Martin Luthers Vorrede zu Assertio omnium articulorum (1520): „Die Schriften sind nur durch denjenigen Geist zu verstehen, in dem sie geschrieben worden sind. Dieser Geist kann nirgendwo gegenwärtiger und lebendiger gefunden werden als eben in seinen Heiligen Schriften, die er geschrieben hat.“

Wenn es um das sola scriptura in der Kirche geht, ist Martin Luthers Vorrede zu Assertio omnium articulorum maßgeblich:

Vorrede zu Assertio omnium articulorum Martini Lutheri per bullam Leonis X. novissimam damnat (Wahrheitsbekräftigung aller Artikel Martin Luthers, die von der jüngsten Bulle Leos X. verdammt worden sind, 1520)

Von Martin Luther

Obwohl ich in meinen früheren Schriften überreichlich Rechenschaft abgelegt habe von den Artikeln, die von der jüngsten Bulle Leos X. (wie man es entweder erdichtet oder in Umlauf gebracht hat) verdammt worden sind, und sie selbst, wer immer ihre Verfasser waren, über­haupt keine Begründung ihrer Verdammung geliefert haben, weil kein einziges Jota aus den Heiligen Schriften herangezogen wurde, sehe ich dennoch, dass allenthalben von vielen eine weitere und eigens dafür verfasste Erklärung über all dieses insgesamt und im Einzelnen ge­wünscht wird. Denn es ist vielleicht notwendig, jenen äußeren Glanz abzuziehen, durch den die mit dem Titel des römischen Pontifex und den Namen einiger anderer Doktoren ge­schmückte Bulle beim Volk einiges Ansehen finden könnte – [bei dem Volk] das getäuscht durch völlig nichtige Überredungskunst sofort glaubt, dass das, was immer im Namen des Papstes daherkommt, von Gott kommt, wo doch so viele gegenteilige Beispiele und tägliche Ungeheuerlichkeiten es vergeblich aufs Zuverlässigste bewegen [jene Selbsttäuschung aufzu­geben]. Manchen scheine ich auch mehr auf mein Selbstvertrauen als auf jene gewöhnliche Unbildung Rücksicht genommen zu haben, als ich, den Unverstand der Bulle unberücksichtigt lassend, unlängst einige wenige Artikel verteidigt habe, was jener [Bulle] erscheinen konnte, als sei es im Bewusstsein erschöpfter oder unfähiger Gelehrsamkeit geschehen.

Also gehe ich daran, erneut Resolutionen aufzuschreiben, indem ich ihren Wünschen folgen werde, und schaue nicht darauf, was mir, sondern was ihnen angemessen ist – möglicherweise nicht überflüssig, da es hier notwendig ist, die höchsten Geheimnisse des Glaubens und unse­rer Religion zu behandeln. Diese zu ignorieren ist ebenso gottlos, wie es höchst christlich ist, sie so zu kennen, dass du sie nicht nur bekennen, sondern auch verteidigen kannst. Dazu wer­de ich mir (wenn Christus beisteht) mit diesem Büchlein emsige Mühe geben. Denn zu die­sem Zeitpunkt, in dem die neueste und allerschädlichste Verfolgung seitens der sophistischen Tyrannei wütet, reicht es nicht, Christus zu kennen, sondern er muss auch, nachdem Ranzen und Tunika verkauft sind, um ein Schwert zu kaufen, mit ausgerüsteten Schutztruppen vertei­digt werden. Damit ich dies umso freier und glücklicher bewirke, scheint es richtig, den Fein­den zuvorzukommen und vorher anzuzeigen, auf welchem Feld, mit welchen Waffen und Feldzeichen ich mich mit ihnen messen will.

