Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers, erste Erzählung: „Das unablässige innerliche Jesusgebet ist das ununterbroche­ne, unaufhörliche Anrufen des göttlichen Namens Jesu Christi mit den Lippen, mit dem Geist und mit dem Herzen, wobei man sich seine ständige Anwesenheit vorstellt und ihn um sein Erbarmen bittet bei jeglichem Tun, allerorts, zu jeder Zeit sogar im Schlaf.“

Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers, erste Erzählung

Anonym

Ich, nach der Gnade Gottes ein Christenmensch, meinen Werken nach ein großer Sünder, meiner Berufung nach ein heimatloser Pilger, niedersten Standes, pilgere von Ort zu Ort. Folgendes ist meine Habe: Auf dem Rücken trage ich einen Beutel mit trockenem Brot und auf der Brust die Heilige Bibel; das ist alles. In der vierundzwanzigsten Woche nach Pfingsten kam ich in der Kirche zur Liturgie, um dort zu beten; gelesen wurde aus der Epistel an die Thessalonicher im fünften Kapitel der siebzehnte Vers; der lautet: »Betet ohne Unterlass«. Diese Worte prägten sich mir besonders ein, und ich begann darüber nachzudenken, wie man wohl ohne Unterlass beten könne, wenn doch jeder Mensch auch andere Dinge verrichten muss, um sein Leben zu erhalten. Ich schlug in der Bibel nach und sah dort mit eigenen Augen dasselbe, was ich gehört hatte, und zwar, dass man ohne Unterlass beten, bei allem Gebet und Flehen allezeit im Geiste beten und darin wachen muss in Ausdauer und allerorts mit zum Gebet erhobenen Händen. Ich dachte viel darüber nach, wusste aber nicht, wie das zu deuten sei.

»Was tu ich nur?« dachte ich bei mir. »Wo finde ich einen, der es mir deutet? Ich will in Kirchen gehen, die im Rufe stehen, gute Prediger zu haben; gewiss werde ich dort eine Unterweisung finden.« Und so tat ich. Ich hörte da sehr viele gute Predigten über das Gebet. Doch waren es Belehrungen über das Gebet im allgemeinen: was das Gebet ist, wie man beten soll, welche Frucht das Gebet bringt; darüber aber, wie man im Gebet fortschreiten könne, redete niemand. Wohl war da einmal eine Predigt über das Gebet im Geist und über das unablässige Gebet; doch wurde nicht gesagt, wie man zu diesem Gebet gelangen könne. So brachte mich denn das Hören der Predigten nicht zu dem Gewünschten.

Als ich mich daher an ihnen satt gehört und keine Vorstellung bekommen hatte, wie man ohne Unterlass beten soll, hörte ich auf, die öffentlichen Predigten zu besuchen, beschloss aber, mit Gottes Hilfe nach einem erfahrenen und wissenden Mann zu suchen, der mir das Beten ohne Unterlass erklären könnte, da ich mich ja eben zu diesem Wissen hingezogen fühlte.

So pilgerte ich lange von Ort zu Ort; las immer in der Bibel und forschte, ob es nicht irgendwo einen geistigen Lehrer oder einen frommen, erfahrenen Führer gäbe. Nach einiger Zeit sagte man mir, dass in einem Dorf seit langer Zeit schon ein Herr lebe und dort ein frommes Leben führe, um seine Seele zu retten: er habe in seinem Haus eine Kirche, ginge niemals aus und bete immer zu Gott und lese ohne Unterbrechung in Büchern, die das Seelenheil fördern. Da ich dies hörte, ging ich nicht, nein, ich lief in das mir genannte Dorf; ich kam hin und fand dort auch den Gutsbesitzer.

»Was ist es, was dich zu mir führt?« fragte er mich. »Ich habe gehört, dass Sie ein frommer und kluger Mann sind; darum bitte ich sie auch, um Gottes willen, mir zu erklären, was es heißt, wenn der Apostel sagt: »Betet ohne Unterlass«, und auf welche Weise man auch ohne Unterlass beten kann. Ich wünsche sehr dies zu erfahren, kann ich es doch ganz und gar nicht verstehen.«

Der Herr schwieg, blickte mich aufmerksam prüfend an und sagte: »Das unablässige Gebet ist das ununterbrochene Streben des menschlichen Geistes zu Gott. Um in dieser süßen Übung fortzuschreiten, ist es erforderlich, möglichst oft Gott zu bitten, er möge einen lehren, ohne Unterlass zu beten. Bete mehr und mit größerer Inbrunst; das Gebet selber wird dir offenbaren, auf welche Weise es ohne Unterlass gebetet werden kann; alles kommt zu seiner Zeit.«

Nachdem er dies gesagt hatte, ließ er mir Essen bringen, gab mir eine Wegzehrung und entließ mich. So hatte er es mir denn nicht gedeutet.

