Josef Rast über Reinhold Schneider: „Die Krankheit hatte er immer als Ansporn des Fragens nach dem Wesentlichen gewertet und als Anteil an Christi Leiden angenommen.“

Reinhold Schneider

Von Josef Rast

Reinhold Schneider, geboren am 13, Mai 1903 in Baden-Baden. Realschule, Abi­tur 1921, landwirtschaftlicher Volontär, 1922-28 kaufmännischer Angestellter in Dresden. Studiert als Autodidakt Geschichte, Weltliteratur, Philosophie. 1929-39 Schriften über Mächte und Schicksale europäischer Geschichte, Reisen nach Spanien, Italien, Sizilien, Frankreich, Eng­land, Holland, 1933-37 Wohnsitz in Potsdam, ab 1938 in Freiburg i. Br. Während des Krieges im geistigen Widerstand tätig: Essays, Abhandlungen, Trostschriften, 1945 verfolgt, nach dem Krieg autobiographische Schriften, Erzählungen, Vorträge. Akademische Ehrungen und Prei­se. 1957/58 in Wien. Gestorben am 6. April 1958 in Freiburg i. Br.

Hauptschriften: Das Leiden des Camoes (1930); Philipp II (1931); Innozenz III (1931/60); Das Erdbeben (1932); Die Hohenzollern (1933); Das Inselreich (1936); Las Casas vor Karl V. (1937); Macht und Gnade (1940); Das Gottesreich in der Zeit (1944); Der große Verzicht (1950); Der Traum des Eroberers (1951); Aus­gewählte Werke, 4 Bde. (1953); Die Sonette (1954); Erbe und Freiheit (1955); Verhüllter Tag (1954); Der Balkon (1956); Winter in Wien (1958); Pfeiler im Strom (1958); Gelebtes Wort (1961); Erfüllte Einsamkeit (1963); Begeg­nung und Bekenntnis (1963).

Um der Wahrhaftigkeit willen sei es besser, mit einer brennenden Frage auf dem Herzen zu sterben als mit einem nicht mehr ganz ehrlichen Glau­ben, schrieb Reinhold Schneider kurz vor seinem Tode. Und so ist es auch geschehen. In den letzten Monaten seines Lebens wurde er von denselben Fragen bedrängt wie in seiner Jugend. Das überraschte ihn nicht; denn er hatte sich auf seinem Lebensweg als „wissende Frage“ erfahren, so „daß es mich beruhigt, dort wieder anzulangen, wo ich in Jünglingsjahren war“. Damals fragte er nach dem Sinn des Daseins, und er wurde zu Christus hingezogen. Gottes Willen zu erkennen, war der Sinn sei­nes Forschens, Gottes Antwort zu vernehmen, Inhalt seines Denkens. Er wollte unab­dingbar aus dem Wort Gottes leben: „Ich suche die Richtung auf die totale Existenz, die freilich eine angreifende Sache ist.“ Sie wird als ein „Stehen im Unmöglichen, als Überforderung und Vergewaltigung“ erfahren. Die Personalen Leistungen Einzelner müssen jedoch die vernich­tenden Tenden­zen im Lebenszusammenhang immer wieder aufheben; deshalb bezeichnete sich Reinhold Schneider selbst als extreme Existenz: „Extreme Existen­zen tun Not.“ Seine Werke bezeichnen seinen Weg, sein Ringen und die Entwicklung. Als seine Lebenskraft auf­gebraucht, sein Auftrag erfüllt, seine Leistung vollbracht waren, blieben seine Fragen unbe­antwortet. Die innere Stimme schwieg.

