
Von Leo Tolstoj
Geld! Was ist Geld? Geld ist ein Äquivalent für Arbeit.
Ich habe gebildete Leute getroffen, die allen Ernstes behaupteten, das Geld repräsentiere sogar die Arbeit derjenigen, welche es besitzen. Ich gestehe, daß auch ich früher in unbestimmter Weise zu dieser Ansicht hinneigte. Ich wollte jedoch genau und von Grund auf wissen, was denn eigentlich das Geld sei, und um das zu erfahren, wandte ich mich an die Wissenschaft.
Die Wissenschaft sagt, daß der Begriff des Geldes durchaus nichts Ungerechtes oder Schädliches in sich schließe, daß das Geld die natürliche Grundlage unseres sozialen Lebens sei, dessen wir zur Erleichterung des Umtausches, zur Ermöglichung des Sparens sowie als Wertmesser und Zahlungsmittel unumgänglich benötigen.
Die augenscheinliche Tatsache, daß ich, wenn ich drei überflüssige Rubel in der Tasche habe, in jeder zivilisierten Stadt nur zu pfeifen brauche, um sogleich ein ganzes Hundert von Leuten zur Verfügung zu haben, die für jene drei Rubel auf mein Geheiß die allerschwierigsten, widerlichsten und erniedrigendsten Arbeiten verrichten – diese Tatsache hat ihre Ursache nicht im Gelde, sondern in den höchst verwickelten Bedingungen des wirtschaftlichen Lebens der Völker.
Die Unterjochung des Menschen durch den Menschen rührt nicht vom Gelde her, sondern von dem Umstand, daß der Arbeiter nicht den vollen Ertrag seiner Arbeit erhält. Daß er diesen vollen Ertrag nicht erhält, liegt an den besonderen Eigenschaften des Kapitals, der Rente und des Arbeitslohns sowie an den komplizierten Beziehungen, welche zwischen diesen Faktoren und überhaupt zwischen der Produktion, der Verteilung und der Konsumtion der Güter bestehen. Ohne Redensarten würde man die Sache etwa so ausdrücken: Wer Geld besitzt, hat diejenigen, die keins besitzen, im Sacke.
Die Wissenschaft aber bestreitet das. Die Wissenschaft sagt: an der Hervorbringung jeglichen Produktes sind drei Faktoren beteiligt: der Grund und Boden, die Produktionsmittel und die Arbeitskraft. Daraus nun, daß der Inhaber der Arbeitskraft nicht zugleich Inhaber der beiden anderen Faktoren ist, entsteht jenes äußerst verwickelte Verhältnis, welches die Abhängigkeit des Menschen vom Menschen, die Unterjochung des Menschen durch den Menschen bedingt. Woher aber stammt diese Herrschaft des Geldes, die uns alle durch ihre Grausamkeit betroffen macht? Wie kommt es, daß ein Teil der Menschen vermittels des Geldes den anderen Teil in Abhängigkeit erhält? Die Wissenschaft sagt, es komme von jener Teilung der Produktionsfaktoren, welche auf den Arbeiter einen Druck ausübten. Diese Antwort kam mir immer etwas sonderbar vor. Es wird behauptet, daß diese drei Faktoren an jedem Produkte ihren Anteil haben und daß füglich das erzeugte Gut – oder der Wert, der Erlös desselben, das Geld – sich billigerweise unter alle drei verteile, und zwar als Rente für den Grundbesitzer, als Kapitalgewinn für den Besitzer der Produktionsmittel und als Arbeitslohn für den Arbeiter. Liegen die Dinge wirklich so? Ist es vor allem richtig, daß jene Faktoren, und einzig nur sie, an der Hervorbringung eines jeglichen Produktes ihren Anteil haben?
