Nun ist man in Hongkong wieder so weit. Die Regierung hat drastische Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronaviruses ergriffen, um eine Epidemie zu verhindern und damit die Logik der Ängstigung befördert: Wenn drastische Maßnahmen ergriffen werden (müssen), dann muss es tatsächlich schlimm um uns stehen. Ich selbst hatte im Frühjahr 2003 den SARS-Virus (auch ein Coranavirus) in Hongkong mitgemacht und seinerzeit folgenden Artikel darüber geschrieben:
Angst essen Seelen auf. Entdeckungen und Erinnerungen angesichts von SARS (2003)
Von Jochen Teuffel
In Hongkong tragen Menschen Gesichtsmasken, selbst wenn niemand sonst zugegen und damit keine Möglichkeit eines infektiösen Kontaktes gegeben ist. Es ist die Unsichtbarkeit des SARS-Virus, die offenbar dämonische Vorstellungen freisetzt. Alles Lebensvernichtende kann diesem Virus zugetraut werden. Die Gesichtsmaske im Alltag ist ein apotropäisches, Gefahr abwendendes Schutzsymbol. Mund und Nase als sensible Körperöffnungen müssen bedeckt gehalten werden, damit ein unsichtbarer Feind, vor dem offenbar niemand sicher ist, nicht eindringen kann. »Angst essen Seelen auf« – in Anlehnung an den Titel eines Fassbinder-Films lässt sich die Situation treffend beschreiben.
»Behandele diejenigen, die keine Maske tragen, als möglicherweise ansteckend, selbst wenn sie gesund aussehen.« Dieser Satz findet sich am Ende eines E-Mails, das Anfang April in Hongkong kursierte. Der Autor, ein Klinikarzt, der selbst SARS-Patienten behandelte, monierte die seiner Meinung nach unzureichenden Schutzmaßnahmen. Entgegen der regierungsamtlichen Empfehlung, die das Tragen von Gesichtsmasken nur für den Fall eigener Kontakte mit Infizierten oder beim Vorhandensein von Erkältungssymptomen vorsieht, fordert er das generelle Tragen der Maske.
Rein und Unrein
Wer keine Maske trägt, gilt als infiziert. Eine Hilfe zum Verständnis dieser Logik bietet die Anthropologin Mary Douglas. In ihrem Buch »Purity and Danger« (1966) hat sie die Bedeutung der Unterscheidung von Rein und Unrein für die Integrität einer Gesellschaft unterstrichen. Demzufolge ist die Identifizierung des »Unreinen« immer abhängig von einer ausgearbeiteten kulturellen Ordnung. Unrein ist eine Sache, wenn sie außerhalb dieses Ordnungssystems ist, sei es durch ihre abweichende Beschaffenheit oder dass sie an einem falschen Platz beziehungsweise zu einer falschen Zeit auftaucht. Das Unreine ist das Deplazierte, das sich nicht in einen sinnvollen Zusammenhang einordnen lässt und demzufolge ausgegrenzt werden muss. Mit der Unterscheidung von Rein und Unrein weiß sich eine Gesellschaft nach außen hin abzugrenzen. Nach Douglas kann die Gesellschaft mit ihrem kulturellen Ordnungssystem als sozialer Körper wahrgenommen werden, der durch die physischen Körper ihrer Mitglieder repräsentiert wird. Menschen haben sich in körperlichen Angelegenheiten »rein« zu halten, damit die Gesellschaft nicht verunreinigt wird. Besonders sensibel sind dabei die Körperöffnungen, da diese fremden und damit »gefährlichen« Einflüssen ausgesetzt sind.
