Vom Geheimnis des Glockenturms
Von Martin Heidegger
In der Frühe des Weihnachtsmorgens gegen halb vier Uhr kamen die Läuterbuben ins Mesmerhaus. Dort hatte ihnen die Mesmermutter den Tisch mit Milchkaffee und Kuchen gedeckt. Er stand neben dem Christbaum, dessen Duft von Tannen und Lichtern noch vom Hl. Abend her in der warmen Stube lag. Seit Wochen, wenn nicht das ganze Jahr, freuten sich die Läuterbuben auf diese Stunde im Mesmerhaus. Worin mag sich ihr Zauber verborgen haben? Gewiß nicht in dem, was den so früh aus der Winternacht in die Stube gekommenen Buben »schmeckte«. Manche von ihnen durften Besseres daheim erwarten. Aber es war das Wundersame des Hauses, des ungewöhnlichen Augenblicks, die Erwartung des Läutens und des Festtages selbst. Die Erregung begann noch im Mesmerhaus selbst, wenn die gesättigten Buben dort im Hausgang die Laternen anzündeten. Sie waren durch die Reste der Altarkerzen erleuchtet, die der Mesmer für diese Zwecke in der Sakristei sammelte in einer Lade, aus der wir Mesmerbuben uns selbst die »Kerzen« für unseren Altar holten, an dem wir zum ernsten Spiel »die Messe lasen«.
Nachdem alle Laternen in Ordnung waren, stapften die Buben, der Oberläuter voran, durch den Schnee und verschwanden im Turm. Die Glocken, zumal die großen, wurden in der Glok- kenstube selbst geläutet. Und unsagbar erregend war das voraufgehende »Schwanken« der größeren Glocken, deren Klöppel durch das Glockenseil festgemacht und der erst »abgelassen« wurde, wozu besondere Kunstgriffe gehörten, wenn die Glocke schon im vollen Schwingen war. Dies geschah deshalb, damit jede Glocke, eine nach der anderen, mit ihrem vollen Geläute einsetzen konnte. Nur das erfahrene Ohr konnte darum recht ermessen, ob jedes Mal »richtig« geläutet wurde; denn auch die Beendigung des Läutens geschah auf dieselbe, nur umgekehrte Weise. Die Klöppel wurden im vollen Schwingen der großen Glocken »aufgefangen« und wehe, wenn ein Läuter dabei ungeschickt war und die Glocke »fahren« ließ.
Sobald die vier Stundenschläge der Weihnachtsfrühe verklungen waren, setzte die kleinste Glocke ein – »das Dreie«, womit täglich nachmittags um drei Uhr geläutet werden mußte. Dies besorgten die Mesmerbuben, weshalb für sie die Spielnachmittage im Hofgarten oder auf dem »Marktbrückle« vor dem Rathaus immer unterbrochen waren. Oft verlegten die Buben aber auch, besonders zur Sommerszeit, ihre Spiele in die Glockenstube oder ins höchste Gebälk des Turmes bei den Zifferblättern der Turmuhr, wo die Dohlen nisteten und die Mauersegler. Das »Dreie« war zugleich die Sterbeglocke, mit der »das Zeichen« geläutet wurde. Das »Zeicheläuten« besorgte stets der Mesmervater selbst.
Wenn um vier Uhr das »Schrecke-lauten« begann (das die Schläfer des Städtchens aus dem Schlaf auf»schreckte«), folgte auf das »Dreie« der dunkel-süße Klang des »Alve«, dann das »Kinde« (es läutet zur Kinder- und Christenlehre und zu den Rosenkranzandachten), dann die »Elfe«, die auch täglich geläutet wurde, meist vom Mesmer, weil die Buben in der Schule waren um diese Zeit, dann die »Zwölfe«, die ebenfalls täglich das Zwölfuhrläuten besorgte, dann die »Klanei«, auf die der Stundenhammer schlägt, zuletzt »die Große«. Mit ihrem vollen schweren weit hinaustragenden Klang hörte das morgendliche Einläuten der hohen Festtage auf. Alsbald begann das Läuten zum Engelamt. Solches Läuten geschah auch immer am vor- festhchen Tag der Vigil abends, und da waren meist auch die Mesmerbuben dabei, während sie sonst den Dienst als Ministranten und natürlich beim gehörigen Alter als Oberministranten versahen. Sie gehörten nicht zu den »Läutern«, wenngleich sie vermutlich mehr »gelitten« (schwäbisch für »geläutet«) haben als die Läuter, die eine besondere Art von Buben waren.
Außer den genannten sieben Glocken hing noch über der letzten Treppe zur Glockenstube das »silberne Meßglöckle«, dessen dünnes Seil durch den ganzen Turm hinabreichte bis zum Eingang zur Sakristei. Mit diesem Glöckchen gab der Mesmer den Läutern oben im Turm während der hl. Wandlung das » Zeichen« zum Ein- und Aussetzen des Geläuts.
Wobei die Mesmerbuben auch nie fehlten, war das »Rätschen«. Wenn am Gründonnerstag bis zum Karsamstagabend die Glocken schwiegen, traten zum Gottesdienstruf und zu den Betzeiten die Rätschen ins Spiel. Eine durch eine gedrehte Kurbel in Bewegung gesetzte Reihe von Holzhämmern schlugen auf hartes Holz auf und gaben ein Geräusch, das den herben Tagen der Karwoche angemessen war. Gerätscht wurde auf dem »Gätter« in der Weise, daß an allen vier Ecken, zuerst an der gegenüber dem Rathaus, die »Rätschen« in Bewegung gesetzt, d. h. abwechselnd von den einzelnen Buben gedreht wurden.
Zu dieser Zeit regte sich schon der Vorfrühling überm Land, und seltsam dunkle Erwartungen träumten von der Weite des Turmes dem Sommer entgegen.
Die geheimnisvolle Fuge, in der sich die kirchlichen Feste, die Vigiltage, und der Gang der Jahreszeiten und die morgendlichen, mittäglichen und abendlichen Stunden jedes Tages ineinanderfugten, so daß immerfort ein Läuten durch die jungen Herzen, Träume, Gebete und Spiele ging – sie ist es wohl, die mit eines der zauberhaftesten und heilsten und währendsten Geheimnisse des Turmes birgt, um es stets gewandelt und unwiederholbar zu verschenken bis zum letzten Geläut ins Gebirg des Seyns.
Martin Heidegger, Aus der Erfahrung des Denkens 1910-1976, Martin Heidegger Gesamtausgabe Bd. 13, Frankfurt a.M.: Klostermann, 22002, S. 113-116.