Hans Joachim Iwands Predigt über Johannes 15,1-8 von 1937: „Es ist nicht so, dass ein wucherndes Namenchristentum dem Sterben und Leiden unseres Herrn alle seine Kraft nehmen darf.“

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Predigt über Johannes 15,1-8

Von Hans-Joachim Iwand

Liebe Brüder und Schwestern! Wir haben heute nachmittag mit unserer Seminargemeinde die Beichtfeier gehalten. Jetzt sind wir in einem größeren Kreis zusammengekommen, um das Heilige Abendmahl zu empfangen. Wir danken euch, daß ihr gekommen seid. Wir danken euch für die treue Gemeinschaft, die ihr uns in den drei Monaten bewiesen habt, da wir bei euch waren, vor allem für die Gemeinschaft am Worte Gottes, das uns immer wieder hier vereinigt hat. Es hat uns gestärkt und geholfen in unserer großen Bedrängnis, daß ihr uns nicht allein gelassen habt. Dieser unser Dank mußte einmal ausgesprochen werden, und heute ist die Stunde dazu, denn wir sind zum letztenmal hier im Gotteshaus versammelt. Unser Weg führt uns weiter. Diese Unbeständigkeit unseres Lebens, dem heute wenig Rast vergönnt wird, soll uns ein Zeichen dafür sein, daß die Kirche immer auf dem Wege ist, daß wir Wanderer sind nach einem fernen, unsichtbaren Ziel, und daß wir hier keine bleibende Stadt haben.

Und weil es nun eine Abschiedsstunde ist, in der wir hier zusammen­gekommen sind, so wollen wir uns sammeln um ein Wort unseres Herrn Jesus Christius, das er gesagt hat, als er selbst Abschied nahm von den Seinen, mit dem er sie ermahnt und getröstet hat. Auch wir wollen uns durch dieses Wort von ihm mahnen und trösten lassen und uns so bereiten auf den Empfang des Abendmahls. Das Wort unseres Herrn finden wir im Evangelium des Johannes, Kap. 15, 1-8.

Ich bin der rechte Weinstock! Das sagt Jesus zu seinen Jüngern in der Stunde seines Todes. Schon ist sein Haupt bereitet für die Dornenkrone, schon ist sein Angesicht gezeichnet von Schmerz und Leid, schon sieht sein Auge die Stunde, die von Gott kommt, die Stunde, da er hin­gegeben wird für die Sünde der Welt. In diesem Augenblick sagt er das Wort vom Wein­stock zu seinen Jüngern und damit zu uns allen, als ob er sagen wollte: Kennt ihr den Wein­stock, in dem ein Mensch verwach­sen sein muß, wenn er gute Frucht bringen soll? Erkennt ihr, wie das zusammenhängt, mein Tod und euer Leben, mein Leben und euer Wachsen? Daß ich der Weinstock bin und ihr die Reben seid, und daß ich euch so trage und speise und fruchtbar mache und ihr in mir wurzelt und ohne mich gar nichts seid, wirklich gar nichts, wie eine vom Weinstock abgetrennte Rebe eben nichts ist als ein nutzloses Stück Holz, gerade noch gut zum Verbrennen?

So redet Jesus von der Gemeinschaft, die zwischen ihm und den Seinen besteht. Er macht von dieser Gemeinschaft alles abhängig, Leben und Tod, Sinn oder Sinnlosigkeit alles Lebens und Schaffens. Der Jünger Jesu ist für sich genommen nichts, er ist so wenig wie eine Rebe, die man vom Stamm getrennt hat. Er verdorrt und verdirbt. Aber mit ihm zusammen ist er alles, bringt er reiche und gute Frucht, mit ihm zusammen ist er ein Organ Gottes, lebt er ein neues, wunderbares, von Gott gespeistes Leben. Und mehr noch: Wenn wir dieses Wort hören, dann könnten wir sofort wissen, diese Gemeinschaft mit Jesus Christus kann man nicht machen, man kann sie nicht erzwingen und nicht selbst schaffen, sondern es ist hier wie bei allem anderen Leben: Gott muß es schenken. Gott gibt seinen Sohn für uns in den Tod und Gott erwählt Menschen in dieser Welt und gibt sie seinem Sohn zu eigen. Gott, der Schöpfer alles Lebens, wirkt hier sein bestes und höchstes Werk, indem er einen Menschen so mit seinem Sohn verbindet wie die Rebe mit dem Stamm.

