Gerhard von Rad, Die Konfessionen Jeremias (1936): „So wird nun — das ist bei Jeremia ein Neues — der Prophet nicht nur kraft seines Charismas, sondern in seiner Menschlichkeit ein Zeuge Gottes; aber nicht als der über die Sünde der Menschen triumphierende, nicht als der überwindende, sondern als der unt8er den Menschen zerbrechende Bote Gottes.“

Eine glänzende Auslegung zu den Konfessionen Jeremias stammt von Gerhard von Rad, die dieser 1936 in der Zeitschrift „Evangelische Theologie“ veröffentlicht hatte:

Die Konfessionen Jeremias (1936)

Von Gerhard von Rad

Jeremias Eigenstes sind seine Konfessionen. Prophetische Visionen, Völkerorakel, Drohworte gegen den Mißbrauch des Kultus finden wir auch bei anderen Propheten, aber seine Kon­fessionen, jene intimsten, einsamsten Aussprachen mit Gott, haben in keinem Prophetenbuch ihresgleichen. Treten wir ihnen und dem eigentümlichen theologischen Problem, das sie für uns enthalten, näher[1]. Vollständigkeit konnte hier weder in der Wiedergabe der Texte noch in ihrer Auslegung angestrebt werden.

I.

Jer. 15,16-20:
16. Fanden sich Worte von dir, — ich verschlang sie. Dein Wort war mir Wonne und Herzensfreude, weil ich deinen Namen, Jahwe, trage. 17. Nicht sitz ich im Kreis der Scherzenden fröhlich. Unter deiner Hand sitze ich einsam, denn mit Grimm hast du mich erfüllt. 18. Warum ist mein Schmerz ewig gewrden, bösartig meine Wunde und will nicht heilen? Jahwe, zum Trugbach wurdest du mir, zu wassern auf die kein Verlaß ist.
19. Darauf erwiderte mir Jahwe also: Wenn du umkehrst, laß ich dich wieder mir dienen, Wenn du Edles hervorbringst ohne Gemeines, sollst du als Mund mir dienen. Jene werden sich zu dir hinwenden, du aber sollst dich nicht zu ihnen hinwenden. 20. Dann mache ich dich [266] für dieses Volk zur ehernen steilen Mauer; sie werden wider dich stürmen und dich doch nicht bezwingen, denn ich bin mit dir, dir zu helfen und dich zu erretten.

Formal zerfällt das Stück in zwei Teile, eine Gebetsrede Jeremias, und einen darauf ergangenen Gottesspruch. Schon mit v. 16 sind wir mitten in der Confessio. Die Aussagen sind für alttestamentliches Empfinden ganz ungewöhnlich: Jahwes Worte „verschlang“ er, wo sie ihn erreichten, sie waren ihm „Wonne“ „Herzensfreude“. Sein Verhältnis zur Offenbarung ist — ein nahezu triebhaftes, er spürt ein innerstes Angelegtsein auf Gott, das bis in die physischen wurzeln seiner Existenz hinabreicht. Kein Zweifel; hier redet Jeremia nicht von dem Verhältnis des Menschen zur Offenbarung, sondern allein aus seiner Situation als Prophet heraus. Ja, es gab also für ihn die Möglichkeit eines ganz spontanen prophetischen delectari!

