Man tut sich schwer als Europäer, unter dem Leitbegriff der Religion außereuropäische Kulturen sachgemäß zu verstehen. Ennio Mantovani, langjähriger Mitarbeiter am Melanesian Institute for Pastoral and Socio-Cultural Services in Goroka (PNG), ist dies jedoch mit seinem Artikel über ozeanische Religionen im Lexikon der Religionen gelungen, wenn er von biokosmischen Religionsformen spricht :
Traditionelle Religionen IV. Ozeanien
Von Ennio Mantovani
Die Religionen des geographischen Gebietes, das Polynesien, Mikronesien und Melanesien umfaßt, sind gekennzeichnet durch eine große Vielfalt, die eine Beschreibung derselben beinahe unmöglich macht. Stellt man hingegen die verschiedenen Religionen in einem Diagramm dar, ergibt sich, daß die vertikale Achse stellvertretend für verschiedene Formen des Theismus steht, die horizontale unterschiedliche biokosmische Religionsformen vertritt. Unter biokosmischer Religion ist eine religiöse Erfahrung zu verstehen, in der das „Letzte“ als „Leben“, als Quelle von allem was Wert hat, erfahren wird. Jeder und jedes nimmt in verschiedenen Graden Anteil an diesem „Leben“, und diese verschiedenen Grade der Anteilnahme bestimmen den Wert, die Bedeutung und die Macht von allem, was ist.
Im allgemein scheint in polynesischen Kulturen, in denen die ererbte Macht der Stammesführer die Gesellschaft gestaltet, der Polytheismus vorzuherrschen, hingegen tritt in egalitären melanesischen Gesellschaftssystemen der biokosmisch-religiöse Anteil verstärkt in Erscheinung.
Am ehesten beschreibt man die verschiedenen Religionen Ozeaniens aufgrund einiger, all diesen Religionen mehr oder weniger gemeinsamer Aspekte.
1. In den Religionen Ozeaniens wird unter Leben die Wirklichkeit verstanden, die wirkungsvoll positiv sich ausdrückt in Gesundheit, Reichtum, Ansehen, Erfolg, Lebenssinn, guten Beziehungen usw. Leben gehört aber nicht allein zur biologischen, insbesondere menschlichen Existenz. Es kann in einer umfassenderen Bedeutung und einem tieferen Sinn eine Daseinsweise ohne „lebendiges Leben“ geben. In den Mythen wird oft von einer Zeit gesprochen, in der dieses „Leben“ nicht gegenwärtig war. Das „Leben“ kann zunehmen und abnehmen, die Menschen können es nicht erschaffen, nur auf es aufpassen, es am Dahinschwinden hindern. Die Quelle des „Lebens“ ist somit nicht menschliches Werk oder Errungenschaft, sondern – wie in vielen anderen Kulturen – der gewaltsame Tod und das Begräbnis eines vorzeitlichen Wesens. Solch ein Wesen wird Dema genannt – ein Ausdruck, der von den Marind Anim an der Westküste Irian Jayas stammt. Die Menschen aber können das lebengebende Ereignis durch ein vorgeschriebenes Ritual – gewöhnlich durch das Opfern eines Tieres (Schwein) oder sogar eines Menschen – gegenwärtig machen. Dieses Ritual wurde, selbst in den Mythos hineingestellt, in einer Zeit, die außerhalb der Erinnerung liegt, herabgereicht. Wenn Menschen das, was der Dema am Anfang tat, sich vergegenwärtigen, nehmen sie zusammen mit dem gesamten Kosmos Anteil an diesem „Leben“. Das „Leben“ muß durch gute Beziehungen immer wieder erneuert werden. Gebrochene Beziehungen sind wie verstopfte Kanäle: kein „Leben“ kann hindurchfließen. Durch Verbesserung oder Wiederherstellung einer Beziehung kann „Leben“ wieder ungehemmt fließen. Um aber eine Beziehung wiederherzustellen, zu erhalten oder zu erneuern, ist gegenseitiger Austausch von sicht- und greifbaren Gaben nötig. Oft wurde dieser Austausch, der sich mit den Ahnen und Geistern vollzieht, als „Opfer“ bezeichnet, obwohl es sich hier lediglich um einen Austausch sozialer Art handelt.