Das ist das Wunder, von dem Jesus hier redet. Er will, daß wir die Gemeinschaft mit ihm als etwas Wunderbares und gerade darum Lebendiges verstehen lernen. Denn wer versteht, wie die Rebe mit dem Weinstock verbunden und verwachsen ist, wie sie aus ihm die Kraft ge­winnt, um ihre süße, herrliche Frucht zu bringen? Und wer versteht, wie es vor sich geht, wenn Gott einen Menschen ergreift und bindet ihn an Jesus und läßt ihn aus Jesus wachsen und Frucht gewinnen? Das aber gerade will Jesus mit diesem Gleichnis uns sagen: Ich bin euer Lebensgrund, Gott hat in dieser Welt keine andere Weise, aus einem Wildling ein Edel­reis zu machen als diese, daß er euch nimmt und aus euch eine Rebe macht, die in mich einge­pflanzt wird. Und mich selbst macht mein Vater zu einem Weinstock, den er einsenkt in den Acker der Welt. Denn dieser Acker, der meinem Vater gehört, ist verwüstet und unfruchtbar geworden. Darum pflanzt er nun einen neuen Wein­stock. Darum senkt er mich in den Tod. Darum gibt er mich hinein in die Welt, damit dieser Acker nicht verloren ist, sondern wieder Hoffnung hat auf gute Frucht und gute Ernte. Aber merkt es wohl, auf Frucht kommt es an. Denn darin wird mein Vater geehrt, daß ihr viel Frucht bringt, Frucht, die offenbar macht, daß ich der rechte Weinstock bin, daß hier ein neuer Ansatz, ein neuer Grund gelegt ist, daß alle, die in mich gepflanzt werden, Frucht bringen, die meinen Vater im Himmel ehrt und offenbar macht, daß Gott und nicht der Satan, die Gnade und nicht der Fluch über dieser Welt regiert.

