlich früheren Verheißung Gottes an die Erzväter verbunden. Den Erzvätern vor allem Abraham, war verheißen worden, daß seine Nachkommen zahl­reich werden und das Land Palästina einnehmen sollten. Der Jahwist stellt dar, wie der Ablauf Auszug-Sinai-Einzug von jener Verheißung her zu begreifen ist. Der Spannungsbogen von göttlicher Verheißung im Wort und ihrer Erfüllung im geschichtlichen Verlauf stellt nach diesem ersten israelitischen Geschichtsschreiber das Kontinuum der Heilsgeschichte dar. Und die späteren Geschichtsschreiber teilen die gleiche Überzeugung. So sieht Israel die Geschichte nicht historisch-wissenschaftlich, sondern glau­bensmäßig, bekenntnishaft.

Nach dem Kriegsschluß folgt von Rad einem Ruf nach Göttingen, vier Jahre später einem weiteren nach Heidelberg. Er wird einer der beliebte­sten theologischen Lehrer der Nachkriegszeit. Eine zahlreiche Hörerschaft findet sich zu seinen Vorlesungen ein, obwohl sie morgens möglichst früh angesetzt werden. Seine besondere Fähigkeit, das Alte Testament lebendig werden zu lassen, aus Intuition und Einzelbeobachtungen das Bild eines Propheten oder Weisheitslehrers zu entwerfen, hat vielen angehenden Pfarrern Mut zu ihrer künftigen Tätigkeit gemacht. Vorlesungen in Ame­rika, Verleihung eines englischen und eines schwedischen Ehrendoktors sind Zeichen internationaler Anerkennung. Neben einer Fülle von kleinen Aufsätzen, meist formgeschichtlicher Art, legen zwei allgemeinverständ­liche Kommentare zum 1. und 5. Mosebuch Zeugnis von einem ästhetischen Charisma ab, das die Besonderheiten jeder einzelnen Überlieferung und Schrift aufzuspüren vermag. Im Zusammenhang damit entsteht ein neues Bild des israelitischen Kultes, zu dem neben von Rad gleichgesinnte For­scher wie M. Noth, W. Zimmerli, H. W. Wolff und H. J. Kraus ihren Bei­trag liefern. Während eine vergangene Generation die Feiern an den israe­litischen Heiligtümern von Tanz und Opferschmaus her als Ausdruck pri­mitiver Religiosität deutete, wird jetzt deutlich, daß im Mittelpunkt israelitischer Kultbegehungen heilsgeschichtliche Traditionen standen.

Das Verhältnis der Geschichte Israels zur Geschichte Jesu Christi und da­mit das Verhältnis von Altem und Neuem Testament sucht von Rad 1952 in einem aufsehenerregenden Aufsatz typologisch zu erfassen. Die Typolo­gie, schon beim Apostel Paulus 1. Kor 10 angewandt, sieht die alttestamentlichen Ereignisse und Erzählungen als Typos, Abschattung oder Präfigu­ration einer Begebenheit, die aus dem Leben Christi berichtet wird und die als Antitypos ähnlich abläuft wie der alttestamentliche Typos, aber diesen zugleich überbietet. Die typologische Deutung deckt im alttestamentlichen Geschehen den verborgenen Weissagungscharakter auf (im Gegensatz zur offenen Weissagung bei den Propheten). Von Rad versucht, den Verheißungsaspekt alttestamentlicher Geschichtsbetrachtung für unsere geschichtliche Betrachtung des Alten Testaments nutzbar zu machen. Doch hat er unter den Fachkollegen, auch unter solchen, die ihm sonst bereit­willig folgen, dadurch viel Widerspruch hervorgerufen. Zuweit entfernt sich die Typologie vom modernen historischen Bewußtsein.

1957-1960 verdichtet von Rad seine exegetischen Forschungen und theo­logischen Überlegungen zu einer zweibändigen „Theologie des Alten Te­staments“. In einem gepflegten Stil die Ergebnisse einer Generation alt­testamentlicher Wissenschaft zusammenfassend, hat das Werk eine Auf­lageziffer erreicht wie wohl keine andere fachwissenschaftliche Veröffent­lichung zum Alten Testament und zur Diskussion weit über den Kreis der engeren Fachkollegen hinaus Anlaß gegeben. Ausgangspunkt alttestamentlichen Glaubens und damit Ausgangspunkt dieser Theologie des Alten Testaments ist das uralte heilsgeschichtliche Credo, das Bekenntnis zu dem einen Gott, der die Erzväter erwählt, ihre Nachkommen aus Ägypten be­freit und in das gelobte Land geführt hat. Das Credo wird durch die Quellenschriften des Hexateuchs entfaltet. Sie geben dem Glauben der Frühzeit Ausdruck, daß die Verheißungen Gottes erfüllt sind und Israel ein Land zu eigen hat, in dem Milch und Honig fließt. Um 1000 v. Chr. tritt als zweite heilsgeschichtliche Epoche die Errichtung des Königtums Davids in Jerusalem und die göttliche Erwählung des dortigen Heiligtums dazu, beides gründet ebenfalls in Verheißungen, die nun über den be­scheidenen bäuerlichen Gesichtskreis in den politischen Raum hinausgreifen. Die Propheten spielten anfangs bei von Rad eine geringe Rolle. Das hat sich im 2. Band seiner „Theologie“ gründlich geändert. Amos und seine Nachfolger künden das Ende der bisher gültigen Heilsgeschichte an, weil der Bund mit Gott durch die Schuld Israels zerbrochen ist. Zugleich aber verheißen diese Propheten, daß Gott die alten Verheißungen an die Erz­väter wie an David neu aktualisiert und also eine neue Heilsgeschichte be­ginnt: genau das meint alttestamentliche Eschatologie.

Das Alte Testament bezieht demnach durchweg Gottes Offenbarung auf eine Geschichte, die durch Verheißung und Erfüllung gekennzeichnet ist. Die Verheißungen laden immer breiter aus. „Das Alte Testament kann nicht anders denn als Buch einer ins Ungeheure anwachsenden Erwartung gelesen werden.“ Dabei werden immer wieder alte Verheißungen und Ge­schichts­traditionen aktualisiert, wie es schließlich mit dem gesamten Alten Testament im Neuen geschieht. So stellt die Bibel dem heutigen Theologen „die im Grunde ganz einfache Frage, ob Geschichte nur ein Akzidens der Offenbarung ist … oder ob sie als Ort des wirklichen Handelns Gottes anzuerkennen sei“.

Quelle: Hans Jürgen Schultz (Hrsg.), Tendenzen der Theologie im 20. Jahrhundert. Eine Geschichte in Porträts, Stuttgart: Kreuz-Verlag 21967, S. 483-487.

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