Dieses Ausgerichtetsein auf Gott hat aber eine Rückseite: der ganz und gar zu Gott Hingewandte ist den Menschen abgewandt; gerade seine Offenheit für Gott hat ihn unter den Menschen vereinsamt. Ergreifend ist die Einfachheit, mit der dieses Ge­setz, daß die Gott Zugewandten für die menschliche Geselligkeit verloren sind, hier als gültig anerkannt wird; auch liegt dieser Feststellung jeder Hochmut den Mitmenschen gegenüber völlig fern. Aber Jeremia spinnt an dem Gedanken über seine Ein­samkeit weiter, sie hat noch einen Grund: Jahwe bat ihn „mit Zorn angefüllt“. Hier redet Jeremia von dem Inhalt seiner be­sonderen prophetischen Sendung. Daher rührt also die Störung seines Verhältnisses zu seinen Mitmenschen! Wie von einem Fremdkörper, der in ihn hineingegeben ist, redet der Prophet von diesem Zorn, dessen Träger und Gefäß er nun sein muß. Nun muß er schelten und drohen; er hat sich der Freiheit seiner natürlichen Affekte begeben. Sason an Gott und sa‘am über die Menschen, das ist schon eine Formel, auf die das Propheten­leben Jeremias gebracht werden kann! Dieses Amt von Gott her, das ihm gegeben ist, bereitet ihm aber Leiden, deren Ende nicht abzusehen ist; und dies eben ist’s, wogegen er sich auflehnt; darin sieht er eine Untreue Gottes. Das Wort von dem trügerischen Winterbach ist ein schrecklicher Vorwurf, wie so ein Wasserlauf Herden und Zelte anlockt, so hat Gott Jeremia an-[267]gelockt; eine Weile ging es gut, — aber dann war es wie ein Getäuschtwerden, ein Vertrauen ist zerbrochen.

Knapp und streng stellt die göttliche Antwort die Bedin­gungen auf, unter welchen Jeremia in sein Prophetenamt zurückkehren kann. Sie ist inhaltlich stark an der Jer. 1,18 orien­tiert; da­durch gerade wird deutlich, daß Jeremia an die Stelle zurückkehren muß, wo Gott mit ihm angefangen hat. Bedeut­sam ist, daß sowohl eine Feststellung, daß Jeremia mit seinen Worten gefehlt habe, wie eine Rüge dieser Worte fehlt; mit dem Augenblick des Einsetzens der göttlichen Antwort ist das selbstverständlich. Gerade in dem Wiederaufnahmeverfahren wird die Tiefe seines Falles offenbar. Er wollte zurück von seinem Prophetenamt, ein Bürger unter Bürgern werden. Das soll er aber nicht. Nicht er soll sich seine Mitmenschen, sondern sie sollen sich ihn zum Richtpunkt machen, sofern er „Edles“ und nicht „Gemeines“ hervorbringt, wir gehen gewiß nicht fehl, wenn wir den merkwürdigen letzten Ausdruck eben auf die ganze vorausgegangene Beschwerde beziehen. „Gemeines“, „Unedles“ in den Augen Gottes war es, daß Jeremia sich sein Propheten­amt wohlgefallen ließ, daß er es aber, als es ihn in Verwick­lungen und Leiden führte, von sich werfen wollte.

Zur Schürzung unseres Problems sei hier nur eine einfache Feststellung gemacht: Gottesrede, d. h. also prophetische Ver­kündigung im strengen Sinn des Wortes, ist hier nur die Ant­wort Jahwes. Mit aller Deutlichkeit ist ja gesagt, daß Jeremia mit den eigentlichen Worten seiner Confessio sein Pro­phetenamt verlassen habe! Ohne dem Fragenkreis näher getre­ten zu sein, können wir doch sagen, daß wir hier Jeremia keines­wegs als Prophet im alten Sinn des Wortes redend hören, — sofern man unter Propheten Männer versteht, die den Anspruch erheben, unmittelbar von Gott her mir einer Verkündigung be­auftragt zu sein. Die Richtung seiner Worte geht nicht von oben nach unten, sondern von unten nach oben, und was er bezeugt, ist primär nicht ein Wort Gottes, sondern seine innere Proble­matik, seine Leiden und seine Verzweiflung.

II.