Zuerst will ich, dass sie wissen und dafür Zeugen sind, dass ich durch überhaupt keine Auto­rität irgendeines Heiligen Vaters genötigt werden will, es sei denn, insofern er durch das Urteil der Heiligen Schrift bestätigt wird. Das ist etwas, von dem ich weiß, dass jene es nur ungemein schwer ertragen werden. Sie werden nämlich spüren, dass sie auf diese Weise sofort beim ersten Zusammenstoß zu Boden stürzen werden, als solche nämlich, die sich bewusst sind, dass ihre Mühen nach Missachtung der Heiligen Schriften allein durch menschliche Autoren [gestützt] unbrauchbar geworden sind. Sie werden nun jenes von allen mündlich und schriftlich gebrauchte, aber nur von wenigen verstandene [Argument] beibringen, dass in den Kanones der Päpste gelehrt wird, die Heiligen Schriften seien nicht nach dem eigenen Geist auszulegen. In ganz verkehrtem Verständnis dieses Wortes sind sie dahin gelangt, dass sie gegen deren eigenen Sinn die Schriften nur noch nach ihrem eigenen Geist auslegen. Denn daher haben sie sich, nachdem die Heiligen Schriften beiseite gelegt worden sind, allein in die Kommentare von Menschen versenkt, nicht indem sie dasjenige suchen, was die Heiligen Schriften [meinen], sondern das, was jene über die Heiligen Schriften meinen, so weit, dass sie einem einzigen Menschen, dem römischen Papst, der nur von den ungelehrtesten Sophis­ten umgeben ist, allein das Recht zugestehen, die Heiligen Schriften auszulegen, der sich ohne alle Erkenntnis und Bildung das [Recht] dazu auch allein aus der Majestät seiner Macht und Erhabenheit nahm, indem sie fabulieren, die Kirche (das heißt, der Papst) könne im Glauben nicht irren. Deswegen wird es nützlich sein, über diese Sache einiges zusammenzutragen.

Erstens. Wenn es niemandem erlaubt ist, die Heiligen Schriften in seinem Geist auszulegen, warum beachten sie dann nicht, dass dies weder dem Augustinus noch irgendeinem anderen der Väter erlaubt war? Aber wer die Heiligen Schriften nach Augustinus und nicht vielmehr Augustinus nach den Heiligen Schriften versteht, versteht sie zweifellos nach dem Menschen und [damit] nach dem eigenen Geist. Wenn es aber nicht erlaubt sein kann, die Schriften nach dem eigenen Geist zu verstehen – um wie viel weniger kann es erlaubt sein, den Augustinus nach dem eigenen Geist zu verstehen: Wer kann uns nämlich gewiss machen, ob du den Au­gustinus richtig verstehst? Also muss es auch für Augustinus einen anderen Ausleger geben, damit uns nicht unser eigener Geist in dessen Büchern täuscht. Wenn dies so geschehen muss, muss es auch für den dritten einen vierten Ausleger geben und für den vierten einen fünften bis ins Unendliche, und es wird uns die Gefahr [der Auslegung] des eigenen Geistes zwingen, niemals irgendetwas zu lernen oder zu lesen, was sich ganz gewiss erfüllt hat, solange man zuerst, nachdem man die Heiligen Schriften missachtet hatte, allein über Augustinus schwitz­te, worauf, nachdem auch dies nicht verstanden und missachtet worden war, Thomas von Aquin regierte und diesem andere Ausleger ohne Ende gefolgt sind.

