In seinem Brief an Georg Merz vom 29. April 1933 hat Karl Barth wesentliche Argumente seiner Streitschrift „Theologische Existenz heute!“ vorweggenommen, wenn er schreibt:
Karl Barth in seinem Brief an Georg Merz vom 29. April 1933
Du wunderst dich, daß ich das, was ich dich jetzt in Gemeinschaft mit Zoellner, Asmussen usw. anbahnen sehe, schlecht und recht ebenfalls auf der Linie all der übrigen ›Gleichschaltungsaktionen‹ sehe. Ich übersehe nun keineswegs, daß ihr ja gerade gegen die ›deutschen Christen‹ für die Freiheit der Kirche und ihres Bekenntnisses kämpfen wollt. Gut, ich höre diese Ankündigung. Ich lese in der ›Tägl. Rundschau‹ fortwährend ganze Ströme von sicherlich aufrichtig und ernstlich gemeinten Worten. Ich habe mir auch stundenlang die ganz parallelen Beschwörungen meines Kollegen und reformierten Mitkirchenvaters in spe Goeters angehört. Aber ich komme vor Allem an einem entscheidenden Punkt nicht mit und werde darin euch allen direkt oder indirekt widerstehen müssen, ›solange es für mich in Deutschland noch Tag ist‹, wie mein nun ebenfalls in Urlaub geschickter Nachbar K. L. Schmidt nicht unpathetisch zu sagen pflegt.
Ich bin bis jetzt noch auf keine Verlautbarung auch und gerade der gegen die ›deutschen Christen‹ sich abhebenden Kirchenbewegung gestoßen, die nicht charakterisiert gewesen wäre durch ein all den noch so tapfern und kirchenreinlichen Darlegungen vorangehendes Grundbekenntnis zu der Notwendigkeit, Rechtmäßigkeit, Erfreulichkeit und womöglich (Kundgebung der bayerischen Kirche) auch christlichen Erheblichkeit der seit dem 30. Januar vollzogenen politischen Entwicklung. Laß dich als an ein klassisches Dokument an den Aufruf des ›Triumvirates‹ Kapler-Marahrens-Hesse erinnern, dessen Anfang lautet:
›Eine mächtige nationale Bewegung hat unser deutsches Volk ergriffen und emporgehoben. Eine umfassende Neugestaltung des Reiches in der erwachten deutschen Nation schafft sich Raum. Zu dieser Wende der Geschichte sprechen wir ein dankbares Ja. In Gottes Wort gebunden, erkennen wir in dem großen Geschehen unserer Tage einen neuen Auftrag unseres Herrn an seine Kirche …‹ (folgen noch einige kirchenreinliche Sätze)
In der in diesen und so und so viel ähnlichen Erklärungen vollzogenen Geste sehe ich die alles übrige schlechterdings korrumpierende und aufhebende ›Gleichschaltung‹. Ich finde zu dieser Geste keine Parallele in der Erklärung der Fuldaer Bischofskonferenz, sondern wieder einmal haben wir die weise und christliche Zurückhaltung im politischen Urteil den Römischen überlassen und uns nicht eilig genug in den eben abfahrenden Zug der Weltgeschichte setzen können. Ich finde aber auch in Schrift und Bekenntnis keine Parallele zu dieser Geste. In wessen Namen, kraft welcher Autorität und in welcher Notwendigkeit wird dieses Grundbekenntnis abgelegt? Entweder aus der elenden Furcht, daß die evangelische Kirche nicht existieren könne, wenn sie sich nicht zuvor – bevor sie tapfer und kirchenreinlich zu reden wagt! – durch solches Grundbekenntnis bei den derzeitigen Machthabern empfohlen habe. Oder aber (und das ist mir wahrscheinlicher) in der ehrlichen, aber theologisch höchst unbesonnenen Meinung, eben dieses dankbare Ja zum Hitlertum sei wirklich das Erste und Grundlegende, was die deutsche Christenheit jetzt als ihren Glauben zu bekennen habe. So oder so: indem ihr das zum Felsen macht, auf den ihr nun die Kirche gründen wollt, wird einfach Alles, was ihr nachher der Schrift und dem Bekenntnis gemäß und in wohlgemeinter Polemik gegen die deutschen Christen‹ sagt, unglaubwürdig, weil ihr es durch jenes unkirchliche Grundbekenntnis im Voraus in eine Klammer gesetzt habt, außerhalb derer ihr das Glaubensbekenntnis offenbar nicht sprechen könnt oder wollt und innerhalb derer es als Glaubensbekenntnis unwirksam wird. So wie es in jenen Sätzen geschieht, redet man nicht zu den und für die deutschen Christen (nicht zu den und für die eingesperrten Kommunisten, nicht zu den und für die unterdrückten Sozialdemokraten z. B., die doch immerhin auch zu den in der christlichen Kirche Getauften gehören), sondern schlechterdings nur zu den und für die Hitlerianer im engem und weitem Sinn, d. h. zu denen und für die, die jenes ›dankbare Ja‹ fertig bringen. Man redet so nicht in der und zu der Kirche, sondern in und zu einer Partei, mag sie immer heute 90% aller deutschen Staatsbürger umfassen. Wer hier nicht dankbar Ja sagen kann – daß mit jener Phrase das biblische Danksagen für Alles gemeint sein sollte, ist ja wohl durch den Zusammenhang ausgeschlossen –, der kann hier nur draußen stehen. Und wieder einmal ist die Kirche an die Geschichte verraten. Das ist 1919 f. nicht geschehen, wenn wir von den paar religiösen Sozialisten und Volkskirchlern einmal absehen wollen. Die Kirche als solche hat damals nicht daran gedacht, sich in dieser Weise mit der damaligen politischen Revolution zu solidarisieren, und sie hat recht getan daran. Sie hat sich aber heute zu Unrecht mit der jetzigen Revolution solidarisiert. Wie verhängnisvoll diese ihre Haltung ist, wird sich erst offenbaren, wenn die Hypnose, in der sich jetzt fast das ganze Deutschland befindet, eines Tages nicht mehr wirksam sein wird. Es kann und muß aber schon heute gesagt werden – wenigstens von Ohr zu Ohr, da es ja öffentlich nicht gesagt werden darf –, daß hier im Alles entscheidenden Punkt Unrecht geschieht.