Und auch dies, das Fruchtbringen, sagt Jesus, ist das Werk meines Vaters. Es ist also nicht so, als ob Gott diesen Weinstock in die Welt gepflanzt hätte und nun sein Wachstum sich selbst überließe. Nein, Gott wacht darüber, wie ein rechter Weingärtner über der Entwicklung seines Weinstocks wacht. Der Weingärtner kommt und sieht die Reben nach. Die Reben, die keine Frucht bringen, bricht er aus, und die Reben, die Frucht bringen, reinigt er, damit sie mehr Frucht bringen. Ihr habt fast alle an euren Häusern im Dorf Weinstöcke und werdet alle wis­sen, wie man das tut und warum man das tut, das Reinigen und Beschneiden der Reben. So, sagt Christus, handelt mein Vater auch mit allen, die sich meine Jünger nennen. Es ist nicht so, daß faule und dürre Reben diesem edlen Weinstock Jesus Christus die ganze Kraft nehmen und verzehren dürfen. Gott kommt und bricht sie heraus. Es ist nicht so, daß ein wucherndes Namenchristentum dem Sterben und Leiden unseres Herrn alle seine Kraft nehmen darf. Gott kommt und bricht diese Reben aus. Verstehen wir, was das für uns bedeutet? Verstehen wir, daß in all dem Abfall von der Kirche und vom christlichen Glauben, der heute bemerkbar wird, Gottes Hand zu spüren ist? Daß da Gott Zweige abbricht und ausbricht, Zweige, die längst schon keine Frucht mehr brachten, die längst schon unnütz von der Kraft des Wein­stocks zehrten? Nicht wahr, wir denken manchmal, es sei in unsere Hand gestellt, ob wir bei Christus bleiben oder von ihm weichen, wir könnten Christus wählen oder auch verwerfen. Aber hier hören wir, daß das anders ist. Die Hand, die hier ausbricht, ist Gottes Hand. Und die Rebe, die hier ausgebrochen wird, wird darum ausgebrochen, weil sie schon lange eine tote, faule, am Stamm des Weinstocks verderbliche, unfruchtbare Rebe war. Gott bricht sie aus, nicht wir. Und doch, gerade weil Gott das tut, dürfen wir gewiß sein, daß der Weinstock selbst dadurch keinen Schaden leiden wird, sondern im Gegenteil: Er wird reiner, er wird kräftiger, und alle Reben, die an ihm bleiben, werden mehr Frucht bringen als bisher. Dem menschli­chen Auge erscheint es ja immer wieder so, als müßte der Abfall vom Christentum den Unter­gang der Christusbotschaft bedeuten. Aber hier hören wir von Christus selbst, daß das Gegen­teil der Fall ist. Um des Weinstocks willen werden die Reben ausgebrochen, um des Wein­stocks willen werden die Reben gereinigt. Um Jesu Christi willen kommen die großen Zeiten der Sichtung und der Reinigung über die Kirche, Zeiten, die schwer erscheinen mögen für den, der sie erleiden muß, aber doch von Gott her hoffnungsvolle Zeiten, denn in ihnen sorgt Gott dafür, daß sein Weinstock, Jesus Christus, wieder mehr und bessere Frucht bringt. Da­rum, wenn wir sehen, daß heute unsere Kirche gereinigt wird und dieses Reinigen viel Leid und Bedrängnis über uns bringt und es uns scheinen will, als sollte der ganze Weinstock dabei zerstört werden, dann sollen wir wissen: Das alles kommt von Gott und ist ein Zeichen, daß sich Gott um das Wachstum seines Weinstockes sorgt und müht. Gerade in solchem Tun und in solchen Zeiten liegt Verheißung, viel mehr als in den Zeiten, in denen alles wuchert und wächst und niemand reinigt.

Und doch – wer sagt uns, daß wir nicht gerade in diesen Zeiten ausgeschnitten und wegge­worfen werden? Wer sagt uns, daß wir erhalten bleiben? Allen, die so erschrocken fragen – und gerade wenn wir Gottes Hand darin wirksam sehen, haben wir Grund, zu erschrecken –, antwortet Christus: »Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe.« Mein Wort, sagt Christus, das euch erreicht hat, scheidet zwischen rein und unrein. Ihr gehört nicht zu den Zweigen, die ausgebrochen werden und wenn ihr fragt, warum – dann hört: darum, weil ich zu euch geredet habe, weil ich der gute Hirte bin, der euch mit seinem Wort nachgegangen ist, weil ich euch gefangen habe in meinem Netz, weil mein Wort zuerst euch und ihr dann meinem Wort nachgegangen seid – darum, darum allein! Es heißt nicht, ihr seid besser, treuer, frömmer als die anderen; Jesus sagt nicht, ihr seid rein, weil ihr keine Flecken habt, sondern er sagt: Die Gemeinschaft, in die ich euch mit mir hineingenommen und hinein­gezogen habe, die macht euch rein. Mein Wort habe ich zu euch geredet, damit habe ich die Tür aufgetan, die zu mir führt. Mein Wort, das ist die Einladung, die an euch ergangen ist und der ihr gefolgt seid, die Einladung an alle Mühseligen und Beladenen, an die Armen im Geist und die Leidtragen­den, an die Sünder und von Herzen nach Gott Fragenden – dieses Wort ist die Gewähr, daß ihr rein seid. Mein Wort nehme ich nicht zurück. Mit wem ich Gemeinschaft suche, mit dem halte ich sie auch, und wem mein Wort Gemeinschaft mit mir anbietet, dem bietet es auch alles an, was ich habe, Leben, Reinheit, Kraft und Beständigkeit. So große Din­ge gründet Jesus auf sein Wort. Er macht aus der Tatsache, daß sein Wort einen Menschen trifft und bindet, ein Zeichen der Gnade und Errettung, ein Zeichen, auf das wir sehen sollen, auf das wir gerade dann sehen sollen, wenn alle anderen Zeichen versagen.