Nun lastete auf ihm das ganze Gewicht der tragischen Existenz. Daß das Ich erst ertragbar wird, „wenn es eingewoben ist in die Geschichte: den geheimnisvollen Ablauf einer Entfal­tung, die am Irdischen nicht gemessen werden kann“, wußte Reinhold Schneider seit langem; aber auch, daß eine solche „Vollendung der Person im Auftrag“ das persönliche Leben kostet. Die letzte Prüfung geschieht dann, wenn jede Wissensgewißheit entzogen wird, wenn die schweren Lebensentscheidungen und die Leistungen und Verdienste im Dasein vergeblich erscheinen, wenn man feststellen muß: „der Zweifel ernährt den Glauben; der Glaube den Zweifel.“ Schneider sagte aber auch, daß die Vernunft den Glauben keineswegs zerstöre. Viel ernster zu nehmen sei die Krankheit, der Schmerz, der ihn vernichte. Die Krankheit hatte er immer als Ansporn des Fragens nach dem Wesentlichen gewertet und als Anteil an Christi Leiden angenommen. Am Ende aber wurde auch sie zur Versuchung. Er geriet in eine verwir­rende Auseinander­setzung mit Gott, als er seinen Zustand mit demjenigen der Zeit identifi­zierte. „Wir sind dort, wo Geschichte, wo gläubige Existenz in der Ge­schichte ad absurdum geführt werden.“ Eine neue Generation könnte erst­mals dort beginnen, wo bisher alle endeten: „mit des großen Glaubens großer Enttäuschung“. Dennoch wurde der tragischen Existenz die Spitze gebrochen durch die Hingabe der letzten Eigenwilligkeit. Er verharrte im Willen zum Glauben und im Gebet: „Es ist der Eingang in Jesu Christi kosmische und geschichtliche Ver­lassenheit, vielleicht sogar ein Anteil an ihr.“ Darum lautet die eigentliche existentielle Frage am Ende: „Ist die Er­fahrung aus der Verzweiflung an Kosmos und Geschichte, die Verzweif­lung vor dem Kreuz, das Christentum heute?“ Man müsse Ja sagen und beten. In diesem Müs­sen allein noch ahnte er die Präsenz der Gnade. Sol­cher Gehorsam in der Nacht gläubigen Bewußtseins war seine größte Tat.

Verständlicher wird sein Weg, wenn wir Schneider nicht nur als extreme und tragische, son­dern auch als prophetische Existenz begreifen. Weil er menschliches Wissen im Widerspruch erlebte, der Glaube ihn aber immer wieder vor das Kreuz stellte, gehorchte er offensichtlich einem höheren Willen. Er hat einen prophetischen Auftrag erfüllt: „Ich tue, was ich muß. Ich weiß nicht, was ich morgen tun werde … das Spiel ist in Wahrheit ernst, das heißt nicht in irdischer Perspektive.“ Einer seiner letzten Auf­sätze behandelt „Jeremia, Prophetie in der Zeit“. Wie Jeremia erkennt er sich als Werkzeug, er muß Gewalt an sich geschehen lassen; verkünden, was seinem Fleische widerstrebt. Gottes Wort ist an ihm geschehen, das heißt gegen ihn selbst: „sagen, daß kommen muß, was nach unseres Her­zens Herz nicht kommen sollte: das war das Joch, das Gott dem Prophe­ten um den Nacken gelegt… Gottes Nein und Ja, beide in ihrem Todes- ernst von demselben Gemüt empfangen, beide als Gebot entgegenge­nom­men und im Wort vollzogen, sind fast vernichtender Widerspruch.“ Trotz der Härte sei­nes Auftrags war er kein blinder Eiferer. Er stand in der christlichen Freiheit, Liebe und Lei­densbereitschaft. Deshalb blieben ihm fern: Fanatismus, Unduldsamkeit und hartherziges Richten. Zutreffend spricht Werner Bergengruen von der immer wieder aufleuchtenden Hei­ter­keit: „Er hatte manches von einem Asketen, nichts von einem Zeloten. Zwar konnte er sich empören, aber es war in ihm etwas wie ein Abschein Gottes, der haßlos richtet… er hatte jene so seltene Art der Toleranz, die nicht auf der Indifferenz basiert.“ —