Nicht anders ist es, wenn wir Jer. 12,1-5 lesen. Das Quälende der lastenden Frage kommt darin besonders zum Ausdruck, [268] daß Jeremia, schon ehe er seine Sache vorbringt, alle Trümpfe aus der Hand gibt:

1. Recht behältst du, wenn ich mit dir streite; und doch muß ich rechten mit dir …

Er ist kein ebenbürtiger Partner, sondern schon im Ansatz ein Unterlegener. So windet sich Jeremia in einem zerreibenden Zwiespalt: Da ist die fatal geschloffene Rette des Glückes der Gottlosen:

2. Du hast sie eingepflanzt, sie schlagen auch Wurzel, gedeihen und bringen sogar Frucht …

Und daneben von eben diesem Gott kommend Leiden und Not. wieder atmet die darauffolgende Antwort Gottes eine abwei­sende Strenge:

5. Läufst du mit Fußgängern und sie ermüden dich schon, wie willst du mit Rosten um die wette laufen? Im sicheren Lande traust du schon ‚nicht‘, wie willst du es halten im Dickicht des Jordan?

Ja, das ist keine Antwort; es fehlt jedes Eingehen auf die umständliche Frage des Propheten; es ist selbst eine Frage! Der Satz ist großartig und eigentümlich geheimnisschwer, fast eine Rätselrede Gottes, so daß man die von ihr angedeuteten weiten und Tiefen mehr ahnt als begreift. Kleiner, schwacher Mensch, wie bist du noch am Anfang! Fußgänger ermüden dich schon, schon im friedlichen Lande wird dir bang. Jeremia wurde von seiner Frage fast erdrückt, nun muß er hören, daß er von Gott garnichts weiß, daß er noch ganz am Anfang ist. Auf die mensch­liche Klage über Rätsel in der göttlichen Weltregierung lüftet Gott einen Augenblick den Schleier und eröffnet eine Perspek­tive auf Rätsel und Dunkelheiten ungleich schwerer Art, ohne daß auch der leiseste Ansatz zu einer Erklärung gegeben würde! Aber dies letztere eben ist wichtig: Es soll sich garnicht um theo­retische Probleme und deren Lösung handeln. Gott führt Jeremia mit seiner Frage heraus aus der Theorie, heraus aus dem Grübeln, hinüber zu der anderen Frage, der der Bewährung im Leben und Leiden. Für Gott geht es um die Frage des Standhaltens, allein um den Gehorsam.

III.

Jer. 8,18-23:
18. ‚Ohne Heilung‘ lastet Kummer auf mir, mein Herz ist krank. 19. Horch! Hilfegeschrei meines Volkes aus dem Land weit und breit: [269] „Ist Jahwe nicht in Zion, ist sein König nicht dort?“ — „Warum reizten sie mich mit den Götzen, Trugbilder der Fremde?“ 20. Vorüber der Sommer, zu Ende der Herbst, und uns ist keine Hilfe ge­worden. 21. Über meines Volkes Fall bin ich in Trauer, packt mich Entsetzen. 22. Ist denn kein Balsam in Gilead und ist kein Arzt da, warum erwächst nicht Heilung für die Tochter, mein Volk? 23. O, wäre doch mein Haupt voll Wassers, mein Auge ein Tränenquell daß ich Tag und Nacht beweinte die Erschlagenen meines Volkes!

Voll unheimlicher innerer Unruhe ist dieser Abschnitt. Quä­lende Gesichte schieben sich dem Propheten vor die Seele; aber das ist keine geschloffene Schau, es sind verschiedene Bilder, ja vielleicht nur Fetzen von Bildern, die sich in die Sicht Jeremias stellen: Das Hilfegeschrei seines Volkes (19a), er hört etwas wie eine göttliche Antwort (19b), dann erhebt sich wieder die Klage; dem Propheten blitzt nun der Gedanke auf, ob, wenn nicht bei Jahwe, dann anderwärts Hilfe, Heilung zu finden sei. Aber dieser Gedanke wird wieder als aussichtslos weggelegt und die Klage verklingt in unaussprechlichem Jammer. Aber das ist nun das wichtige: Diese unruhigen, fast auseinanderstrebenden Bildelemente sind zu einem nahtlosen Ganzen zusammengeschmie­det, umklammert und getragen von einer unvorstellbar großen Leidensfähigkeit und Leidenskraft. Das Gedicht be­ginnt mit dem Ausdruck eines allerpersönlichsten Leidens und es schließt mit einem solchen; aber innerhalb dieses derart abgesteckten Bereiches, gehalten wie von den Wänden seines Herzens, solche Bilder!