Der Irrtum ist also offensichtlich, dass uns mit diesem Wort: „Es ist nicht erlaubt, die Schrif­ten im eigenen Geiste zu verstehen“ befohlen wird, dass wir uns nach der Zurücksetzung der Heiligen Schriften auf die Kommentare von Menschen richten und ihnen glauben sollen. Die­se Einsicht, sage ich, hat uns zweifellos Satan selbst eingebrockt, indem er uns von unseren, das heißt, den Heiligen Schriften möglichst weit abgebracht und uns eine hoffnungslose Kenntnis der Schrift verschafft hat, obwohl es doch vielmehr so zu verstehen ist, dass die Schriften nur durch denjenigen Geist zu verstehen sind, in dem sie geschrieben worden sind. Dieser Geist kann nirgendwo gegenwärtiger und lebendiger gefunden werden als eben in seinen Heiligen Schriften, die er geschrieben hat. Man hätte sich also Mühe geben müssen, nicht dass wir uns nach dem Beiseitelegen der Heiligen Schriften allein auf die menschlichen Schriften der Väter richten, sondern im Gegenteil: Zuerst musste nach dem Beiseitelegen aller menschlicher Schriften umso mehr und umso nachhaltiger allein über den [Heiligen] Schriften geschwitzt werden, je gegenwärtiger die Gefahr ist, dass jemand sie im eigenen Geist versteht, so dass der Brauch eines beharrlichen Studiums uns schließlich – nach der Überwindung einer solchen Gefahr – des Geistes der Schrift gewiss machen würde, der überhaupt nicht gefunden wird, außer in der Schrift. Hier nämlich hat er seinen Schlupfwinkel errichtet, und in den Himmeln (das heißt Aposteln) sein Zelt. So auch Psalm 1: Darin wird ein Mann selig geprie­sen, dass er Tag und Nacht nicht über andere Bücher, sondern über das Gesetz des Herrn nachsinnt. Denn wenn er von hier den Geist geschöpft hat, wird jeder sich sein Urteil bilden – nicht nur über alle Schriften der Heiden, sondern auch der Heiligen Väter. Es steht nämlich geschrieben, dass das Gesicht des Mose verherrlicht worden ist durch die Gemeinschaft mit dem Wort des Herrn, gewiss nicht durch die Gemeinschaft mit dem Wort von Menschen, auch nicht der heiligsten, die es damals gab.

Außerdem – wenn wir glauben, dass die heilige katholische Kirche denselben Geist des Glau­bens hat, den sie an ihrem Anfang einmal empfangen hat, warum sollte es heute nicht erlaubt sein, entweder nur oder [zumindest] zuerst in den Heiligen Schriften zu studieren, wie es der ersten Kirche erlaubt war? Denn jene haben weder Augustinus noch Thomas gelesen. Oder sage mir, wenn du kannst, durch welches Urteil eine Frage abschließend beantwortet werden kann, wenn die Aussprüche der Väter einander Widerstreiten? Man muss nämlich hier mit der Schrift als Richter ein Urteil fällen, was [aber] nicht geschehen kann, wenn wir nicht der Schrift in allen Dingen, die den Vätern beigelegt werden, den ersten Rang einräumen. Das heißt, dass sie durch sich selbst ganz gewiss ist, ganz leicht zugänglich, ganz verständlich, ihr eigener Ausleger, alles von allen prüfend, richtend und erleuchtend, wie auch in Psalm 118 geschrieben steht: Die Offenbarung oder, wie das Hebräische es eigentlich sagt, „das Offene oder der Eingang deiner Worte erleuchtet und gibt Erkenntnis den Kleinen“. Hier verleiht der Geist ganz klar Erleuchtung und lehrt, dass Erkenntnis allein durch die Worte Gottes verlie­hen wird gleichwie durch eine Tür oder eine Öffnung oder ein erstes Prinzip (wie man sagt), von dem aus der anfangen muss, der zum Licht und zur Erkenntnis gelangen will. Wiederum [heißt es in Ps 118]: „Das Prinzip oder das Haupt deiner Worte ist Wahrheit.“ Du siehst, dass auch hier die Wahrheit nur dem Haupt der Worte Gottes zugesprochen wird. Das heißt, wenn du die Worte Gottes an erster Stelle gelernt hast, so wirst du von ihnen auch wie von einem ersten Prinzip zum Urteil über alle anderen Worte Gebrauch machen. Und was macht jener ganze Achtfüßler [anderes], als dass er uns, nachdem die Verkehrtheit unserer Mühe ver­dammt worden ist, zurückruft zur Quelle und lehrt, zuerst und allein müsse man sich mühen um die Worte Gottes, der Geist aber werde von selbst kommen und unseren Geist austreiben, damit wir ohne Gefahr Theologie betrieben? Dies ist gewiss wahr, dass die Heilige Schrift den Hoffärtigen und Gottlosen immer Gelegenheit zu größerer Blindheit bietet – aber welche menschlichen Schriften sind nicht auch den Hochmütigen Gelegenheit zu noch größerer Finsternis? Oder welche Sache, sei sie auch die beste, wirkt für die Stolzen und Unreinen nicht zum Bösen mit? Dass diese durch die Schriften Irrlehrer geworden sind, ist nicht verwunderlich, aber auch dass dieselben durch menschliche Schriften schlimmer als wilde Tiere werden, ist nichts Neues.