Da ging ich denn wieder meines Weges; ich dachte und dachte, las und las, grübelte und überlegte, was mir der Herr gesagt hatte, und konnte es doch nicht verstehen; ich wollte es aber sehr verstehen, so sehr, dass ich in den Nächten keinen Schlaf fand. An die zweihundert Werst (ein Werst ist ca. ein Kilometer) mochte ich so gepilgert sein und kam dann in eine große Gouvernementstadt. Ich sah dort ein Kloster. Ich machte in einer Herberge halt und erfuhr, dass der Abt des Klosters sehr gütig, fromm und gastfreundlich sei und Pilger bei sich aufnähme. Ich ging zu ihm; er nahm mich freundlich auf, hieß mich Platz nehmen, und wollte mich speisen.

»Heiliger Vater«, sagte ich, Eure Bewirtung ist mir nicht vonnöten. »Ich wünschte aber, dass ihr mir eine geistliche Unterweisung erteilt, wie ich meine Seele retten soll.«

»Wie du deine Seele retten sollst? Handle nach den Geboten und bete zu Gott, dann wirst du auch gerettet werden.«

»Ich höre, dass man ohne Unterlass beten soll, weiß aber nicht, wie man ohne Unterlass betet, und kann es gar nicht mal fassen, was es bedeutet, ohne Unterlass zu beten. Ich bitte Euch, mein Vater, erklärt mir das.«

»Ich weiß nicht, lieber Freund, wie ich es dir noch erklären sollte. Doch halt, ich habe hier ein Buch, da ist es erklärt.« Und er brachte des Heiligen Dimitrij ›Geistliche Unterweisung des inneren Menschen‹. »Lies mal hier auf dieser Seite.« Ich las folgendes: »Die Apostelworte ›Betet ohne Unterlass‹ sind zu verstehen als ein Gebet, das im Geist verrichtet wird; denn der Geist kann immer in Gott eindringen und kann ohne Unterlass zu ihm beten.«

»Erklärt mir das, auf welche Weise der Geist immer in Gott eindringen kann, nicht abgelenkt wird und unablässig betet.«

»Dies ist überaus schwierig, es sei denn, dass es einem Gott selber gibt«, sagte der Abt. Und so erklärte er es mir nicht.

Nachdem ich bei ihm übernachtet und ihm am Morgen für die freundliche Aufnahme gedankt hatte, machte ich mich wieder auf den Weg und wusste selber nicht, wohin.

Mein Nichtverstehen bekümmerte mich. Und um das Herz zu erfreuen, las ich die Heilige Bibel. So ging ich fünf Tage lang auf einer Landstraße; endlich holte mich gegen Abend ein altes Männchen ein, allen Anschein nach geistlichen Standes. Auf meine Frage sagte mir der Alte, er sei Eremit und lebte in einer Einsiedelei, die zehn Werst entfernt läge, abseits von der Landstraße, und er forderte mich auf, mit ihm in seine Einsiedelei zu kommen. »Bei uns«, sagte er »werden Pilger aufgenommen, werden beruhigt und zusammen mit anderen Frommen in einem Gasthof gespeist.«

Ich wollte aus irgendeinem Grunde nicht dorthin und antwortete also auf seine Einladung: »Meine Ruhe hängt nicht von der Herberge ab, sondern von einer geistlichen Belehrung; auch auf Nahrung bin ich nicht bedacht, denn ich habe in meinem Beutel noch viel Hartbrot.«

»Und was ist es denn für eine Belehrung, die du suchst? Was ist es, was du nicht verstehen kannst? Komm nur, komm, lieber Bruder, zu uns; wir haben erfahrene Starzen, die können dich wohl geistig speisen und dir den rechten Weg zeigen im Lichte des Wortes Gottes und der Unterweisung der heiligen Väter.«