2. Vielen Religionen Ozeaniens liegt eine Erfahrung von kosmischer Beziehung zugrunde, die zwischen allen Bereichen des Universums, Mensch, Tier, Pflanze und stofflicher Welt besteht. Dabei wird das Universum verstanden als ein System kommunikativer Gefäße: falls ein Gefäß mit Wasser gefüllt wird, füllen sich die anderen ebenso. Die Form der Gefäße hat dabei keinen Einfluß auf den Stand des Wassers in ihnen. In gleicher Weise unterscheiden sich Menschen von Tieren und Pflanzen; zugleich aber beeinflußt eine Zunahme an Leben im menschlichen Bereich die Fülle an Leben in anderen Bereichen des Universums. Diese kosmische Sicht macht die Religion zu einem festen Bestandteil aller Teilaspekte des Lebens; sie liefert die Grundanschauung und Hauptquelle für Wissen und macht die technische Erklärung gegenüber den religiöse sekundär. Die Religionen Ozeaniens sind aber nicht an abstrakter Wahrheit, sondern an der Wirksamkeit interessiert, d. h., die religiöse Frage ist nicht die nach theoretischer Wahrheit, sondern nach dem Wohlsein, Wohlbefinden. Die Praxis bestimmt die Gültigkeit des Wissens, da nur in und durch die Praxis die Wirksamkeit einer religiösen Wahrheit geprüft werden kann.
3. Die Religionen Ozeaniens sind auf den Stammesverband, den Klan, fixiert und begrenzt. „Leben“ und Kosmos sind begrenzt auf „Leben“ und Kosmos des eigenen Klans. Was außerhalb des Klans ist, hat eine periphere oder keine Bedeutung. Die Riten kosmischer Erneuerung erneuern ausschließlich die Lebenswelt des eigenen Klans.
4. Eine zentrale Stellung innerhalb des biokosmischen Religionssystems kommt den Ritualen zu. Sie sind keine menschlichen Erfindungen. Sie beruhen auf vorgegebenen, empfangenen Regeln, denen Gehorsam zu leisten ist. Der Vollzug ist keine magische Handlung, sondern Ausdruck wahrer Religion.
5. Weil „Leben“ zentral und Religion eine Suche nach „Leben“ ist und diese die Gestalt von Ritualen annehmen muß, halten die Religionen Ozeaniens Ausschau nach immer effizienteren Ritualen. Die gegebenen Rituale sind nicht statisch, sondern offen für Veränderung und Wechsel. Von Generation zu Generation werden Rituale weitergereicht, aber hier liegt das Problem: Die Menschen vergessen, das Gehörte wird nicht mehr vernommen, das Überkommene nicht korrekt tradiert, mit dem Ergebnis, daß die Riten nicht mehr mit der Norm übereinstimmen. Sie werden zu Menschenwerk und zeugen nicht mehr vom Gehorsam gegenüber der vorgegebenen Ordnung. Eigentlich ändern sich die Religionen Ozeaniens nicht in ihrer grundsätzlichen Haltung, in der Suche nach „Leben“, sondern nur in den Ritualen, in der Art und Weise, dieses „Leben“ zu erlangen. Das Motiv für Veränderung ist empirische Einsicht. Wenn man sieht, daß ein Ritual nicht wirksam ist, muß es folglich falsch sein und ein neues Ritual, das mit den gegebenen Regeln übereinstimmt, gefunden werden. Anders gesagt: Alte Rituale, die sich als wirkungslos erwiesen haben, werden durch neue, wirkungsvollere ersetzt.
Diese Situation der Fortsetzung grundsätzlicher Glaubenshaltungen bei ständigem Wechsel von Ritualen bietet aber die Möglichkeit, daß Menschen ihrer traditionellen Religion treu bleiben und gleichzeitig mit gutem Gewissen christliche Praxis folgen; Lesen der Bibel, Gebet, Sakramente und Liturgie können neue Rituale der alten Religion sein.
6. Ritual ist der „offenbarte“ Weg von Handlung. Die Mythen erzählen uns, daß die Person, die Wissen erwarb, dieses oft geheim hielt. Geheimnis und Wissen bezeichnen dieselbe Wirklichkeit, allerdings von je verschiedenen Standpunkten aus. Es ist allgemeinmenschliche Erfahrung, daß Menschen Erfolg haben, weil sie etwas wissen, das sie nicht mit anderen teilen. Selbst wenn sie zu teilen vorgeben, ist dies oft nicht wahr, weil der Erfolg den angewandten Mitteln nicht unmittelbar folgt. Deshalb wird das Geheimnis zur Bezeichnung für wirksames Wissen, während nicht-geheimes Wissen zur Bezeichnung für fast nutzloses Wissen wird. Ein Geheimnis muß daher, um machtvoll zu sein, ein Geheimnis bleiben. Ein Geheimnis zu enthüllen heißt, es seiner Wirkmächtigkeit zu berauben.
Zieht man die auf den Klan beschränkte Einstellung traditioneller Religionen in Betracht, ist zu verstehen, daß man aus Sorge um den eigenen Klan Wissen nicht anderen Klans weitergeben kann, da sie immer potentielle Feinde sind. Das Geheimnis wird somit zum Ausdruck von Klanismus, von Nicht-Vertrauen, von Mangel an Interesse an anderen.