An diesen Spruch Jesu wollen wir denken, wenn es auch in unserem Leben geschieht, daß sich uns ein Wort von ihm unvergeßlich einprägt, so daß wir wissen, das hat Jesus gerade zu uns gesagt, das hat er mir ganz allein gesagt. Die Worte mögen sehr verschieden sein, den einen trifft das, den anderen jenes, aber in all diesen Worten redet Jesus und solange uns seine Worte noch erreichen, vielleicht schon in weiter Ferne, vielleicht in großer Not, vielleicht in schwerer Sünde – aber eben doch erreichen, dürfen wir wissen: Wir haben Gnade gefunden vor Gott. Gott schweigt nicht. Gott verschließt sich uns nicht. Überall da, wo das Wort Jesu erklingt und Menschen sammelt, sammelt Gott selbst, reinigt er selbst unsre Herzen – darum kann er die nicht verwerfen, die das Wort seines Sohnes erreicht, denn dieses Wort macht ja rein und licht und hell, was es ergreift – und wenn unser Herz auch noch so dunkel und unser Leben noch so unfruchtbar scheint, das Wort, in dem Jesus uns nahekommt, bringt alles mit sich, was wir nicht haben, es schafft eine neue Situation. Denn dieses Wort halten nicht wir, sondern das Wort hält uns, es hält uns bei Gott, bei der Wahrheit, bei dem Glauben, bei der Hoffnung, kurzum es hält uns bei dem, der es zu uns redet, bei Jesus Christus. Wer anders bei ihm bleiben will, wer bei ihm bleiben will mit tauben Ohren und mit einem Geist, der sich abwendet von seinem Wort, wird erkennen, mit dem Wort verlieren wir auch Christus selbst. Er lebt in dem Wort und wenn wir sein Wort verachten, entzieht er uns auch die Gemeinschaft seines Lebens.

Darum: Bleibet! Das Bleiben ist der Gegensatz zur Untreue. »So ihr bleiben werdet an meiner Rede«, heißt es einmal, »so seid ihr meine rechten Jünger«. Bewahren, bleiben, treu erfunden werden – das ist der Inhalt aller Ermahnungen, die der scheidende Herr seinen Jüngern gibt. Und dieses Bleiben ist von ganz andrer Art als jenes bequeme, faule Bleiben, das unserer Na­tur so liegt, das Bleiben in unseren Gewohn­heiten, das Bleiben beim Alten, bei dem, was zu den Alten gesagt ist, dieses matte, unfruchtbare Bleiben, das dann auch ein so selbstzufriede­nes, mattes und faules Christentum ergibt. Aber Bleiben in seinem Wort heißt ein Mensch bleiben, der dies Wort immer neu hört, immer neu braucht, immer neu glaubt, ein Mensch, der nicht genug daran hat, wie ein Schatzgräber, der immer tiefer und tiefer gräbt. Es ist ein leben­diges, unmittelbares Bleiben, denn wen das Wort ergreift, der kann nicht mehr los, er bleibt Schüler des Wortes. Darum sagt Jesus auch: Bleibt in mir! Er will kein totes Christentum, das mit seinen Worten und Lehren umgeht, als wären das Erbstücke, über die wir verfügen kön­nen. Er will, daß wir wissen, in seinem Wort redet Er, in seinem Wort spricht der Herr zu seinen Knechten, der Meister zu seinen Jüngern, sein Wort – das ist der mit uns redende, uns tröstende, uns helfende, uns ermah­nende und aufrichtende Christus. Sein Wort ist bei uns geblieben und darum ist auch er alle Tage bei uns. Wer seinem Wort nicht treu bleibt, der gibt die Gemeinschaft mit seinem Herrn auf.