»Ja, seht, Vater, es mag ein Jahr her sein, dass ich in der Messe bei der Lesung das Gebot hörte: ›Betet ohne Unterlass‹. Da ich dies nicht verstehen konnte, begann ich in der Bibel zu lesen. Und auch dort fand ich an vielen Stellen das Gebot Gottes, man solle ohne Unterlass beten, immer, zu jeder Zeit, an jedem Ort, nicht nur bei jeglicher Beschäftigung, nicht nur im Wachen, sondern sogar im Schlaf. ›Ich schlafe, aber mein Herz wacht‹ (Hld 5,2). Dies setzte mich sehr in Erstaunen und ich konnte nicht verstehen, wie man dies erfüllen kann und welche Wege dahin führen; ein lebhaftes Wünschen und Neugierde wurde in mir wach; Tag und Nacht kam mir dies nicht aus dem Sinn. Darum bin ich hier in verschiedene Kirchen gegangen und habe Predigten über das Gebet gehört; aber so viele Predigten ich auch hörte, fand ich in keiner eine Belehrung, wie man ohne Unterlass beten müsse; immer war nur die Rede von der Vorbereitung zum Gebet oder von den Früchten des Gebets und dergleichen, es war aber da keine Unterweisung, wie man ohne Unterlass beten soll und was ein solches Gebet zu bedeuten habe. Ich habe oft in der Bibel gelesen und an ihr das Gehörte nachgeprüft; ich habe aber dabei nicht die gewünschte Erkenntnis gefunden. So bin ich bis heute in Unwissenheit und Unruhe verblieben.«

Der Starez bekreuzigte sich und begann also: »Danke Gott, geliebter Bruder, dass er dir dieses unüberwindliche Verlangen nach der Erkenntnis des unablässigen inneren Gebetes offenbarte. Erkenne hierin die Berufung Gottes und sei stille, nachdem du dich davon überzeugt hast, dass bis zu dieser Stunde eine Prüfung dir auferlegt wurde, ob dein Wille auch der Stimme Gottes gehorcht, und da dir gegeben wurde, zu verstehen, dass man nicht durch die Weisheit dieser Welt und nicht durch äußeren Wissensdurst das himmlische Licht, das unablässige innere Gebet erlangen kann, sondern im Gegenteil: durch die Armut des Geistes und durch tätige Erfahrung wird es einfältigen Herzens erworben. Darum ist es auch gar nicht erstaunlich, dass du von dieser wichtigen Sache des Gebets nichts vernehmen und die Wissenschaft nicht erfahren konntest, wie man dazu gelange, ohne Unterlass in dem Tun desselben zu beharren. Und dann, um die Wahrheit zu sagen, obwohl nicht wenig über das Gebet gepredigt wird und es auch viele Lehrmeinungen verschiedener Schriftsteller darüber gibt, so unterweisen diese doch, sofern ihre Erörterungen zumeist auf Verstandeserkenntnis, auf Erwägung der natürlichen Anschauung, nicht aber der Erfahrung beruhen, eher über alles, was zum Gebete gehört, als über das Wesen des Gegenstandes selber. So mancher weiß wunderbar über die Notwendigkeit des Gebets zu sprechen; ein anderer wieder über seine Kraft und seine Segnungen; ein dritter über die Mittel, die zum vollkommenen Gebet führen, das heißt darüber, dass es fürs Gebet des Eifers, der Aufmerksamkeit, der Herzenswärme keuschen Denkens, der Versöhnung mit den Feinden, der Demut, der Zerknirschung und dergleichen bedarf.«

Und der Starez setzte fort: »Aber was ist das Gebet? Und wie lernt man beten? Für diese allerwichtigsten Fragen wird man bei den Predigern unserer Zeit sehr selten ausführliche Erklärungen finden können und zwar deshalb, weil solche Erklärungen schwieriger zu erfassen sind, als alle oben aufgezählten Erörterungen. Auch bedürfen sie eines geheimen, geheiligten Wissens, nicht nur einer schulmäßigen Gelehrtheit. Am beklagenswertesten ist aber, dass die eitle, natürliche Klugheit einen nötigt, Gott mit menschlichem Maß zu messen. Viele urteilen über das Gebet ganz verkehrt, wenn sie glauben, dass die vorbereitenden Mittel und die frommen Werke das Gebet erzeugen, nicht aber das Gebet diese frommen Werke und alle Tugenden gebiert.

In diesem Falle verstehen sie die Früchte oder die Folgen des Gebets nicht richtig als Mittel und Wege zu ihm hin und erniedrigen eben dadurch des Gebetes Kraft. Und dies läuft ganz der Heiligen Schrift zuwider: denn der Apostel Paulus unterweist im Gebet mit folgenden Worten: ›Darum ermahne ich vor allem, dass Gebete geschehen‹ (1 Tim 2,1). Hier, nach diesem Wort des Apostels, besteht die erste Unterweisung im Gebet darin, dass er das Gebet an allererste Stelle rückt: ›Darum ermahne ich vor allem, dass Gebete geschehen‹. Es gibt viele fromme Werke, die vom Christen verlangt werden, aber das Werk des Gebets muss vor allen anderen Werken stehen, denn ohne das Gebet kann kein anderes gutes Werk verrichtet werden. Unmöglich ist es, ohne Gebet den Weg zu Gott zu finden, die Wahrheit zu erkennen, das Fleisch mit seinen Leidenschaften und Lüsten zu kreuzigen, sein Herz mit dem Lichte Christi zu durchleuchten und die selige Verbindung mit Gott zu finden. Dies alles kann nicht geschehen ohne vorausgehendes häufiges Gebet. Ich sage häufiges Gebet, denn die Vollkommenheit und Richtigkeit des Gebets geht über unsere Möglichkeiten, wie der Apostel sagt: ›Denn wir wissen nicht, um was wir beten sollen, wie es ich ziemt‹ (Röm 8,26).