Der Ausbruch der SARS-Epidemie hat sowohl das kulturelle Ordnungssystem Hongkongs als auch anderer Regionen Südostasiens verändert. Innerhalb der von der SARS-Epidemie betroffenen Gebiete ist das Tragen von Gesichtsmasken in der Öffentlichkeit zumindest vorübergehend selbstverständlich geworden. Was ursprünglich eine individuelle Schutzmaßnahme Einzelner gewesen ist, hatte sich innerhalb kürzester Zeit zu einem kollektiven »Reinheitsstandard« entwickelt. Der Botschaft des oben genannten E-Mails zufolge müssen im Zeichen vor SARS nicht nur der Anal- und Genitalbereich, sondern auch Mund und Nase als Körperöffnungen bedeckt gehalten werden. Wer gegen diese Ordnung verstößt, gilt als »unrein« und muss aus eigenem Interesse gemieden werden.
Mindestens ebenso weit reichend sind die Folgen der »virtuellen« SARS-Infektion. In den Augen der Weltöffentlichkeit sind ganze Gesellschaften Südostasiens mit dem SARS-Virus infiziert und damit (vorübergehend) als »unrein« diskreditiert. Obwohl gegenwärtig 99,99 Prozent der Bevölkerung Hongkongs frei von dem SARS-Virus sind, repräsentiert jeder Bewohner Hongkongs diese Krankheit und wird demzufolge im Ausland mit äußerster Vorsicht genossen. Um andere Gesellschaften vor der Verunreinigung zu schützen, müssen an den territorialen Grenzübergängen Ein- bzw. Ausreisende mittels Körpertemperaturmessung auf ihre »Reinheit« überprüft werden.
»Wasche Deine Hände regelmäßig mit flüssiger Seife.« So lautet eine regierungsamtliche Schutzempfehlung gegen SARS. »Mit ungewaschenen Händen essen macht den Menschen nicht unrein.« (Mt 15, 20) Jesus scheint ein schlechter Ratgeber in Sachen SARS-Prävention zu sein, wenn er das Gebot des Händewaschens vor dem Essen missbilligt und die Logik einer körperlichen Verunreinigung umkehrt.
Abendmahl mit Latexhandschuhen
Vor allem in der Anfangszeit der SARS-Epidemie sind die christlichen Gemeinden in Hongkong herausgefordert worden: Sollen ungeachtet von Ansteckungsängsten Gottesdienste gehalten und das Abendmahl gefeiert werden? Die meisten Gemeinden haben trotz allem ihre Sonntagsgottesdienste gefeiert, auch wenn das kollektive Tragen von Gesichtsmasken dem Gottesdienst ein bizarres Erscheinungsbild gegeben hat. Der christliche Glaube ist eben keine individuelle Angelegenheit, er bedarf der im Namen Christi versammelten Gemeinde, besonders dort, wo durch Einzelbekehrungen junger Menschen die christliche Familie nicht die Regel ist.
Abendmahl im Zeichen von SARS – wie kann man sich das vorstellen? Der Pfarrer, mit weißer Albe, medizinischer Schutzmaske und Latexhandschuhen, wirkt wie ein Chirurg im Operationssaal. »Christi Leib, für Dich gegeben.« »Christi Blut, für Dich vergossen.« Diese Spendeworte werden maskiert zugesprochen.
Kommunikanten entfernen für kurze Zeit ihre Maske, um die in den Weinkelch eingetauchte Hostie ihrem Mund zuzuführen. Der Empfang des »Brotes des Lebens« und des »Kelches des Heils« scheint gefährlich zu sein. Pharmakon athanasias, »Medizin der Unsterblichkeit« hatte einst Ignatius von Antiochien das heilige Abendmahl genannt. Unter den Bedingungen von SARS verändert sich die Wahrnehmung grundlegend. Wer Heil empfangen will, muss zuerst seine Furcht überwinden, von etwas Unheilvollem angesteckt zu werden.