Was sich für den Propheten in abgerissenen Gesichten auf eng­stem Raum zusammendrängt, ist eine Tragödie, die sich in Wirk­lichkeit in viele Akte entfaltet: Die Not — die Frage nach Gott, der Entschluß, bei ihm offiziell einen Bescheid einzuholen — der Gottesspruch mit seiner Abweisung der Bitte, darauf die Situation vollendeter Trostlosigkeit.

Vorüber der Sommer, zu Ende der Herbst …

Es ist das sinkende Jahr, von dem man nichts mehr erhofft. Aber immer noch ist keine Ergebung, es bohren sich die Gedanken nun in eine andere Richtung, diesmal ist es der Prophet selbst, der einen Ausweg sucht (22). Aber auch diese Frage verhallt- war bisher die innere Bewegung des Propheten durch die Fragen noch etwas zurückgehalten — es war durch das Suchen noch etwas Angespanntes in ihm —, so gibt er jetzt mit dem [270] Verklingen der letzten Frage seinen Jammer frei, ja er wünscht sich nur noch die eine Möglichkeit, sich in Betrübnis ganz ver­strömen zu können.

Kein Zweifel, mit diesem Lied sind wir in eine noch wesentlich tiefere Schicht jeremianischer Leiden hinabgestiegen. Dieses Lei­den ist zunächst einfach und übergroß ein Mit-Leiden; (eine Feststellung, die uns als Theologen fast etwas in Verlegenheit bringt!) Der Gottesspruch ist hier nicht der gedankliche Ziel­punkt des Abschnittes, sondern diese Confessio dient allein und ausschließlich der Schilderung einer ganz persönlichen seelischen Bewegung. Sie bezeugt nicht Gott, geschweige in der ganz direk­ten Art früherer prophetischer Verkündigung, sondern sie ver­leiht einem ganz subjektiven Schmerz Ausdruck. Spricht dann hier Jeremia noch als Prophet? Aber wir wollen erst die Dich­tungen folgen lasten, die den Tiefpunkt seiner Leiden bezeichnen.

IV.

Jer. 20,7-9:
7. Du hast mich verführt und ich habe mich verführen laßen; du hast mich gepackt und mich überwältigt. Zum Gelächter bin ich allzeit ge­worden, über mich spottet jeder. 8. Denn so oft ich rede, schreie ich und rufe: „Gewalt, Bedrückung!“. Denn Jahwes Wort ward mir zur Schande und zum Spott. 9. Und dachte ich, ich will sein nicht gedenken und in seinem Namen ferner nicht reden, denn war’s mir im Herzen wie brennendes Feuer, verhalten in meinem Gebein. Ich quälte mich, es auszuhalten, aber vermochte es nicht.