Und wiederum, meine Brüder – alle Verführung und alle Versuchung zum Abfall will uns ja nicht nur von dem oder jenem Wort, von der oder jener Lehre wegbringen, sondern will uns von ihm losreißen. Sonst wären diese Stimmen gar nicht so verführerisch, sonst wäre der Kampf um das Wort gar nicht so blutig ernst, wenn es nicht um Jesus ginge, wenn es nicht um ihn, den Gekreuzigten, ginge. Denn alle Versuchung von der Jugend bis zum hohen Alter läuft immer wieder auf das Eine heraus: Uns wankend zu machen in dem, worin uns Gott gerade fest gemacht hat, in unserer Gebundenheit an Jesus Christus. Ohne ihn – das ist die Parole eines neuen, freien, tatkräftigen Lebens geworden. Lebt einmal ohne ihn, erprobt ein­mal dieses Leben in seiner Höhe und Tiefe ohne diese Gebundenheit! Wir erfahren es ja heu­te, wie dieser Ruf Jung und Alt bezaubert, wie er tausend Münder gewinnt, die ihn weiter­ge­ben und diesen neuen Weg mit allen nur denkbaren Verheißungen und Erwartungen be­krän­zen. Aber Jesus sagt demgegenüber ganz einfach: Bleibet! Wie ein Befehl, den ein Feld­herr seiner Truppe gibt. Und er gibt uns ein Gleichnis: So wenig die Rebe Frucht bringen kann, sie bleibe denn am Weinstock, so wenig kann ein Leben Frucht bringen, das aus mir herausgelöst wird. Wie wir bleiben, ist eine andere Sache. Denn wir bleiben ja nicht als die Unangefochte­nen, niemals Wanken­den, wir bleiben bei ihm als die Irrenden, als die Verzweifelten, wir bleiben bei ihm, wie Petrus bei ihm blieb oder wie die große Sünderin bei ihm bleiben durfte, aber weil es sich um Jesus handelt, um das Bleiben bei ihm, darum dürfen wir auch als solche, gerade als solche bleiben, darum ist erst dann unser Bleiben fest und beständig, wenn wir ihn brauchen. Der Mensch, der alles weiß und alles kann und alles hat, bleibt gewiß nicht bei ihm, aber die Armen, die Suchenden, Irrenden, die mit Schuld Beladenen wissen, warum sie blei­ben: weil Jesus gekommen ist, die Armen reich zu machen, und weil er ausgegangen ist, die Irrenden zu suchen, und weil er die Schuld selbst auf sich genom­men hat und darum den Mühseligen und Beladenen die Last leicht gemacht hat – darum bleiben sie. Ehe wir nicht so bleiben, einfach weil wir müssen, weil Jesus die Lebensfrage für uns geworden ist, wird auch unser Bleiben nicht echt sein. Denn es ist kein Verdienst, wenn wir bei ihm bleiben, sondern härteste, nüchternste Notwendigkeit, so wie er es selbst hier sagt, knapp und hart, aber gerade darum unzweideutig klar:

Ohne mich könnt ihr nichts tun.