»Schmecket und sehet, wie freundlich der HERR ist.« (Ps 34, 9) Die Darreichung von Brot und Wein mit Latexhandschuhen ist in der Tat nicht besonders appetitlich. Es lässt sich fragen, ob eine solche Sicherheitsmaßnahme in Gemeinden, in denen kein Infektionsfall aufgetreten ist, wirklich notwendig ist. »Ich weiß und bin gewiss in dem Herrn Jesus, dass nichts unrein ist an sich selbst; nur für den, der es für unrein hält, ist es unrein.« (Röm 14, 14) Den Worten des Apostel Paulus zufolge schafft subjektive Wahrnehmung Realität. Und die angstbesetzte Realität eines Mitmenschen kann nicht ohne weiteres revidiert werden. Von daher ist die Rücksichtnahme der Angstfreien angesagt: »Richtet vielmehr darauf euren Sinn, dass niemand seinem Bruder einen Anstoß oder Ärgernis bereite.« (Röm 14, 13) Wer die eigene innere Freiheit hat, kann dem Bedürfnis und der Sorge anderer entsprechen. »Den Schwachen im Glauben nehmt an und streitet nicht über Meinungen.« (Röm 14, 1) Und doch muss man aufpassen, dass keine Diktatur der Angst (oder der Ängstlichen) entsteht, die ungewollt in die Vereinzelung führt. Schließlich sucht sich die uneingestandene Angst als vernünftig auszugeben.
Anfang April sind die finnischen Missionare ans Hongkong zurück in ihre Heimat beordert worden, eine Sicherheitsmaßnahme wegen SARS. Was bedeutet das, wenn sich Missionare aus persönlichen Sicherheitsgründen zurückziehen und dabei die Menschen, denen sie das Evangelium verkündigt haben, in der Gefahrensituation zurücklassen? Kann man das Evangelium anderen glaubwürdig mitteilen, wenn man deren Lebensumstände letztendlich nicht zu teilen vermag? Martin Luther ließe sich als Fürsprecher für derartiges Tun anführen. In seiner Schrift »Ob man vor dem Sterben fliehen möge« von 1527 erörtert er die Möglichkeit, eine von der Pest bedrohte Stadt verlassen zu dürfen. Der Ausbruch der Pest hatte in der – nach heutigen Verhältnissen gemessenen – Kleinstadt Wittenberg innerhalb von 14 Tagen 18 Todesopfer gefordert.
Nicht mutwillig das Leben riskieren
Generell sind nach Luther Prediger und Seelsorger verpflichtet, »in Sterbens- und Todesnöten zu stehen und zu bleiben.« Schließlich bedürfen Menschen, die vom Sterben bedroht sind, des geistlichen Amtes, »das da mit Gottes Wort und Sakrament die Gewissen stärke und trösten, den Tod im Glauben zu überwinden.« Wo jedoch mehr als genügend Seelsorger (wie gegenwärtig in Hongkong) vorhanden sind, kann es einzelnen Amtsträgern nach Absprache erlaubt werden, die Stadt zu verlassen. Schließlich ist nach Luther der menschliche Lebenserhaltungswille von Gott selbst eingepflanzt »und nicht verboten, wo es nicht wider Gott und den Nächsten ist.« Wer allerdings trotz vorhandener Fürsorgepflicht flieht, sündigt wider Gottes Gebot und wird als ein Mörder an seinem verlassenen Nächsten befunden werden. Für Menschen, die pflichtschuldig in einer Stadt zurückbleiben, gilt, dass sie alle erforderlichen hygienischen Vorsorgemaßnahmen treffen. Man soll das eigene Leben nicht mutwillig aufs Spiel setzen und Gott versuchen. Schließlich hat Gott »die Arznei geschaffen und die Vernunft gegeben, für den Leib zu sorgen und sein zu pflegen, dass er gesund sei und lebe.«
Ursachenforschung
Christinnen und Christen in Hongkong haben sich gefragt, ob der Ausbruch von SARS nicht als Strafe Gottes für eigenes Fehlverhalten anzusehen ist, hatte doch ein Regierungsmitglied, das dem christlichen Glauben angehört, in offizieller Funktion am chinesischen Neujahrsfest Anfang Februar in einem taoistischen Tempel das Los-Orakel befragt. Bevor dies allzu schnell als primitiver Glaube abgetan wird, soll zumindest festgehalten werden, dass eine Bibellektüre solch einen Tat-Ergehen-Zusammenhang nicht ausschließt, wenn es beispielsweise im 5. Buch Mose heißt: »Wenn du aber nicht gehorchen wirst der Stimme des HERRN, deines Gottes, und wirst nicht halten und tun alle seine Gebote und Rechte, die ich dir heute gebiete, so werden alle diese Flüche über dich kommen und dich treffen. (…) Der HERR wird dir die Pest anhängen, bis er dich vertilgt hat in dem Lande, in das du kommst, es einzunehmen.« (5. Mose 28, 15.21)
Inzwischen ist herausgefunden worden, dass es sich bei dem SARS-Erreger um einen mutierten Corona-Virus handelt. Eine derartige genetische Mutation lässt sich mikrobiologisch als einen natürlichen Prozess beschreiben, wobei die Änderung selbst mit ihrer gesundheitsschädigenden Auswirkung dem Zufall überlassen bleibt.