Das erste Verbum in V. 7 heißt eigentlich beschwatzen und wird vom Verführen eines Mädchens gebraucht. Das andere deutet etwa einen Ringkampf an, in dem Jeremia unterlegen ist. Nie süß warst du mir und wie stark![2] Dieser Eingang ist furchtbar. Der Prophet klagt sich Gott gegenüber der Schwäche an, allerdings einer verzeihlichen, wie hätte er auch widerstehen können. So wendet sich die Anklage sofort gegen Gott, der ihn lächerlich gemacht hat vor aller Welt. Für Jeremia ging es also bei dem Akt seiner Berufung zum Propheten nicht um Recht oder Unrecht, auch nicht zuerst um eine Frage der inneren Über­zeugung, sondern um eine ganz platte Kräftefrage. So, d. h. als ein erschreckend ungleiches Kräfteverhältnis, kann man das Ver-[271]hältnis zwischen Gott und Mensch also auch sehen, und diese Verhältnisbestimmung ist wahrscheinlich noch nicht die äußerlichste V. 8 ist nicht ganz sicher zu deuten; wahrscheinlich meint Jeremia nicht Gewalttaten, die ihm widerfahren, sondern er nennt Stichworte seiner Gerichtsverkündigung. Und weil er nun nicht ernste Gegnerschaft und widerstand erfuhr, sondern — was natürlich viel schlimmer ist — Gelächter und Spott, darum ge­steht uns Jeremia in großartiger Offenheit, was er schon für Gedanken gehegt hat: Gott soll sich einen anderen Menschen suchen; er will sich um sein Prophetenamt nicht mehr kümmern; aber — es ist offenbar bei den Gedanken allein nicht geblieben, sondern zu einem wirklichen Versuch gekommen! — das ging ja nicht; er wäre innerlich ausgebrannt, wenn er die Gottesworte bei sich behalten hätte. Die Confessio klingt ab in dem zu Tod erschöpften: „Ich quälte mich, es auszuhalten, aber vermochte es nicht.“ Das gehört wohl zum Mächtigsten, was das Alte Te­stament von dem Zwang auszusagen vermag, der von Gott her über einen Menschen kommen kann. Noch einmal heben wir her­aus: Hier ist die Beziehung Gottes zum Menschen in eine Tiefen­schicht menschlichen Erlebens verlegt, wo es durchaus nicht mehr um freie Entschlüsse („Entscheidung“) oder um ein geistiges Zustimmen oder Überführtwerden geht, hier ist die Frage der prophetischen Beauftragung, ja auch die des menschlichen Gehor­sams und der Bewährung einfach als eine Machtfrage empfun­den.

V.

Jer. 20,14-18:
14. Verflucht der Tag, an dem ich geboren; der Tag, da meine Mutter mich gebar, sei ohne Segen; 15. Verflucht der Mann, der meinem Vater kund tat: „Geboren ist dir ein Knäblein!“ — und ihn hoch erfreute, 16. Dieser ‚Tag‘ sei wie die Stätte, die Jahwe umwarf ohne Erbarmen. Wehruf soll er hören des Morgens und Kriegsgeschrei zur Mittagszeit! 17. Daß er mich nicht im Mutterleib getötet hat, so daß meine Mutter mein Grab geworden, und ihr Schoß schwanger geblieben wäre für immer. 18. Warum ging ich aus Mutterschoß, um Mühsal und Kummer zu schauen, daß meine Tage in Schande vergingen?

Nun ist es völlig Nacht um den Propheten. Der Abschnitt muß wohl auch biographisch aus einer der letzten Leiden Jeremias stammen. Eine Verfluchung wie diese ist nach [272] alttestamentlichem und gemein orientalischem Glauben mehr als böse, zornige Worte. Es gibt nach der Anschauung der Alten dämonische Wirklichkeiten, über die der Mensch eine gewisse Verfügung hat, er kann sie rufen und locken, denn es ist eine lüsterne Bereitschaft zum Zerstören in ihnen. So soll der Akt der Vorsehung, der den Tag der Geburt Jeremias zu einer Setzung des Heils bestimmt hat, aufgehoben, annulliert werden. Jeremia wälzt, was er an Fluch erreichen kann, auf diesen Tag und damit greift er gleichsam hinter das empirische Leben zurück und attackiert die jenseitige Setzung der Vorsehung. Ja, der Fluch ist so übergroß, so wild, daß er auch den ahnungslosen Mann, der dem Vater die Runde von der Geburt brachte, trifft, diesen Toren, der da meinte, eine Freude zu melden. Dieser Tag —wir sahen’s, er war schicksalsträchtig — hätte Jeremia schon im Mutterleib wegsterben lassen können. Ja, mußte er überhaupt aus dem Schoß seiner Mutter hervorgehen? Dann wäre sie mit ihm ewig schwanger geblieben; ein grotesker Gedanke! Aber wir spüren doch gerade in diesem bizarren Wunsch die jäh aufsteigende Wärme der Empfindung für die Mutter —: würde doch ihr Schoß ihn noch umfangen, und wäre sie sein Grab, in dem er ruhen könnte —! Jeremia überschlägt sein Leben, soweit es noch vor ihm liegt: In Mühsal, Kummer und Schande wird es enden.