Also sollen die ersten Prinzipien der Christen nichts als die göttlichen Worte sein, aller Men­schen Worte aber daraus gezogene Schlussfolgerungen, die auch wieder darauf zurückgeführt und daran erwiesen werden müssen. Jene müssen zuerst vor allem für jeden das Allerbekann­teste sein, nicht aber dass sie durch Menschen erfragt und gelernt, sondern die Menschen durch sie beurteilt werden. Wenn das nicht so ist – warum beziehen sich Augustinus und die Heiligen Väter, so oft sie entweder streiten oder lehren, auf die Heiligen Schriften als die ersten Prinzipien der Wahrheit zurück und erhellen und bekräftigen ihr eigenes Dunkles oder Schwaches durch deren Licht und Kraft? Mit diesem Beispiel lehren sie ja, dass die göttlichen Worte klarer und gewisser sind als die aller Menschen, auch ihre eigenen Worte, so dass die [Schriften] nicht durch die Worte der Menschen, sondern die Worte der Menschen durch diese belehrt, erwiesen, erschlossen und bekräftigt werden müssen. Wenn sie nämlich diese nicht für klarer und gewisser hielten, würden sie sich in lächerlicher Weise herausnehmen, ihre dunklen durch [noch] dunklere Worte Gottes zu erweisen, obwohl auch ihr Aristoteles und alle Einsicht aus der Natur dies zeigen, dass Unbekanntes durch Bekannteres und Verborgenes durch Offenbares erläutert werden muss. Was also ist unsere so gottlose Verkehrtheit, dass wir die Heiligen Schriften nicht durch sich selbst und ihren eigenen Geist, sondern durch die Glossen der Menschen lernen wollen, im Unterschied zum Beispiel aller Väter, und uns auch noch in dieser Verkehrtheit rühmen als der gewissenhaftesten Frömmigkeit? Wenn wir das nämlich [wirklich] wollen, so sollten wir zugeben, dass die Heiligen Schriften dunkler und unbekannter sind als die Schriften der Väter: Sobald man dies aber eingestanden hat, werden wir weiter zugeben müssen, dass die Heiligen Väter mit ihren Kommentaren nichts anderes getan haben, als dass sie, wenn sie ihre Aussagen durch die Schriften erweisen, das Bekann­tere durch das Unbekanntere erweisen und damit so wie sich selbst auch uns auf erstaunliche Weise getäuscht und vollkommen vergeblich gearbeitet haben. Und es wird [schließlich so sein], dass wir mehr den Auslegern glauben als der sprechenden Schrift. Wer wäre so ver­rückt?