Folglich ist nur die Häufigkeit, die Unablässigkeit als Mittel unserem Vermögen zugefallen, um zur Reinheit des Gebetes zu gelangen, welche die Mutter eines jeden geistigen Gutes ist. ›Wirb um die Mutter, und sie wird dir Kinder gebären‹, sagt der heilige Isaak der Syrer; lerne das erste Gebet dir zu eigen zu machen, und leicht wirst du dann alle Tugenden erlangen. Darüber aber bestehen nur unklare Vorstellungen, und wer mit der Übung und mit den tiefen inneren Lehren der Väter nicht vertraut ist, wird wenig darüber sagen können.«

So redend, waren wir unvermerkt fast bis zur Einsiedelei gekommen. Um diesen weisen Starez nicht aus den Augen zu verlieren, sondern möglichst schnell eine Erfüllung meines Wunsches zu finden, beeilte ich mich, ihm zu sagen: »Erweist mir die Güte, ehrwürdiger Vater, erklärt mir, was bedeutet das – unablässiges innerliches Gebet, und wie kann man es erlernen; ich sehe, dass ihr es genau und aus Erfahrung kennt.«

Der Starez nahm meine Bitte voller Liebe entgegen und forderte mich auf: »Komm jetzt zu mir, ich will dir ein Buch der heiligen Väter geben, und auf Grund dieses Buches wirst du mit Gottes Hilfe klar und genau verstehen und beten lernen.«

Wir betraten die Klause, und der Starez sagte folgendes: »Das unablässige innerliche Jesusgebet ist das ununterbrochene, unaufhörliche Anrufen des göttlichen Namens Jesu Christi mit den Lippen, mit dem Geist und mit dem Herzen, wobei man sich seine ständige Anwesenheit vorstellt und ihn um sein Erbarmen bittet bei jeglichem Tun, allerorts, zu jeder Zeit, sogar im Schlaf. Es findet seinen Ausdruck in folgenden Worten: ›Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner‹! Wenn sich nun einer an diese Anrufung gewöhnt, so wird er einen großen Trost erfahren und das Bedürfnis haben, immer dieses Gebet zu verrichten, derart, dass er ohne dieses Gebet gar nicht mehr leben kann, und es wird sich ganz von selber aus ihm lösen. Verstehst du nun, was das unablässige Gebet ist?«

»Sehr wohl habe ich es verstanden, mein Vater! Um Gottes Willen unterweist mich, wie ich es erlange«, rief ich voller Freude.

»Wie man dieses Gebet lernt, wollen wir hier in diesem Buche lesen. Dieses Buch heißt ›Tugendliebe‹. Es enthält die vollständige und genaue Wissenschaft über das unablässige innere Gebet, dargelegt von fünfundzwanzig heiligen Vätern; und so hoch steht dieses Buch und so nützlich ist es, dass es als der vornehmste und erste Lehrmeister im beschaulichen und geistlichen Leben gilt und, wie der heilige Nikephoros sagt, ›ohne Schweiß und Mühe zur Rettung führt‹.« »Wäre es wirklich höher und heiliger als die Bibel noch?« fragte ich.

»Nein, es ist nicht höher und heiliger als die Bibel, vielmehr enthält es alle lichten Erklärungen dessen, was es an geheimnisvollem in der Bibel gibt, was aber wegen seiner Erhabenheit unserem kurzsichtigen Verstande schwer zugänglich ist. Hierfür will ich dir ein Beispiel geben: Die Sonne ist die größte, glänzendste und vornehmste Leuchte; doch vermagst du sie nicht mit einfachem, unbewaffnetem Auge zu schauen und zu betrachten. Es bedarf dazu eines gewissen künstlichen Glases, welches wohl millionenmal kleiner und dunkler ist; durch dieses aber könntest du dir diesen herrlichen Fürsten unter den Gestirnen betrachten, dich daran ergötzen und seine flammenden Strahlen in dich aufnehmen. Also ist auch die heilige Schrift eine glänzende Sonne, die ›Tugendliebe‹ aber ist jenes erforderliche Glas, das einem den Zugang zu jener erhabensten Leuchte ermöglicht. Höre nun, ich will dir jetzt vorlesen, auf welche Weise man das unablässige innere Gebet erlernen kann.«