Dies mag man als die unterste Stufe des Leidens Jeremias bezeichnen. Es ist nun alles zerstört in ihm, ja er zieht die lieb­sten Gestalten, die Mutter, den Vater, den Freund des Hauses in die Nacht seines Jammers hinein[3]. Müßig ist es zu fragen, ob er noch tiefer gesunken ist. Vielleicht in der Stunde seines letzten Martyriums? Man wird aber mit der Zurückhaltung, die hier für den Ausleger erstes Gebot ist, sagen dürfen, daß der leibliche Tod als solcher keine Steigerung, eher eine Lösung bringen mochte.

*

Nicht nur im Sinn eines ästhetischen Urteils — das sich hier freilich nur schwer zurückdrängen läßt — sei an der Spitze einiger grundsätzlicher Gedanken festgestellt: Die Konfessionen Jere-[273]mias sind in der prophetischen Literatur, ja im ganzen Alten Testament einzig in ihrer Art. Überblicken wir den Inhalt der prophetischen Bücher von Amos bis Maleachi, so finden wir „Verkündigung“ und zwar meist im direkten prophetischen Sinn einer akuten Gottesoffenbarung (nicht nur als Bezeugung eines Glaubens, wie weithin in den geschichtlichen oder poetische» Büchern). Prophetische Verkündigung sind aber Jeremias Kon­fessionen keineswegs; die Wegrichtung der Worte geht nicht von oben nach unten (der Prophet ist hier auch nicht Durchgangspunkt), sondern von unten nach oben. Jeremia redet nicht von Gott, sondern von sich und den Bewegungen in seiner Seele. Nun könnte man vielleicht geneigt sein, das theologische Problem, das sich damit vor uns auftut, mit dem Hinweis auf so manche Psalmen zu erledigen[4], in denen ja auch so und so oft die Frommen mehr von sich und ihren Verhältnissen als von Gott reden. In der Tat, warum sollte Jeremia nicht auch einmal abseits seines Prophetenamtes — sozusagen außerdienstlich — zu uns reden? Dann hätten wir hier also reinste menschliche Religiosität, die sich einmal abseits des Zwanges seines Pro­phetenberufs ausströmt, sozusagen Letztes und Ursprünglichstes des homo religiosus? Wer die Jeremiainterpretation der letzten 50 Jahre kennt, der weiß, mit welcher Vorliebe und auch Ehr­furcht dieser Weg von den Auslegern begangen wurde. Aber er ist ein Irrweg. In seinen Bekenntnissen redet Jeremia ja gar nicht außerdienstlich, sondern mitten aus seinem Prophetenamt heraus. Es ist nicht so, daß wir eigentlich prophetische Zeugnisse und allgemeinere religiöse Aussagen bei Jeremia nebeneinander hätten, sondern gerade die Konfessionen kommen aus dem Zentrum seines Prophetseins. So stehen wir aber vor der Aufgabe, den Begriff des prophetischen Zeugnisses bei Jeremia neu zu fassen.