Zwei existentielle Einbrüche haben Reinhold Schneiders Leben bestimmt; der eine in der Jugend, der andere einige Jahre vor seinem Tod. Voraus­gegeben, als „Fatalität der Geburt“, waren die Schwermut, die Existenz­angst und der Hang zur Einsamkeit. Als Sohn eines Hoteliers empfing er die ersten Eindrücke einer hierarchisch gefügten, feudalen Welt. Alles schien wohlhabend, sicher und von dauerndem Bestand. Reinhold wurde katholisch erzogen, jedoch in liberalem Geiste. Er besuchte eine Privat­schule und dann die Realklassen. Die patriotischen Exzesse des Jahres 1914 und die folgende Katastrophe erschütterten ihn bis in den tiefsten Seelen­grund. Es erfüllte ihn unstillbare Trauer um die Welt: „Hatte ich doch keinen echten Glauben; die Naturwissenschaften, die deutsche Philosophie, auch die deutsche Dichtung zerstörten ihn. Vor meinen Augen vollzog sich der Verfall der bürgerlichen Ord­nung, der Familie überhaupt.“ Dann In­flation, Verlust des Hotels, Tod des schwermütigen Vaters. „Ich litt un­säglich am Dasein, die Angst vor dem Leben verließ mich nicht.“ Er zog sich zurück. Als Praktikant in der Landwirtschaft versagte er. Im Kontor einer Dresdener Druckerei wurde er vom Ekel über den geistlosen Betrieb erfaßt. Nachts begann er zu leben, wenn er sich der Lektüre zuwandte. Schopenhauers pessimistische Weltansicht bestätigte seine eigene Erfahrung, daß das Leben aus Leiden bestehe, und das Dasein grausam, sinnlos und vergänglich sich weiterzeuge. Er befragte auch Nietzsche und die großen Dichter, und in der deutschen Musik erkannte er „die Sprache des Todes­tausches, sie war unabweisbar“. Obschon Dichter und Philosophen den Selbstmord verwarfen, war er von der Absurdität des Daseins überzeugt und zog die Konsequenzen. Die Tat mißlang. Das ältere Fräulein, das den Sterbenden noch rechtzeitig entdeckte, ermöglichte ihm eine geistige Exi­stenz: sie förderte eine Reise nach Portugal und weckte verlegerisches In­teresse für sein erstes Buch. Das Anna-Maria Baumgarten gewidmete Exemplar enthält die Bestätigung und ein Versprechen: „Da es ohne Dich nicht wäre, sollst Du es als erste empfangen.“ Er versprach, daß, wie auch immer die künftige Entwicklung gewendet sein möge, er seine Dankbar­keit ausdrücken werde. Daran hat er sich unbeirrbar gehalten. Klaglos nahm er später seltsame Einschränkungen und Tren­nungen auf sich, um auf die Gefährtin, die ihn eifersüchtig umhegte, Rücksicht zu nehmen. Entscheidend für den weitern Weg war die Begegnung mit den Werken Miguel de Unamunos: „Das tragische Lebensgefühl“ und „Die Agonie des Christentums“. Er habe ihn aus seinem Leben herausgehoben wie einen Feldstein, erzählte Schneider später. So sei die Umkehr von der Verzweif­lung am Absurden zur Lebensbejahung im Tragischen geschehen. Aus­schlag­gebend aber war die „Begegnung mit Kierkegaard“, und zwar die Stelle „O Tod, ich glaube, man tut dir unrecht. Welche Bedeutung kannst du nicht dem Leben geben.“ Genau da lernte er „ja zu sagen und die Ver­zweiflung und die Schwermut hinüberzuzwingen in das Tun, wo die Pas­sion aktiv werden mußte“. Im Werke des portugiesischen Dichters Camoes erkannte er die Bedeutung der Geschichte, vor allem das Schicksal europä­ischer Macht und Verantwortung. Nun begann er zu reisen, immer wieder nach Süden und dann nach Norden: „Das reißende Gefälle europäischer Geschichte trieb mich Christus entgegen.“ Noch glaubte Reinhold Schnei­der, nicht zu glauben; langsam unterliege jedoch, so erläuterte er, jedes Leben einem Plan: er setze sich durch, insofern wir gehorsam seien. Bei Johannes vom Kreuz und Ignatius entdeckte er „die Synthese von Mystik und geschichtlicher Existenz“. Die großen Erneuerer Franziskus von Assisi und Luther verehrte er gleichermaßen. Seine dichterischen Geschichts­bilder um Auftrag und Verantwortung der Macht, um Schuld und Gnade erschie­nen in den Jahren vor dem zweiten großen Krieg. Schneider lebte in der Geschichte, aber „doch nur für die Gegenwart“. Die Reden und Missetaten der politischen Dämonen des Dritten Reichs, „der geborenen Selbstmör­der“, kannte er aus nächster Nähe; er wohnte bis 1937 in Potsdam. Hier zog er die Konsequenzen aus seiner bewußten Hinwendung zum Leben. Er begriff, daß er der offenkundigen Macht des Bösen die eigene Kraft des Guten entgegensetzen müsse. Noch ein­mal bestimmte ihn Kierkegaard: die „Situation der Gleichzeitigkeit mit Christus“ zu erfahren; denn „das allein ist Existenz“. Damals begann auch die schwere Krankheit, die ihn bis zum Tod nicht mehr verließ. Er aber erklärte, daß ihm nichts Unver­dientes widerfahre: „Es ist das Paradox der Botschaft, daß wir in einem gewissen Sinne krank sein müssen, weil Er sonst nicht zu uns kommt; ich ging täglich zur Kirche, allsonntäglich zur Messe. Aber zum Sakra­ment wagte ich mich nicht.“ Ein Jahr später folgte er der Einsicht: „Wir leben nur aus der Kraft des Fleisches und Blutes unseres Herrn; wir leben nicht, wenn wir … das ganz Unfaßbare nicht tun.“