Der Starez schlug die »Tugendliebe« auf, suchte darin die Unterweisung des heiligen Symeon des Neuen Theologen, und begann so: »Setz dich still und einsam hin, neige den Kopf, schließe die Augen; atme recht leicht, blicke mit deiner Einbildung in dein Herz, führe den Geist, das heißt das Denken, aus dem Kopf ins Herz. Beim Atmen sprich, leise die Lippen bewegend oder nur im Geiste: ›Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner.‹ Gib dir Mühe, alle fremden Gedanken zu vertreiben. Sei nur still und habe Geduld und wiederhole diese Beschäftigung recht häufig.«

Hierauf erklärte mir der Starez alles dies, zeigte mir ein Beispiel dafür, und wir lasen noch in der »Tugendliebe« das, was der heilige Gregor, der Sinaite, und die heiligen Kallistos und Ignatios sagen. Alles, was wir in der »Tugendliebe« lasen, erklärte mir der Starez noch mit seinen eigenen Worten.

Voll Begeisterung hörte ich mir alles aufmerksam an, verschlang es in mein Gedächtnis und bemühte mich, alles möglichst im einzelnen zu behalten.

So verbrachten wir die ganze Nacht und gingen dann, ohne geschlafen zu haben, zur Matutin. Als mich der Starez entließ, segnete er mich und sagte, ich möge, solange ich dieses Gebet lernte, mit einfältiger Beichte zu ihm kommen, denn ohne Nachprüfung des Lehrmeisters wäre es weder gut noch erfolgversprechend, sich selbständig diesem inneren Tun hinzugeben.

Da ich in der Kirche stand, fühlte ich flammenden Eifer in mir erwachen, mit möglichstem Fleiß das unablässige Gebet zu erlernen, und ich flehte zu Gott, er möge mir darin beistehen. Alsdann dachte ich, wie ich es anstellen sollte, den Starez aufzusuchen, um mir Rat zu holen oder ihm zu beichten; denn länger als drei Tage würde man mich im Gasthof nicht wohnen lassen, und in der Nähe der Einsiedelei gab es keine Wohnungen… Endlich hörte ich, dass vier Werst weiter ein Dorf war. Ich ging hin, um mir dort eine Arbeit zu schaffen; und zu meinem Glück wies mir Gott eine bequeme Anstellung: ich verdingte mich dort für den ganzen Sommer einem Bauern; ich sollte seinen Gemüseacker bewachen und in einer Schutzhütte auf dem Gemüseacker wohnen. Gott sei Dank! So hatte ich denn einen ruhigen Fleck gefunden. Und so lebte ich denn hin und lernte das innere Gebet nach der mir angezeigten Weise und suchte auch den Starez auf.

Etwa eine Woche beschäftigte ich mich voll Eifer in meiner Einsamkeit auf dem Acker mit dem Erlernen des unablässigen Gebetes, genau in der Weise, wie es mich der Starez erklärt hatte. Anfangs schien die Sache auch zu gehen. Alsdann fühlte ich große Schwere, Trägheit, Langeweile, Schläfrigkeit befiel mich, und allerhand Gedanken rückten wie eine Wolke gegen mich an. Betrübt ging ich zum Starez und erzählte ihm von meiner Lage. Er kam mir liebevoll entgegen und sagte:

»Das ist der Kampf der Welt der Finsternis gegen dich; denn nichts ist ihr in uns so furchtbar als das Gebet des Herzens, und darum ist sie auf jede Weise bemüht, einen zu stören und vom Erlernen des Gebets abzuwenden. Übrigens handelt der Feind nicht anders als nach Gottes Ratschluss und Willen, sofern nur dies für uns erforderlich ist. Du musst wohl noch eine Prüfung durchmachen, um zur Demut zu gelangen; darum ist es auch noch zu früh, mit unmäßigem Eifer an den höchsten Zugang zum Herzen zu rühren, um nicht in geistigen Hochmut zu verfallen. Ich will dir für diesen Fall eine Belehrung aus der ›Tugendliebe‹ vorlesen.«