Eine theologische Betrachtung dieser Abschnitte hat von auszugeben, daß sie unmittelbar ex munere prophetico stammen, und damit muß anderseits die Feststellung werden, daß in ihnen die Seele, ja sein ganz einmaliges subjek-[274]tives Leben und Erleben im Mittelpunkt steht. So war es in 12,1-5 ein einzelnes Problem, meist aber sind es all die seeli­schen Konflikte, die durch seine Berufung ausgelöst sind. Und hier begegnen wir der ganzen Stufenleiter menschlich-seelischer Nöte: Angst vor Schande, Erschrecken über Mißerfolg, Ver­zagen an eigener Kraft, Zweifel an Glaubenssätzen, Verein­samung, Mitleid, Enttäuschung bis hin zum Haß gegen Gott. Da fehlt nichts von dem, was überhaupt in eines Menschen Herz kommen kann. Und das alles ist doch Leiden, Enttäuschung, Verzagen am Prophetenberuf. Sollte es da nicht erlaubt sein, Jeremia zunächst einmal einfach als Abschluß einer ge­schichtlichen Reihe prophetischer Gestalten zu verstehen? Ist in diesen Konfessionen das Prophetentum nicht wirklich in einem sehr wesentlichen Sinn an ein Ende gekommen? So wenig eine äußere prophetische Tradition von Amos bis Jeremia sichtbar ist, so sehr kann doch behauptet werden: In Jeremia ist auch Amos, Jesaja, Micha, Zephania, in ihm sind ihr Dienst und ihre Verantwortung, aber auch ihre stummen Leiden und Enttäu­schungen gegenwärtig als eine unsichtbare aber sehr wirkliche Erb­last. Darin aber ist er anders als alle seine Vorgänger, daß das Prophetenamt, das bei Amos noch aus einem Guß war, bei ihm an entscheidender Stelle bricht, und durch diesen Riß dringt eine lichtlose Finsternis ein. Und das ist nun klar: Um diesen Riß in seinem Prophetenamt kreisen alle seine Kon­fessionen.

Der Exeget ist hier nicht zu Werturteilen aufgerufen, sondern er muß einfach feststellen, daß der Prophet Jeremia mindestens ebenso wie mit seinen echten prophetischen Aufgaben, von denen wir hier ja nicht sprachen, von jenem Einbruch lichtloser Verzweiflung in sein Inneres in Anspruch genommen ist. Ja diese Verzweiflung wächst in seinen Konfessionen zusehends und mit ihr sehen wir ihn bis zur Erschöpfung beschäftigt. Es reicht nicht aus, wenn wir das eine Zersetzung des eigentlich Prophetischen durch subjektive Reflexionen nennen oder es als Ausfluß seiner individuellen seelischen Veranlagung verstehen. Hier ist mehr als subjektive Reflexion und individueller Temperamentsunterschied. Hier ist vielmehr die letzte Aussichtslosigkeit gerade des echten Prophetendienstes gesehen; aber sie ist nicht nur gesehen, sie ist als Leiden in das Leben Jeremias hereingebrochen [275] und wird nun vom Propheten getragen. Jesaja und Micha waren allein Verkünder der Gottesworte; mit Jeremia kündet sich ein Neues in dem Handeln Gottes durch Propheten an: Er dient Gott nicht nur mit der rücksichtslosen Verkündigung seines Mundes, nein, seine Person, sein Leben wird unversehens in die Sache Gottes auf Erden hineinverwickelt. So wird nun — das ist bei Jeremia ein Neues — der Prophet nicht nur kraft seines Charismas, sondern in seiner Menschlichkeit ein Zeuge Got­tes; aber nicht als der über die Sünde der Menschen triumphie­rende, nicht als der überwindende, sondern als der unter den Menschen zerbrechende Bote Gottes. Daher wird nun auch des Jeremias bios hier zeugniskräftig, seine leidende Seele und sein in Gottes Auftrag sich verblutendes Leben wird zum Hinweis auf Gott. Neben dem munus propheticum kündet sich das munus sacedotale an! Darum ist Jeremia nicht nur Ende einer Reihe, sondern auch ein Anfang, und mit ihm ist wirklich ein neues Kapitel in der Weissagung auf Jesus Christus aufgeschlagen[5].