In evangelischer Freiheit — sich ganz auf das Wort Gottes verlassend — trat er in den sakra­mentalen Raum der katholischen Kirche; ohne konfes­sionelle Argumente. Er hörte auf sein Gewissen. Von Freiburg i. Br. aus, wo er nun wohnte, korrespondierte er mit vielen Gelehrten und Freunden. Er verfaßte Kleinschriften, die zu Tausenden auf geheimen Wegen an die Fron­tsoldaten und in die Konzentrationslager gelangten. Er spendete gei­stige Hilfe und Trost; in prophetischen Sonetten deutete er den Untergang der Gewalt und Gottes Erbarmen. Wegen „illegaler Tätigkeit“ wurde sein Leben bedroht. Den Herrschenden war sein Wort stets uner­wünscht. Nach dem Krieg löste sein christlicher Protest auch bei kirchlichen Stellen Ver­leum­dung und Boykott gegen ihn aus. Und er klagte: „Mein Leben führt mich von Konflikt zu Konflikt.“ Weil er erkannte, in welch entscheiden­dem Maß die technische Welt geschichts­mächtig wurde, begann er sich mit den Naturwissenschaften zu beschäftigen. Er setzte seine Hoffnung auf die Forscher. Die neuen Arbeiten: Dramen, Essays und aphoristische Berichte bemühten sich „um eine immer fester gegründete Erkenntnis des persön­lichen Daseins als eines Daseins in der Geschichte“. Nun aber erfolgte der zweite große Einbruch: Die Naturwis­senschaftler und Forscher übernah­men die Verantwortung für das Leben in der Welt nicht; denn die Ge­lehrten, so mußte er erkennen, fragten nicht nach den Gefahren für eine heile Welt, sondern wirkten als anonyme Funktionäre der Macht. Ent­täuscht wies er auf die tragi­sche Verkettung hin: erste Kernspaltung 1938, Anwendung der Atombombe 1945, zunehmen­des Atomwettrüsten, Be­ginn der kosmischen Eroberung 1956. Aber Christus schwieg vor dem Kos­mos. Da kehrten die Fragen der Verzweiflung zurück: „Ich habe mich im Verdacht, dasein zu müssen als Vorbote des Entsetzlichen, gegen das keine Warnung und keine Bitte hilft.“ Er stand an der Wende, es ereignete sich „der Einbruch der dunklen Wasser in einen leer gewor­denen Raum, also von unten her“. Mit diesen Worten bezeichnete er den „innern Unfall“, das heißt den Verlust der aus christlichem Wissen gewonnenen Selbstsicher­heit. Alle Hoffnung war ihm genommen, er betete um ewigen Schlaf unter dem Kreuz, ohne den Trost des Aufer­standenen zu erwarten. Aber er ver­harrte im Glauben und im Gebet, bis er ohne Bewußtsein am Ostertag 1958 starb. Die Gleichzeitigkeit mit Christi Verlassenheit hat sich in den Karta­gen des Jahres 1958 an ihm erfüllt.