Der Starez schlug die Unterweisung des heiligen Mönches Nikephoros auf und begann zu lesen: »Wenn du nach einigem Bemühen nicht in das Herzensland Eingang findest, so wie man es dir erklärt hat, so tue, was ich dir sagen will, und mit Gottes Hilfe, wirst du das Gesuchte finden. Du weißt, dass die menschliche Fähigkeit, Worte auszusprechen, bei einem jedem Menschen in der Kehle sitzt. Bediene dich dieser Fähigkeit, vertreibe alle fremden Gedanken (du kannst es, wenn du nur willst) und lass dich selber unaufhörlich dieses sprechen: ›Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner‹ – und zwinge dich dazu, dieses immer auszusprechen. Wenn du eine Weile darin beharrst, so wird sich dir dadurch ohne jeden Zweifel der Zugang zum Herzen erschließen. So hat es die Erfahrung gelehrt.«

»Du hörst, wie uns die heiligen Väter für diesen Fall unterweisen«, sagte der Starez, »und darum musst du nun auch voller Vertrauen das Gebot auf dich nehmen und soviel du nur kannst, mündlich das Jesusgebet verrichten. Da hast du einen Rosenkranz; verrichte danach zunächst dreitausend Gebete an jedem Tag. Ob du stehst oder sitzt, ob du gehst oder liegst, wiederhole unablässig ›Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner‹, nicht laut, ohne Übertreibung; und tue dieses eben dreitausend mal am Tag. Füge nichts hinzu, streiche aber auch nichts aus eigenem Ermessen. Gott wird dir dadurch helfen, das unablässige Wirken des Herzens zu erlangen.«

Voller Freude nahm ich das Gebot auf und ging wieder zurück an meinen Ort. Ich verrichtete die Gebete getreulich und genau, so wie es mich der Starez gelehrt hatte. Etwa zwei Tage fiel es mir schwer, kam mir dann aber so leicht und erwünscht von den Lippen, dass mich, wenn ich das Gebet nicht sprach, ein Verlangen ankam, das Jesusgebet wieder zu verrichten; und es sprach sich auch bequemer und leichter, nicht mehr so wie früher mit einer Nötigung dazu.

Dies teilte ich dem Starez mit, und er gebot mir nunmehr, je sechstausend Gebete am Tag zu verrichten, und sagte: »Sei ruhig und bemühe dich nur, so getreu wie möglich die angesagte Zahl von Gebeten zu verrichten; Gott wird dir Gnade erweisen.«

Die ganze Woche hindurch verrichtete ich in meiner einsamen Schutzhütte täglich sechstausend Jesusgebete, bekümmerte mich um sonst nichts, achtete auch nicht auf die fremden Gedanken, wie sehr sie auch auf mich einstürmten; nur darauf war ich bedacht, das Gebot des Starez genau einzuhalten. Und was geschah? Ich gewöhnte mich so sehr an das Gebet, dass ich, sofern ich auch nur für kurze Zeit unterließ, es zu verrichten, alsbald fühlte, dass mir irgend etwas fehlte, als habe ich irgendetwas verloren; dann begann ich wieder zu beten, und sogleich, im selben Augenblick, wurde mir leicht und freudig ums Herz. Wenn ich jemanden traf, so hatte ich schon keine Lust mehr, mit ihm zu sprechen, und hatte immer nur das Verlangen, immer in der Einsamkeit zu sein und das Gebet zu sprechen; so sehr hatte ich mich daran in der einen Woche gewöhnt.

Da der Starez mich wohl zehn Tage lang nicht bei sich gesehen hatte, kam er selbst, mich aufzusuchen; ich offenbarte ihm meinen Zustand. Nachdem er mich angehört hatte, sagte er:

»Nun hast du dich an das Gebet gewöhnt; sieh zu, dass du diese Gewohnheit wach erhältst und vermehrst. Verliere deine Zeit nicht müßig, und entschließe dich mit Gottes Hilfe, von nun an zwölftausend Gebete am Tag zu verrichten. Erhalte dich in der Einsamkeit, stehe möglichst früh auf und gehe möglichst spät schlafen; und komm zu mir, um dir Rat zu holen, immer nach zwei Wochen.«

Ich tat so, wie mir der Starez befohlen hatte, und am ersten Tag wurde ich in später Abendstunde kaum damit fertig, meine Zwölftausendregel auszuführen. Tags darauf ging es aber schon ganz leicht, und ich hatte Freude daran. Erst fühlte ich bei dem unentwegten Sprechen des Gebets Müdigkeit oder gleichsam ein Steifwerden der Zunge und ein Gebundenwerden der Kinnbacken, was übrigens nicht unangenehm war, alsdann einen leichten, feinen Schmerz am Gaumen; außerdem empfand ich einen kleinen Schmerz am Daumen der linken Hand, mit der ich die Rosenkranzperlen zählte, und eine Entflammung des Handgelenks, die bis an den Ellbogen hinaufreichte, was ein höchst angenehmes Empfinden war. Zudem reizte mich dies und zwang mich zu eifrigerer Verrichtung des Gebetes. Also verrichtete ich fünf Tage hintereinander getreulich je zwölftausend Gebete, und zugleich mit der Gewohnheit stellte sich auch ein angenehmes Empfinden und Lust daran ein.