Hier sehen wir, wie Jesus selbst zwischen echten und falschen Jüngern scheidet. Und ich glaube, man könnte an diesem Spruch sich selbst am besten prüfen, wenn man wissen will, wie es um unser eigenes Christentum und unsere eigene Jüngerschaft steht. Denn es gibt zwei Arten von Christen, die einen meinen, daß sie doch auch von sich aus mancherlei Gutes und Rechtes und Kluges denken, tun und wollen, und finden es furchtbar hart und abstoßend, wenn sie denken müßten, daß sie gar nichts können. Aber die anderen wissen, daß es kein größeres Wort gibt und auch kein verheißungsvolleres als eben dies: Ohne mich seid ihr nichts. Und sie wissen, daß es die höchste Vollkom­menheit eines Menschen wäre, wenn er so leben und handeln würde, daß er ohne Jesus Christus nichts vermag. Denn Jesus sagt hier nicht nur: Ohne mich sollt ihr nichts tun, sondern er sagt es viel schärfer und wahrer: Ohne mich könnt ihr nichts tun. Und daran erkennen wir dann leicht, wie schwach die Gemeinschaft noch ist, in der wir mit ihm leben, daß wir doch noch sehr, sehr viel ohne ihn tun und treiben können. Das ist kein Ruhm für einen Christen. Wer daraus einen Ruhm und eine Ehre des Menschen macht, daß er noch so viel Großes und Gutes und Schönes allein tun kann, der sollte wissen, daß er damit gerade das größte Elend des Menschen feiert. Er ist wie ein Narr, der nicht weiß, was er tut. Denn wenn Jesus sagt, daß wir ohne ihn nicht tun können, dann heißt das ja nicht, daß der, der an Jesus glaubt, nichts tut und nichts kann, aber es heißt, daß wir eben Rebe und nicht Weinstock, das Werkzeug und nicht der Wirkende sind. Dann wird unsere Schwachheit unser Ruhm und unsere Hilflosigkeit unsere Kraft und wir beginnen zu begreifen, was es heißt: aus der Gnade Gottes leben. So wie der Apostel sagt, »Ich will mich am liebsten meiner Schwachheit rühmen, auf daß die Kraft Christi bei mir wohne«. Oder wie es einmal Kierkegaard gesagt hat: Gottes bedürfen ist des Menschen größte Vollkommenheit. Gerade diesem Leben, das in sich selbst schwach und ohnmächtig ist, wird viel Frucht verhei­ßen, nicht weil es schwach ist, sondern weil seine Schwachheit der Kraft Jesu Christi Raum gibt. Und so wird es denn in unserem Leben nach diesem Gesetz gehen, das der Herr hier selbst darüber schreibt, je weniger wir meinen, tun und wirken zu können, desto näher werden wir der großen Verheißung kommen, daß unser Leben nicht umsonst gewesen ist, daß es Frucht bringt. Es wird sehr widerspruchsvoll aussehen, so widerspruchsvoll, daß wir selbst darüber zuweilen in große Anfechtung geraten, aber mitten in diesem Wider­spruch wird dann doch die Gnade Gottes immer wieder größer sein als unser Versagen und die Kraft Gottes größer als unsere Schwachheit. Und mitten in diesem widerspruchsvollen Leben werden die Früchte reifen, von denen wir sagen können: Sie sind nicht von uns. Sie sind an uns, aber nicht aus uns. Sie sind wie die Frucht des Weinstocks – wir tragen sie, aber wir erzeugen sie nicht, diese Früchte sind ein Zeichen, daß Christus lebt, daß er wirkt, daß er heute wie von jeher alle großen und guten Dinge tut, die an den Seinen sichtbar werden.

Denn alles, was nicht Christus ist und aus ihm kommt, hat seine Zeit und sein Ende. Darum sagt er auch: »Wer nicht in mir bleibt, wird weggeworfen werden wie eine Rebe und verdorrt, und man sammelt sie und wirft sie ins Feuer und müssen brennen.«