Und noch eines! Die Jeremia vorausgehenden Propheten kön­nen gewiß auch theologisch mit Fug und Recht als Mittler­gestalten betrachtet werden. Aber Jeremia hat die Menschen, zwischen denen er vermittelt, nicht mehr nur wie ein Hosea oder Jesaja sich gegenüber. Hören wir recht in die Konfessionen hinein, in ihr Verzagen und ihre Empörung, so stoßen wir auf das Letzte: Jeremia hat als Mittler die Menschen nicht nur sich gegenüber, um von ihnen Leiden zu erdulden, nein, ihre ganze Not trägt er in sich; in seiner abgründigen Anfechtung sind sie gegenwärtig; und mit diesen Menschen, die er in sich trägt, muß Jeremia im Angesicht Gottes sterben, ja er stirbt mit ihnen viele Tode bis hin zu seinem letzten physischen Tod. Da ist kein „Dennoch“ mehr, kein tröstlicher Abschluß, kein letzter erlösender Sieg. Darum bezeugen Jeremias Konfessionen [276] die Strenge des göttlichen Zornes. Nichts wissen diese Selbst­zeugnisse von irgendwelcher sühnenden, erlösenden Kraft, die sei­nem Leiden innewohnte; und das ist wirklich nicht eine persön­liche Ahnungslosigkeit Jeremias über den Sinn seiner Leiden; gerade hier müssen wir uns peinlich vor jeder Überinterpretation hüten; ja, sein Widerstreben, seine Empörung und die schauer­liche Verfluchung am Ende zeigen deutlich die Grenze dieses seines Mittleramtes. Aber auch als der nicht „Vollkommene“ im Sinne des Hebräerbriefes und gerade als solcher ist Jeremia ein Hinweis auf den Kommenden und lehrt uns, das Mittleramt Christi in seiner Tiefe erkennen, was da geschildert ist an Leiden, die aus dem Mittleramt fließen — von dem Herausgenommen-sein aus der fröhlichen Gemeinschaft der Menschen, bis hin zu dem letzten Weg hinaus in die Nacht der Gottverlassenheit —, das ist Schatten und Vorbild eines künftigen, vollkommenen Mittlerdienstes.

Quelle: Evangelische Theologie 3 (1936), S. 265-276.


[1] Diese kleine Arbeit setzt bei einem Ergebnis der Gattungsforschung, speziell der Untersuchung Baumgartners über die „Klagegedichte Jeremias“ ein und möchte als Beispiel dafür gelten, wie eine theologische Interpretation anknüpfen kann und muß an „die Ergebnisse der kritischen Wissenschaft“. Diese Konfessionen waren dem Propheten als unecht abgesprochen, weil sie mit dem Bild, das man sich von einem Propheten machte, unvereinbar schienen. Baumgartner hat diese Behauptung schlechthin überzeugend zurückgewiesen. Nach dieser zunächst rein literar-kritischen Debatte ist nun aber eine neue Situation geschaffen, denn auf das Bild vom Propheten Jeremia ist, nachdem uns die Konfessionen fast als Fremdkörper ausgefallen sind, ohne daß sie ihm doch abgesprochen werden könnten, ein neues Licht gekommen. „Klagegedichte“ sind nun einmal in jeder Hinsicht verschieden von „prophetischen Gottessprüchen“. — So hat sich aber vieles im Verständnis der atl. Schriften in neuerer Zeit in mannigfacher Hinsicht für uns verschoben; vieles, manchmal für den Glauben scheinbar Unwesentliches, liegt erarbeitet da und harrt nun einer neuen theologischen Inangriffnahme.

[2] Baumgartner, a.a.O., S. 64.

[3] Volz, Der Prophet Jeremia 1935, S. 211.

[4] Vgl. G. Hölscher, Die Propheten, 1935, S. 399: „Die Voraussetzungen (der Konfessionen) sind keine anderen als die der meisten Klagepsalmen.“

[5] Hierher gehören auch die Barucherzählungen, die keine Biographie, sondern eine Leidensgeschichte sind. Was ließ diesen Mann denn zur Feder greifen, wenn nicht die Erkenntnis, daß Jeremia nicht nur durch seine Worte zum Zeugen wurde, sondern, daß auch diese langsam sich in Leiden und Verzweiflung abbiegende Lebenslinie ein Zeugnis in einem neuen prophetischen Sinn war. Freilich, es fehlt jede Märtyrerverherrlichung, aber auch jeder Gedanke an eine imitatio.

Hier der Text als pdf.

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