Einst am frühen Morgen war es so, als habe mich das Gebet geweckt. Ich begann meine Morgengebete zu verrichten, aber die Zunge sprach sie nur ungeschickt aus, und mein ganzes Wünschen strebte ganz von selbst dahin, das Jesusgebet zu verrichten. Und als ich es dann zu sprechen begann, wie leicht wurde mir da, wie froh ums Herz, und es war so, als sprächen Zunge und Lippen die Worte ganz von selbst, ohne Nötigung. Den ganzen Tag über war ich voller Freude, und es war mir, als wäre mir alles andere in der Welt fremd; ich war gleichsam wie auf einer anderen Erde, und mit Leichtigkeit gelang es mir, die zwölftausend Gebete bis zum frühen Abend zu verrichten. Mich kam eine große Lust an, das Gebet noch fortzusetzen; ich wagte es aber nicht, mehr zu tun, als mir der Starez befohlen hatte. So fuhr ich denn auch in den nächsten Tagen fort, den Namen Christus anzurufen, und dies geschah mit Leichtigkeit, und ich fühlte mich hingezogen zu diesem Tun.

Dann ging ich zum Starez, um mich ihm zu offenbaren, und erzählte ihm alles ausführlich. Nachdem er mich angehört hatte, sagte er:

»Gott sei Dank, dass sich in dir diese Lust aufgetan hat und die Leichtigkeit des Gebets. Es ist dies eine natürliche Sache, die von der häufigen Übung herrührt, so wie eine Maschine, deren Hauptrad man in Schwung bringt oder antreibt, noch lange selbsttätig weiterläuft. Um das Weiterlaufen aber noch zu verlängern, muss man das Rad schmieren und es immer antreiben.

Siehst du nun, mit wie vortrefflichen Eigenschaften der menschenliebende Gott sogar die sinnliche Natur des Menschen begabt hat, welche Empfindungen sich einstellen können, selbst außerhalb der Gnade, in nicht gereinigter Sinnlichkeit und in der sündigen Seele, wie du das ja selbst erfahren hast. Wie vortrefflich, wie beseligend und voller Süße ist es aber, wenn der Herr Gnade gibt, die Gabe des selbsttätigen inneren Gebets zu entdecken und die Seele von Leidenschaften zu reinigen! Dieser Zustand ist unbeschreiblich, und die Offenbarung dieses Gebetsgeheimnisses ist ein Vorgeschmack der himmlischen Süßigkeit auf Erden. Dessen werden gewürdigt, die in der Einfalt ihres liebevollen Herzens den Herrn suchen!

Nun gestatte ich dir: verrichte das Gebet, sooft du willst, soviel als möglich, bemühe dich, alle wachen Stunden dem Gebet zu weihen, und rufe den Namen Jesu Christi an, ohne Zahl, dich demütig dem Willen Gottes hingebend und von ihm Hilfe erwartend. Ich glaube dass er dich nicht verlassen und deine Wege leiten wird.«

Nachdem ich diese Unterweisung entgegengenommen hatte, verbrachte ich den ganzen Sommer unablässig im mündlichen Jesusgebet und war sehr ruhig. Des öfteren träumte ich davon, dass ich das Gebet verrichtete; geschah es aber am Tage, dass ich irgend jemanden traf, so erschienen mir alle ohne Ausnahme so lieb und nah, als wären sie meine Verwandten, wenn ich mich auch gar nicht mit ihnen abgab. Alle fremden Gedanken hörten ganz von selbst auf, und ich dachte an nichts anderes als an das Gebet, welchem sich auch mein Verstand zuzuwenden begann, während ich im Herzen ganz von selbst zeitweise eine Wärme und ein angenehmes Gefühl verspürte. Geschah es, dass ich zur Kirche ging, so schien mir der lange Klostergottesdienst kurz zu sein, und er war nicht mehr ermüdend wie früher. Meine einsame Schutzhütte erschien mir als ein herrlicher Raum, und ich wusste nicht, wie ich Gott danken sollte, dass er mir, dem verruchten Sünder, einen Retter und Lehrmeister wie den Starez gesandt hatte.