In Unkenntnis des bakteriellen Krankheitserregers macht Luther in der oben genannten Schrift »böse Geister« bzw. den Teufel als Übeltäter für die Pest haftbar, ohne dabei Gottes Allmacht zu ignorieren. »Der Feind hat uns durch Gottes Verhängnis Gift und tödliche Krankheit herein geschickt, so will ich zu Gott bitten, dass er uns gnädig sei und wehre.« Wo Gott nicht außer Acht gelassen wird, selbst auf die Gefahr hin, ihn verdunkelt wahrnehmen zu müssen, kann er im Namen Christi auf das Lebensnot-Wendige angesprochen werden. Und wo die Person des Teufels nicht übergangen wird, kann ein Mensch in die Auseinandersetzung mit seiner eigenen Lebensangst treten, lässt sich doch diese nach Luther als teuflisch entlarven: »Denn so ein bitterböser Teufel ist’s, dass er nicht alleine ohne Unterlass zu töten und zu morden sucht, sondern seine Freude darin sucht, dass er uns scheu, erschreckt und verzagt zum Tode mache, auf dass uns der Tod ja aufs allerbitterste werde oder wenigstens das Leben keine Ruhe noch Frieden habe, und er uns so mit Dreck zu diesem Leben hinaus stoße. Wenn er’s zuwege brächte, dass wir an Gott verzweifeln, unwillig und unbereit zum Sterben würden und in solcher Furcht und Sorge, wie im dunkeln Wetter, Christus, unser Licht und Leben, vergäßen und verlören und den Nächsten in Nöten ließen und uns so an Gott und den Menschen versündigten: das wäre seine Freude und Lust.«
Kampf mit dem Teufel
Es sind die stärksten Worte, mit denen Luther in den Kampf mit dem Teufel tritt: »Hebe dich, Teufel, mit deinem Schrecken. Und weil dich’s verdrießt, so will ich dir zu Trotz nur desto eher zu meinem kranken Nächsten gehen, ihm zu helfen, und will dich nicht ansehen … Hat Christus sein Blut für mich vergossen und sich um meinetwillen in den Tod gegeben, warum sollt ich mich nicht auch um seinetwillen in eine kleine Gefahr begeben und eine ohnmächtige Pestilenz nicht anzusehen wagen? Kannst du schrecken, so kann mein Christus stärken; kannst du töten, so kann Christus Leben geben; hast du Gift im Maul, Christus hat noch viel mehr Arznei. Sollte mein lieber Christus mit seinem Gebot, mit seiner Wohltat und allem Trost nicht mehr in meinem Geist gelten, als du leidiger Teufel mit deinem falschen Schrecken in meinem schwachen Fleisch? Das wolle Gott nimmermehr. Hebe dich, Teufel, hinter mich. Hier ist Christus, und ich bin sein Diener in diesem Werke; der soll’s walten! Amen.«
Auch wenn man den Teufel nicht herbeireden sollte, so haben im Zeichen von SARS Luthers Worte wider den Teufel einen neuen Klang gewonnen. Sie gelten letztendlich als Vorrede zum Bekenntnis: »Hier ist Christus!« Wenn damit alles enden könnte …
Veröffentlicht in: Nachrichten der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern, 58. Jahrgang, Nr. 6, Juni 2003, 180-183.