Welch große Irrtümer sind schon in den Schriften aller Väter gefunden worden? Wie oft widerstreiten sie sich selbst? Wie oft weichen sie voneinander ab? Wer hat nicht häufiger die Schriften verdreht? Wie oft disputiert Augustinus nur, ohne dass er etwas festlegt? Hierony­mus bekräftigt in seinen Kommentaren fast nichts als wahr. Mit welcher Sicherheit aber können wir uns auf jemanden stützen, der sich erwiesenermaßen häufiger geirrt hat, sich und anderen widersprochen, den Schriften Gewalt angetan und nichts als wahr bekräftigt hat, wenn wir nicht vermittels der Autorität der Schrift all ihre [Gedanken] mit treffsicherem Urteil lesen? Niemand hat eine mit der Schrift gleichwertige Stellung erlangt – was er aber auch gar nicht durfte obwohl die Alten ihr näher kamen, weil sie in den Schriften sorgfältiger waren. Niemand soll mir also die Autorität des Papstes oder irgendeines Heiligen entgegen­halten, es sei denn, sie ist durch die Schriften untermauert. Und er soll auch nicht gleich schreien, ich als Einziger wolle allen gegenüber gelehrter erscheinen und die Schriften nach meinem eigenen Geist verstehen. Denn das sind nicht die lauten Stimmen derer, welche die Wahrheit Gottes suchen, sondern ihre eigene Eitelkeit – oder er soll den Autoren anführen, von dem feststeht, dass er niemals geirrt, die Schriften verdreht, anderen und sich selbst widersprochen und gezweifelt hat. Ich will nämlich nicht gelehrter erscheinen [als alle ande­ren], sondern will, dass allein die Schrift regiert und diese nicht nach meinem eigenen Geist oder dem [Geist] irgendwelcher Menschen ausgelegt, sondern durch sich selbst und ihren eigenen Geist verstanden wird.

In dieser Sache scheinen sie nicht rechtmäßig ihre Stimme zu erheben. Dafür habe ich als besonders klares Beispiel das des Augustinus, den ich schon häufiger herangezogen habe. Und weil sie an ihm tauben Ohres vorübergehen, muss ich [die Stelle] noch öfter einschärfen, wo er in einem Brief an den Heiligen Hieronymus sagt: „Ich habe gelernt, allein diesen Bü­chern, welche die kanonischen heißen, Ehre zu erweisen, so dass ich fest glaube, dass keiner ihrer Schreiber sich geirrt hat. Andere aber, wie viel sie auch immer nach Heiligkeit und Gelehrtheit vermögen, lese ich so, dass ich es nicht darum als wahr glaube, weil sie selbst so denken, sondern nur insofern sie mich durch die kanonischen Schriften oder einen annehmba­ren Grund überzeugen konnten.“ Warum beschuldigen sie nun nicht auch diesen Augustinus der Arroganz? Dieser wagt geradezu alle Ausleger der Schrift auf einmal zu verachten, soweit sie ihn nicht durch die Schriften und gute Gründe überzeugen, und er lehrt uns im dritten Buch seines [Werkes] ‚De Trinitate‘, dasselbe zu tun, indem er sagt: „Du sollst nicht meinen Schriften wie kanonischen ergeben sein“ usw. Und Hilarius, ja einer der vorzüglichsten unter den Vätern, sagt im ersten Buch seines [Werkes] ‚De Trinitate‘: „Der beste Ausleger ist der­jenige, der den Sinn aus der Schrift vielmehr heraus- als hineingetragen hat und der nicht er­zwingt, dasjenige in den Worten als Inhalt anzusehen, was er sich vor ihrem Verständnis zu lehren vorgenommen hat.“ Sich doch, dieser hervorragende Autor will aus den Schriften Erkenntnis heraustragen und sie nicht in die Schriften eintragen. Nicht also heißt dies, die Weisheit ans Licht zu bringen (wessen sie sich rühmen), viele Aussprüche der Väter zusam­menzutragen und auf Grund dieser das Verständnis der Schrift vorwegzunehmen, sondern auf Grund des aus der Schrift durch Verständnis Gewonnenen und durch den Vergleich mit ihr allein ans Licht Gebrachten deren Aussagen zu beurteilen. So bewegte auch die Selige Jung­frau alle Worte in ihrem Herzen.