Reinhold Schneider hat keine systematisch-theologischen Abhandlungen geschrieben. Aus seinem literarischen Gesamtwerk sollen deshalb die wich­tigsten Anschauungen herausgezo­gen und so gut wie möglich mit seinen eigenen Worten dargestellt werden.

Weltzeit: Wir erleben viel mehr die Zeit als uns selbst, deshalb gibt es keine Grenze zwischen Geschichtlichem und Subjektivem: die Zeit ereignet sich in uns. Als Geschichtliches begrei­fen wir das ständig sich Wandelnde, Veränderliche. Jede Zeit hat demnach ihre eigene Aufga­be. Sie muß sich von Werten und Formen verabschieden und Neues schaffen. Tradition und Revolution bedingen sich. Die Zeichen unserer Zeit vermögen wir freilich nur dann zu verste­hen, wenn wir die Bildersprache der Geschichte begrei­fen, wenn wir das Kontinuierende vom augenblicklich Notwendigen zu unterscheiden wissen. Geschichte ist das Walten des verbor­genen Gottes, der Sendungen gegeneinander auswirft, um Auftrag und Gehorsam zu er­proben. Daraus entwickelt sich tragischer Widerspruch. — Zeit läuft in Stunden ab, unerbittlich; was in der einen möglich ist, wird uns in der an­dern versagt. Niemand kann uns die Gewissensver­antwortung abnehmen, weder Kirche noch Staat. Das Böse entdeckt man früh — und zwar in sich selbst, dann erst in der Welt. Um das Gute muß man sich bemühen. Im Geiste ist der Ein­zelne frei, mit seinen Entscheidungen erlebt er sich als Opfer und Vollzieher der Geschichte. Freiheit ist die Tat unseres Gewis­sens: das Gewissen ist das Wissen von der Verantwortung für das Ganze der Schöpfung — vor dem, der sie geschaffen hat. Alles ereignet sich zuerst im Denken. Gedanken bestimmen den Lauf der Geschichte. Sie müssen verantwortet werden, und zwar persönlich. Die sittliche Norm richtet den Denkvorgang und unsere geistigen Ent­scheidungen, aber sie ist nicht er­zwingbar. Hier steht der Mensch unmittelbar vor Gott, er muß das Wag­nis seiner Freiheit auf sich nehmen, auch die Möglichkeit, daß er durch seine Freiheit scheitert. Die Rechtsordnung dagegen regelt das Äußere, das soziale Verhalten des Menschen. Sie braucht den Zwang zur Durchsetzung im Dienste sichtbarer Macht. Deshalb erhebt sich die Frage nach Auftrag und Verantwortung der Macht. Durch göttliche Zulassung besitzt Satan — nach evangelischer Aussage — wachsende Machtanteile an dieser Welt. Nie ist Wichtigeres von der Geschichte und ihren Gefahren gesagt worden als in dem Bericht von der Versuchung Christi: der sozialen, der religiösen und von der Versuchung der falschen Macht. Das Böse, in jeder Form der Selbstbezogenheit und Abkehr von Gott, wird nicht vor dem Ende der Zeit gebrochen. Es kann dem Menschen daher nicht gelingen, eine Ordnung zu errichten, die nicht von bösen Mächten bedroht würde. Die Dämonie dieser Welt haben wir erfahren, sie bedroht uns weiter: Kernspaltung und Atomwettrüsten bezeugen die in Gedanken vollzogene Katastrophe der Selbstvernichtung der Menschheit. Der Eintritt des Kosmos in die Ge­schichte unseres Planeten löst die gewohnten Dimensionen vor uns auf. Weil die Forscher der fragwürdigen politischen Macht verantwortungslos dienen, ist die Geschichtswelt, in der wir leben, am Ende. Das fragende Experiment hat den Erdkreis besiegt, wir kreisen im Todes­zirkel. Das Christentum steht in der Dunkelheit, in der es Anteil an Christi kosmi­scher Verlas­senheit erfährt.