Weil ich aber eurem unvermeidlichen Vorspruch gegenüber so dran bin, daß ich etwas Anderes als ein glattes Nein dazu nicht übrig habe, darum kann ich auch zu dem Inhaltlichen eurer Bestrebungen nicht Ja sagen. Glaubst du, daß das ein angemessener Kairos zur Neugestaltung der christlichen Kirche sei, den man sich durch die ›dankbare Bejahung‹ einer ›mächtigen nationalen Bewegung‹ hat diktieren lassen? Glaubst du, daß sich in dem offenkundigen politischen Einheitsrausch, von dem jetzt Alles erfaßt ist, so nebenbei auch noch kirchliche Einheit in einem einigermaßen ernsthaften Sinn erzeugen lasse? Glaubst du, daß es eine der Kirche würdige Situation sei, sich von Herrn Hitler durch den Wehrkreispfarrer Müller zum Gottvertrauen und andern religiösen Tugenden auffordern zu lassen, während sie notorisch zu all den Brutalitäten, Kindereien und Geistlosigkeiten, deren Geschehen wir doch wirklich ohne Unterschied der Parteibrille jeden Tag jetzt konstatieren müssen, kein offenes Wort zu sagen wagen darf? Glaubst du, daß es eine gute Sache sei, sich mit dem Verschweigen oder Verleugnen der Problematik der heutigen deutschen Dinge die Freiheit zu erkaufen, saubere theologische Manschetten tragen zu dürfen? Und glaubst du, daß es wohlgetan sei, sich jetzt, jetzt auf einmal zur Aufrollung des Unionsproblems drängen zu lassen dadurch, daß Herr Göring uns vorgemacht hat, was Autorität ist, woraus folgt, daß die Kirche auch Autorität und also ein Bekenntnis und also – die Sache klappt wirklich, wie jetzt Alles in Deutschland klappt – ein lutherisches oder reformiertes Bekenntnis haben muß? Nein, sage ich, so nicht, unter diesem Druck und Vorzeichen und mit diesen Vorbildern nicht, und wenn es, innerhalb dieser Klammer betrachtet, noch so schön und einleuchtend gemacht werden könnte! Wer jenen Vorspruch nicht unterlassen kann, der meint auch Alles, was er nachher sagt, und wenn es im Unterschied zu der Irrlehre der ›deutschen Christen‹ das exakteste theologische Bekenntnis wäre, in einem übertragenen, unkräftigen Sinn. Die Voraussetzung, als ob man, mit den ›deutschen Christen im Vorspruch einig – ängstlich bemüht, sich an Eifer um den Vorspruch von jenen doch ja nicht übertreffen zu lassen nachher im Gegensatz zu ihnen eine reine Kirche haben könne, diese Voraussetzung wird sich noch einmal als eine der schlimmsten Illusionen dieser an Illusionen so reichen Zeit herausstellen. Laßt einmal den Vorspruch, das weltgeschichtlich-parteipolitische Grundbekenntnis ehrlich und restlos weg, dann wollen wir über das, was nachher kommt, weiterreden. Wir würden dann vermutlich über Einiges anders weiterreden. Auf dem Boden jenes Vorspruchs kann ich jedenfalls an dem, was nachher kommt, kein Interesse nehmen.
Georg, lieber Georg, Zoellner und Asmussen sind ausgezeichnete Menschen und Christen, aber nun doch beide so kurzatmige Theologen, daß es mir trotz aller Verehrung und Anerkennung, die ich ihnen gewiß nicht versagen möchte, weh tut, dich in dieser Gesellschaft zu sehen. Daß du doch auch zu mir hin ein Fenster offenhalten möchtest, wenn du dich an jenen Ort stellst, das freut mich; du mußt dir aber wirklich klar sein darüber, daß jener Ort mein Ort nicht ist noch sein kann. Es gehört offenbar zu meinem Schicksal, daß ich es tragen muß, meine Freunde immer wieder nach allen Seiten in mir unverständliche und unsympathische Gegenden abgehen zu sehen. Wie sollte ich mir ein Recht nehmen, dagegen ein Veto einzulegen?‹
Quelle: Karl Barth, Theologische Existenz heute!, neu herausgegeben und eingeleitet von Hinrich Stoevesandt, München: Chr. Kaiser 1984, S. 14-17.