Wenn Augustinus und Hilarius und andere nicht gelehrt hätten, dass wir dies wagen sollen und dazu verpflichtet sind – haben wir denn nicht Paulus, der zu den Thessalonichern sagt: „Prüft alles, und was gut ist, behaltet“. Und Gal 1: „Wenn jemand ein anderes Evangelium verkündigt als das, das ihr empfangen habt – verflucht sei er!“? Und l Joh 4: „Prüfet die Geis­ter, ob sie von Gott sind“? Diese ganz gewiss apostolischen Mahnungen müssen alle verachtet werden, wenn beliebige Aussprüche der Väter ohne Urteil zugelassen werden müs­sen – ich sage, [ohne] Urteil des Geistes, das er in keinen außer den Heiligen Schriften eingeschlossen und enthalten haben wollte.

Aber damit ich es ausführlicher sage, worüber sie sich verwundern: Wir lesen in Apostelge­schichte 17, dass diejenigen, die mit ganzem Verlangen das Wort des Paulus gehört hatten, täglich die Schriften durchforschten, ob es sich so verhielte. Wenn also das Evangelium des Paulus oder das Neue Testament durch die alte Schrift erwiesen werden musste, ob es sich so verhält – [Paulus] der doch gleichwie ein Apostel die ihm von Gott verliehene Autorität hatte, damit seinem Wort geglaubt würde – was tun wir, die wir nicht wollen, dass die Aussprüche der Väter, von denen niemand die Macht hatte, etwas Neues zu lehren, sondern nur das durch die Apostel Empfangene zu bewahren, dem Urteil der Schrift ausgesetzt werden? Schließlich, nicht nur Paulus selbst erweist alle seine Worte durch das Alte Testament, wie wir in seinen Briefen reichlich sehen, bis dahin, dass er in der Vorrede des Römerbriefes bezeugt, sein Evangelium sei in den Heiligen Schriften durch die Propheten vorhergesagt. Sondern auch Petrus und alle Apostel, auch die in Apostelgeschichte 15 zum Konzil Versammelten, bewei­sen ihre Worte durch die Schriften, ja sogar Christus selbst, der Herr von allen, wollte durch das Zeugnis des Johannes erwiesen und durch die Stimme des Vaters vom Himmel her bestä­tigt werden – trotzdem begründet er seine Worte zudem sehr häufig durch Zeugnisse der Schrift und gebietet auch den Juden, die Schriften zu erforschen, die von ihm Zeugnis able­gen.

Wunderlich ist also unsere Verkehrtheit, dass wir mit anderen Zeugnissen als denen der Schrift unsere [Worte] erweisen wollen, während Christus und alle Apostel ihre [Worte] in den Schriften bezeugt wissen wollen, ja, wodurch der Irrsinn noch unerträglicher wird: Die Schriften, aus denen wir Zeugnisse für unsere Ansichten heranziehen müssen, wollen wir durch Zeugnisse von Menschen erweisen und sichern. Ist das etwas anderes, als mit Mensch­lichem Göttliches formen und ans Licht bringen zu wollen? Bedeutet dies nicht, das Schwert des Geistes, mit dem wir uns verteidigen müssen, zu schützen, indem wir unseres Armes Fleisch dagegenhalten? Trotzdem will ich hiermit den Heiligen Vätern nicht ihre Autorität entziehen und ihnen Undankbarkeit für ihre heiligen Arbeiten erweisen, sondern dass die Freiheit des Geistes und die Majestät des Wortes Gottes ihnen vorgezogen wird. Sie mögen heilige Männer und Väter der Kirchen sein, aber sie sind Menschen und den Aposteln und den Propheten ungleich und deren Autorität nicht vorgezogen noch gleichgestellt, sondern unter­geordnet, wie nicht sie diese belehrt oder erleuchtet haben, sondern sie selbst von diesen belehrt und erleuchtet worden sind: Sie sollen uns nur zum Vorbild dienen, dass, wie sie zu ihrer Zeit am Worte Gottes gearbeitet haben, so auch wir in unserem Jahrhundert an demsel­ben arbeiten. Es ist ein Weinberg, aber verschiedene Arbeiter zu verschiedenen Stunden. Alle arbeiten aber in demselben Weinberg, nicht an den Hacken oder Winzermessern der Arbeiter. Es ist genug, von den Vätern den Eifer und die Sorgfalt bei der Arbeit an den Schriften gelernt zu haben: Nicht jedes ihrer Werke muss gebilligt werden, zumal sogar die Sorgfalt mehreren [Menschen] zuweilen das nicht gibt, was ein günstiger Augenblick oder ich weiß nicht wel­cher unfassbare Anstoß des Geistes einem [einzigen Menschen] gibt.