Leidenszeit: Wenn der Glaube, wie das Evangelium sagt, nie zum Sieg des Christentums auf Erden führt, und die Kirche das Leiden Christi in dieser Zeit fortsetzt, wenn die vernichtenden Widersprüche und Verfol­gungen bestehen bleiben, dann muß einem Christentum wider­sprochen werden, das sich mit politischer Macht verbündet, um zu herrschen; es muß der kirchliche Triumphalismus bestritten werden. Christus ist nicht der Ordner dieser Welt, son­dern unsere tödliche Freiheit. Das Christentum ist pur erfaßbar in einer unheilbaren, aber erlösbaren Welt. Die Anerkennung des Tragischen geht deshalb dem Glauben voraus: die Erfahrungen bewei­sen, daß die Welt aus Menschenkräften nicht geheilt werden kann, daß sich die christliche Botschaft in ausreichendem Maß auf Erden gar nicht erfüllen läßt, daß sich alle, die sich zu ihr bekennen, im Gewissen beunruhigt füh­len, von Christus verklagt. Han­delnd und nichthandelnd werden wir schuldig. Es wäre falsch, die Tragik ins Heidnische zu verweisen. Das Reich — immer wieder politisch mißverstanden — ist das Reich im Kom­men. Es ist niemals da außer als Zeichen. Die politische Macht wird die Kirche niemals schützen, ohne sie zu mißbrauchen. Die Kirche wird den Staat nie anerkennen, ohne die Botschaft abzu­schwächen. Ein zureichendes Bild der Geschichte muß die Krankheit einbeziehen: Epochen und Krank­heiten sind gemeinsam im Fluß, parallel zur Geschichte fließt die Therapie. Als Arzt ist Christus gekommen. In aller Religion ist die Sehnsucht nach dem leidenden Gott, dem Bruder in Schmerzensgefangenschaft, ein Trost. Der Mitleidende ist uns deshalb auf Erden hilfreicher als der Auferstan­dene. Krankheit ist eine Gabe, eine Gnade, Anteil am stellvertre­tenden Leiden Christi. Wer die Geschichtstragödie als unabänderlich bejaht, kann der Mit­schuld nicht ausweichen, er wird das Mitleiden annehmen. Darin mag eingeschlossen sein das Leiden mit der Kreatur. Was wir nicht ver­stehen, ist, daß das Leben sich weiter zeugend, gegenseitig verschlingend und quälend vernichtet und aufbaut. Die grauenvolle Lebens- und Todes­einheit könnte uns zur Verzweiflung bringen, wenn nicht erwartet werden dürfte, daß die Erlösung alles umfaßt wie das Leiden. Auch Krieg und Kriegsgeschrei können niemals aufhören, sie gehören zum Leidensbereich. Vor dieser Wirklichkeit muß der Christ dennoch den Frieden stets wollen und tun, wider alle Hoffnung.