Hier wird erst klar, wer darüber entscheidet, was bleibt und was nicht bleibt. Denn darüber entscheiden nicht wir, sondern Gott. Bleiben wird nur das, was dem Feuer standhält, in dem Gott selber kommen wird, um alles zu verzehren, was nicht aus Gott selbst stammt. Und alles, was seine Kraft und Frucht aus dem Vergänglichen gewinnt, wird dann offenbar werden in seiner Kraftlosigkeit und Unfruchtbarkeit. Nun erkennen wir erst, was es heißt: In Christus leben – das heißt doch wohl, im Gericht Gottes bestehen, nicht ergriffen werden von dem Feuer seines Zornes, behütet und bewahrt sein vor dem, vor dem kein Mensch, auch der Kühnste und Gewaltigste nicht, sich selbst bewahren und erhalten kann. Die Gemeinschaft mit Christus ist also eine Gemein­schaft, die angelegt ist auf einen bestimmten Tag, auf den Tag Gottes, auf den jüngsten Tag. An ihm wird uns erst ganz offenbar werden, was das bedeu­tet, daß er bei uns ist und er uns mit seinem Namen deckt. Denn wer nicht in Christus ist, der ist – ob er das nun weiß oder nicht – in eines anderen Hand, der ist den Mächten der Welt preisgegeben und der Tag Gottes wird das offenbar machen, aber wer in Christus ist, dem ist alles in die Hand gegeben, und auch das wird Gott offenbar machen.

Darum schließt der Herr seine Rede mit der Erinnerung an das Gebet: »So ihr in mir bleibet und meine Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfah­ren.« Gerade weil alle, die in Christus sind, die Geretteten sind, die wahrhaft Bleibenden und Bewahrten, gehört ihnen die Wirklichkeit. Oder besser noch, weil Christus der Auferstandene, der Herr und Sieger ist, darum gehört ihnen die Wirklichkeit. Nicht so, wie die Menschen dieser Welt sich die Welt zu unterwerfen suchen, mit Macht und Gewalt und unheilschwan­gerem Trotz, sondern so, daß sie ihn anrufen. Christus will dem Gebet, das in seinem Namen geschieht, Erhörung verschaffen. Er will, daß die Seinen betend den Kampf mit der Wirklich­keit bestehen. Darum sagt er uns: Ihr werdet bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfah­ren! Ob wir das auch glauben, meine Brüder? Ob wir aus diesem Glauben heraus auch bitten? Und ob wir nicht zu allererst um diesen Glauben bitten sollten, ehe wir überhaupt um etwas anderes bitten? Denn sonst bleiben unsre Gebete leer, sonst ist es ein Betteln, aber kein Beten, ein kümmerliches Versuchen, aber kein gewisses Bewegen der Wirklichkeit, das der Herr hier im Auge hat. Denn wenn wir in ihm bleiben, können wir nichts erbitten, was er nicht will, wenn wir aber bitten, was er will, dann sind wir ja nur der Mund seines Willens und dann erfüllt ja Gott nicht, was wir wollen, sondern was wir aus und in Christus wollen, dann muß alles, was geschieht, seinen Namen verherrlichen.

Wenn wir verstehen könnten, was unser Herr in diese Worte hineingelegt hat, dann würden wir vielleicht etwas davon ahnen, daß da, wo er Menschen in die Gemeinschaft seines Wortes und Lebens ruft, große und gewaltige Dinge geschehen, Dinge, die die Welt erschüttern, Din­ge, gegen die die Welt machtlos ist, Ereignisse, in denen Gott das Gebet der Jünger Jesu er­hört – über ihr eigenes Bitten und Verstehen hinaus. Denn daß Jesus Christus hier in der Welt Jünger hat – Jünger, die Frucht bringen, das muß dazu führen, daß die Ehre Gottes groß und die Ehre der Welt zunichte gemacht wird.

Darum, meine Brüder und Schwestern, laßt uns das eine nicht vergessen, was Jesus zu uns sagt: »Ohne mich könnt ihr nichts tun«, und das andere fleißig üben: »So ihr in mir bleibet, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfahren.« Und nun laßt uns das Abend­mahl empfangen mit der aufrichtigen Bitte:

Herr, unser Gott, wir bitten dich, du mögest uns in deinem Sohn Jesus Christus so verbinden, daß wir es alle glauben, was er gesagt hat. Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viele Frucht. Amen.

Gehalten im Schlussgottesdienst des Predigerseminars der Ostpreußischen Bekenntniskirche in Jordan (Neumark) 1937.

Hier die Predigt als pdf.

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