So wollen wir daher nach dem Beispiel des Heiligen Bernhard, wenn wir dies vermöchten, eher aus der Quelle selbst als aus den Bächen trinken: So bekennt er nämlich von sich, wes­wegen er nicht selten den Heiligen Vätern zu widersprechen wagte. Andernfalls, wenn den Bischöfen oder Gelehrten allein zu vertrauen ist und sie nicht vor den Gerichtshof der Schrift zu rufen sind – warum verwerfen wir nicht die Heiligen Schriften als überflüssig und zu dun­kel, als dass wir ihnen folgen könnten? Nach demselben Beispiel sollten wir endlich auch die Heiligen Väter beiseite legen, nachdem an ihrer Stelle die (wie sie sich brüsten) verständ­li­cheren scholastischen Theologen angenommen worden sind, bis wir, nachdem auch diese ver­worfen sind, den Aristoteles und [andere] – je weiter einer von den Heiligen Schriften und den Heiligen Vätern entfernt ist – als Führer haben. So haben wir es in Wahrheit gehalten und hal­ten es [immer noch]. Dann wird es tatsächlich so sein, dass wir die Heiligen Schriften nicht allein aus ihrem eigenen Geist nicht auslegen, sondern nichts als [unseren] eigenen Geist üb­rig behalten, während die Schriften gänzlich unbekannt sind und wir nur durch die Verwir­rungen und Sturmwinde unserer Meinungen ohne Ende herumgetrieben werden – wie es auch heutzutage geschieht. Dagegen wollte ich hiermit Protest einlegen, damit nicht diejenigen, die – bepackt mit irgendwelchen Aussprüchen der Heiligen Väter – den Sieg für sich beanspru­chen in der Meinung, dass sie irgendetwas vollbracht hätten, wenn sie gezeigt hätten, ich stün­de irgendeinem einzigen Wort nur eines einzigen Kirchenvaters als Gegner gegenüber, weil ich mich bisher immer gegen die scholastischen Lehrer auf die [alt]kirchlichen berufen hätte. Denn ich habe mich nicht so auf sie berufen, dass ich alles von ihnen als wahr erachtet hätte, sondern weil sie sich der Wahrheit näher fühlen als die Scholastiker, die beinahe nichts an Wahrem übrig behalten haben, damit wir unter der Führung der Flüsse allmählich zur Quelle selbst kämen. Denn Augustinus, den ich immer herangezogen habe, verbietet, die Schriften irgendeines der Ausleger, wie heilig auch immer er gewesen sein mag, den Schriften der Apostel und Propheten gleichzustellen, was auch der allgemeine Menschenverstand verbietet.

Übersetzung: Sibylle Rolf

Quelle: Martin Luther: Lateinisch-Deutsche Studienausgabe Band 1: Der Mensch vor Gott, hrsg. v. Wilfried Härle, Leipzig, Evangelische Verlagsanstalt, 2006, S. 75-89.

Hier der Text als pdf.

Hinterlasse einen Kommentar