7. Ahnen spielen in den Religionen Ozeaniens eine sehr bedeutende Rolle. Soziologisch gesehen besteht eine Gemeinschaft aus Lebenden und Toten. Gute Beziehungen zu den Verstorbenen sind wichtig, um „Leben“ zu erhalten, nicht weil sie tot sind, sondern weil sie Mitglieder der Gemeinschaft sind. Wird eine gebrochene Beziehung zu den Ahnen vermutet, muß der grundlegende Zustand guter Beziehungen wiederhergestellt werden. Das Opfer, das den Ahnen dargebracht wird, charakterisiert diese nicht als Götter, ist vielmehr Ausdruck ungestörter Beziehungen innerhalb des biokosmischen Systems. Die Stammesältesten sind diejenigen, die das Wissen und die Geheimnisse besitzen, bewahren und weiterreichen. Träger dieser Macht bzw. dieses Wissens bleiben auch die verstorbenen Ältesten, die ebenso wie große Männer und Stammesführer idealisiert werden. Die Kommunikation mit ihnen bedeutet Anteilnahme an ihrem Wissen. Mit „Religion“ hat dies alles wenig zu tun. Man erwartet von den Mitgliedern einer Gemeinschaft, daß sie so handeln.
8. Ein weiterer bedeutender Aspekt vieler Religionen Ozeaniens sind die sog. Geister, von denen es viele verschiedene Kategorien gibt, zum einen die Gruppe solcher Wesen, wie z. B. die Anutu, die man als Höchste Wesen oder Schöpfergötter bezeichnen könnte, sodann die Kategorie der Himmelswesen, wie z. B. die der Engas. Es gibt zudem die Gruppe der Kulturheroen, Wesen, die am Anfang der gegenwärtigen Zeit die Welt gestalteten und den Menschen ihre Kulturgüter gaben, ferner die Kategorie der Dema, Wesen, die durch ihren gewaltsamen Tod die Grundnahrungsmittel oder andere entscheidende Kulturgüter, wie Zuckerrohr, Schweine u.a., hervorbrachten. Schließlich sind die Ahnen- und Waldgeister zu nennen.
Fragt man nach der Bedeutung der Geister, so muß man von der kosmischen Sicht der Religionen Ozeaniens ausgehen. Die grundsätzliche Erfahrung ist die der wechselseitigen Bezogenheit aller kosmischen Erscheinungen. Die wechselseitige Beziehung zwischen Mensch und Natur ist symbolisiert und ausgedrückt durch den Begriff Geister. Geister sind wirklich, wenn auch nicht in der Weise westlichen Denkens. Sie sind Symbole für wirkliche wechselseitige Abhängigkeiten und Beziehungen und müssen innerhalb dieses Zusammenhangs verstanden werden. Sie sind nicht Geschöpfe wie Menschen und Tiere, sondern reine Beziehung. Die wechselseitige Abhängigkeit ist sehr real. Da der Mensch des Westens meint, man rede über Geschöpfe, nicht über Beziehungen, kam es zu dem Mißverständnis, das seinen Ausdruck im Begriff Animismus fand. Dieser wird zur Beschreibung vieler Religionen Ozeaniens verwendet. Animismus ist jedoch nicht Reflexion und Beschreibung des ozeanisch-religiöse Systems, sondern eine Aussage über ein Mißverständnis westlichen Denkens und sollte daher ebenso fallengelassen werden wie der Ausdruck „primitiv“ als Bezeichnung für urspr. Religionen (engl.: primitive, jetzt: primal).
9. Aus alldem erhellt die Bedeutung guter Beziehungen und die Funktion des Austausches in der Errichtung und Wiederherstellung dieser Beziehungen. Die auf Austausch basierende wechselseitige Bezogenheit ist wesentlicher Bestandteil der Religionen Ozeaniens. Menschen erwarten etwas von jedem Wesen, mit dem sie in Beziehung treten, sei es der Nachbar, ein Geist oder der christl. Gott. Eine Beziehung, die nicht erfahrbar durch einen Austausch ausgedrückt ist, existiert nicht. Man erwartet, daß sich die religiöse Seinseinheiten auch materiell in gleicher Weise verhalten. Für die Frage, die durch die Gabe angestrebt und ausgedrückt wird, gilt, daß auf der Ebene der Realität der materiellen Gabe mehr Bedeutung beigemessen wird, auf der ideellen Ebene aber die Beziehung im Zentrum steht.
Lit.: H. Nevermann, Die Religionen der Südsee: ders. u.a., Die Religionen der Südsee und Australiens. Stuttgart 1968, 1-123.
Quelle: Hans Waldenfels (Hg.), Lexikon der Religionen. Phänomene – Geschichte – Ideen (Freiburg: Herder 1987), 674-676.