Aber nicht lange konnte ich aus der Unterweisung meines geliebten und gottweisen Starez Nutzen ziehen; gegen Ende des Sommers starb er. Unter Tränen nahm ich Abschied von ihm, und nachdem ich für seine väterlichen Lehren gedankt hatte, bat ich mir zum gesegneten Gedenken an ihn seinen Rosenkranz aus, den er für seine Gebete gebraucht hatte. So war ich denn allein geblieben. Endlich war auch der Sommer zu Ende, und nach der Ernte stand der Gemüseacker leer. Ich hatte keine Wohnung mehr. Der Bauer entließ mich, gab mir für meine Wächterdienste zwei Rubel und schüttete mir für den Weg meinen Beutel voll Brot. Und wieder begann ich von Ort zu Ort zu pilgern; indessen wanderte ich nicht mehr wie früher von meiner Not geplagt. Das Anrufen des Namens Jesu Christi erfreute mich unterwegs, und alle Menschen waren gütiger zu mir. Es war so, als hätten mich alle liebgewonnen.

Einmal begann ich zu überlegen, was ich wohl mit dem Gelde machen sollte, das ich für meine Wächterdienste bekommen hatte. Wohin damit? »Halt«, dachte ich, »der Starez ist nicht mehr am Leben; unterweisen kann mich niemand mehr; ich will mir die ›Tugendliebe‹ kaufen und will das innere Gebet danach erlernen.« Ich bekreuzigte mich und ging betend meines Weges weiter. Ich kam in die Gouvernementsstadt und fragte in verschiedenen Handlungen nach der »Tugendliebe«. In einem Geschäft fand ich sie auch, doch verlangte man dafür drei Rubel, ich besaß aber nur deren zwei; ich versuchte zu handeln, doch wollte mir der Kaufmann das Buch nicht billiger geben. Schließlich sagte er: »Geh mal in jene Kirche drüben und frage nach dem Kirchenältesten. Er besitzt ein ganz altes Exemplar dieses Buches. Möglichenfalls wird er es dir für zwei Rubel abtreten.«

Ich ging hin und kaufte die »Tugendliebe« – ein ganz altes, zerlesenes Buch – tatsächlich für zwei Rubel. Da freute ich mich. Ich flickte es notdürftig zusammen, nähte es in einen Lappen ein und legte es in meinen Beutel neben die Bibel.

So ziehe ich nun meiner Wege und verrichte unablässig das Jesusgebet, das mir wertvoller und süßer ist als alles andere in der Welt. Mitunter gehe ich meine siebzig Werst (ein Werst ist ca. ein Kilometer) am Tage, manchmal auch mehr, und ich fühle gar nicht, dass ich gehe. Ich fühle aber, dass ich das Gebet verrichte. Fährt mir eisige Kälte durch die Glieder, so beginne ich das Gebet angespannter herzusagen und bin bald vollkommen erwärmt. Martert mich der Hunger, so rufe ich den Namen Jesu Christi häufiger an und vergesse, dass ich essen wollte. Bin ich krank oder fühle ich ein Reissen im Rücken oder in den Beinen, so beginne ich auf das Gebet hinzuhorchen und spüre den Schmerz nicht mehr. Wenn mich jemand beleidigt, so denke ich nur daran, wie süß das Jesusgebet ist; sogleich ist die Kränkung und aller Zorn verschwunden, und ich habe alles vergessen. Ich bin gleichsam närrisch geworden; um nichts sorge ich mich mehr; nichts gibt es, das mich fesselt; nichts Eitles schaue ich an; wenn ich nur immer allein bin in der Einsamkeit! Der Gewohnheit getreu, drängt es mich nur zu dem einen: unablässig das Gebet zu verrichten, und immer, wenn ich mich damit abgebe, werde ich sehr froh. Gott weiß, was mit mir vorgeht. Gewiss ist dies alles sinnlich oder, wie der verstorbene Starez sagte, natürlich und künstlich, von der Gewohnheit erzeugt; doch wage ich es nicht, mich bald ans Erlernen und die Aneignung des inneren Gebets im Herzen zu machen, da ich unwürdig und töricht bin. Ich warte auf die Stunde des göttlichen Willens und hoffe auf die Gebete meines verstorbenen Starez.

Obwohl ich also das unablässige, selbsttätige innere Gebet des Herzens noch nicht erlangt habe, danke ich doch Gott, denn ich verstehe jetzt klar, was das Wort bedeutet, das ich in der Epistel hörte: »Betet ohne Unterlass«.

Quelle: Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers. Die vollständige Ausgabe, übersetzt von Reinhold von Walter, herausgegeben und eingeleitet von Emmanuel Jungclaussen, Freiburg i.Br.: Herder, 2008, S. 23-38.

Hier der Text als pdf.

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