Endzeit: Einmal trifft der Weg eines jeden auf den Kreuzweg des Herrn. Wo die Wege sich schneiden, muß die Entscheidung fallen. Das gilt für den Einzelnen und für die Völker. Das Kreuz ist die einzige Realität, die uns retten kann. Durch die Entscheidung, die wir über Wert und Vergeblich­keit treffen, gelangt unser Leben in unsere Hand. Wir werden vor die über dem Beweis stehende Tatsache der Menschwerdung gestellt. Sie kann in uns nur Wirklichkeit wer­den im Sakrament. Ist das Sakrament nicht Christi Fleisch und Blut, so bleiben wir außerhalb der Wirklichkeit. Ward Gott nicht Mensch, so werden die Toten nicht leben. Da Christus nicht lügt, ist ein Widerspruch zwischen Christus und der Wahrheit nicht mög­lich. Er ist die Wahr­heit. Wenn wir mit ihm leben wollen, müssen wir mit ihm sterben. Wir haben uns freilich daran gewöhnt, Unsterblichkeit in einem sehr irdischen Sinne zu verstehen. Die ganze christli­che Kultur mit allen Ausstrahlungen wird von dem Ernst der Frage nach dem ewigen Leben getragen. Freilich setzt der Glaube an Auferstehung den Wunsch nach Auferstehung voraus — oder die Angst vor dem Nichts. Wenn aber der Mensch, wie es heute geschieht, das ewige Leben weder ersehnt noch fürchtet, verdorrt das Korn für immer. Wir sind an der Grenze der Ver­kündung, des Wortes, des Christentums, angelangt. Es ist nicht das Wort an alle, sondern an die Erwählten unter allen. Christus spricht von Dor­nen und Disteln, wo das Wort nichts vermag. Niemand glaubt an Gott, weil er bewiesen wurde, sondern weil Gottes Sein sich in ihm ereignet hat Die Offenbarung der Liebe ist ein personales Wort an den, der glaubt, der zu glauben vermag. Jedoch gibt es auch einen Unglauben, der in der Gna­denordnung steht. Wir sprechen schnell von Abfall oder Auflehnung, ohne die Psychologie des Unglaubens hinrei­chend zu verstehen. Nie dürfen die Beter von der Seite der Frevler weichen. Wir können von der Hoffnung nicht lassen, daß die auch im Kreise des Heiles sterben, die sich mit ihrer letzten Kraft abwenden von Gott, und daß er Wege zu den Verlorenen findet und Brüchen baut, wo wir nur Abgründe sehen. Groß sind der Auf­trag und die Verantwortung der Christen, und schrecklich ist ihr Versagen. Wie sollen wir helfen, da wir selber unwahrhaftig sind? Als wir, ohne Frage nach der Konfession, in den Kellern gemeinsam beteten, haben wir die umfassen­de Weite der Kirche erfahren. Der zerrissene Leib Christi war der eine Leib. Der Unterschied der Bekenntnisse trennte nicht: die Christus wirklich wollten, wurden eins, ohne einig zu sein. Einheit geschieht in tätigem Glauben, durch die Liebe. Es gibt aber auch eine Liebe, die nicht hilft. Es gibt eine Stelle ohne Trost. Wir müssen aushalten, wenn wir sie erreicht haben. Näher als hier können wir dem Kreuz nicht sein. Der Schmerz über die göttliche Liebe, die nicht hilft, ist der schrecklichste der Kreuzigung. In der letzten menschlichen Verlassenheit geht es nicht einmal mehr um den Glauben, nur noch um das Gebet, das Wort ohne Unterlaß. Es kann ja geschehen, daß wir uns verlassen sehen im Sterben, verraten wie er, die Liebe von der Lie­be um der Liebe willen. In der kosmischen Verlassenheit dennoch den Vater anzurufen, in der Finsternis um das Kreuz dennoch das Licht zu wollen, dies ist die äußerste christliche Tat: Selbsthingabe in der Agonie, im Bewußtsein des unbegreiflichen Gottes. Am Kreuz ist der Ruf der Verzweiflung der letzte noch mögliche Vollzug der Hoffnung.

Quelle: Hans Jürgen Schultz (Hrsg.), Tendenzen der Theologie im 20. Jahrhundert. Eine Geschichte in Porträts, Stuttgart: Kreuz-Verlag 21967, S. 505-512.

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