Während ich diese Zeilen schreibe, wird rings um mich Heu produziert. Aus welchen Faktoren setzt sich dieses Produkt zusammen? Ich sehe, daß hier die Dreiteilung nicht stimmt, daß außer dem Grund und Boden, den Arbeitsgeräten und der Arbeit noch andere Dinge in Frage kommen: die Sonne, das Wasser, die gesellschaftliche Organisation, welche das Gras auf der Wiese vor dem Abweiden durch fremdes Vieh schützt, die besondere Geschicklichkeit der Schnitter, ihre Fähigkeit, sich vermittels der Sprache zu verständigen, und noch zahlreiche andere »Faktoren«, welche die Nationalökonomie aus irgendwelchen Gründen als solche nicht anerkennen mag. Sonnenwärme und Sonnenlicht sind für jede Art von Produktion ein noch notwendigerer Faktor als selbst der Grund und Boden. Ich kann mir sehr wohl vorstellen, daß jemand, insbesondere in der Stadt, das Recht für sich in Anspruch nimmt, einen anderen durch Mauern oder Baumpflanzungen des Sonnenlichts zu berauben, und auch mit dem Wasser und der Luft ist dies der Fall. Einen ganzen Band könnte ich mit der Aufzählung der verschiedenartigsten Faktoren anfüllen, die alle an der Hervorbringung der mannigfachen Produkte ihren Anteil haben. Weshalb übergeht die Wissenschaft sie, weshalb spricht sie immer nur von jenen drei Faktoren der Produktion? Doch wohl nur deshalb, weil auf jene anderen Dinge – die Strahlen der Sonne, das Wasser, die Luft usw. – selten jemand einen Anspruch erhebt, während das Streben nach Grundbesitz und Kapitalbesitz in unserer Gesellschaft ganz allgemein ist.
Die Wissenschaft hält sich also nicht an den wesentlichen Kern der Dinge, sondern sie paßt ihre Meinungen den augenblicklich bestehenden, dem Wechsel unterworfenen Zuständen an und spricht willkürlich von denjenigen drei Faktoren, die ihr gerade in die Augen fallen, oder auf die sie die Aufmerksamkeit hinzulenken wünscht. Der Arbeiter soll des Grund und Bodens und der Arbeitsmittel beraubt sein – wenn wir uns nur ein klein wenig in den Sinn dieser These versenken, dann erkennen wir den inneren Widerspruch, den sie enthält. Der Begriff des Arbeiters schließt auch den Grund und Boden, die Erdoberfläche ein, auf welcher er lebt, sowie die Geräte, deren er sich bei seiner Arbeit bedient. Einen Arbeiter, der nicht auf der Erdoberfläche lebt und sein notwendiges Arbeitsgerät nicht besitzt, hat es niemals gegeben und kann es niemals geben. Wenn der Landarbeiter kein Land, kein Pferd und keine Sense besitzt, wenn der Schuhmacher kein Haus und keine Ahle hat, so heißt das ebensoviel, daß irgend jemand sie all dieser für sie notwendigen Dinge beraubt hat, nicht aber, daß es Landarbeiter ohne Pflug und Schuhmacher ohne Handwerkszeug geben kann. Wie man sich einen Fischer ohne Fischgerätschaften, auf trockenem Lande, nur unter der Bedingung vorstellen kann, daß ihn irgend jemand von seinem See vertrieben und seiner Gerätschaften beraubt hat, so sind auch der Landarbeiter und der Schuhmacher ohne die für ihre Arbeit notwendigen Faktoren nur denkbar, wenn ihnen diese Faktoren mit Gewalt vorenthalten werden.
Wohl kann es Menschen geben, die auf der Erdoberfläche von Ort zu Ort gejagt werden, wie auch solche, denen man ihr Arbeitsgerät genommen, und die man zwingt, mit fremdem Arbeitszeug Dinge anzufertigen, deren sie nicht bedürfen, aber das will doch nur sagen, daß es Fälle gibt, in denen die natürliche Ordnung der Dinge gestört ist. Wenn die Wissenschaft all die Dinge, welche dem Arbeiter durch einen andern geraubt werden können, als Faktoren der Produktion betrachtet – weshalb hält sie dann den Anspruch des Sklavenbarons auf die Persönlichkeit des Sklaven nicht für einen solchen Faktor? Es kann jemand auf die Strahlen der Sonne einen Besitzanspruch erheben oder einen Mitmenschen als sein Eigentum betrachten, als einen natürlichen Produktionsfaktor jedoch darf er einen solchen auf die Gewalt gestützten Anspruch nicht betrachten. Ebensowenig aber ist ein Anspruch auf den Grund und Boden oder auf die Arbeitsgeräte als ein natürlicher Faktor der Produktion zu betrachten. Die Wissenschaft kann nur konstatieren, daß es derartige Ansprüche gibt, welche das natürliche Produktionsverhältnis stören und den Arbeiter der natürlichen Produktionsbedingungen berauben, sie darf jedoch diese zufällige, wenn auch noch so häufig beobachtbare Störung nicht als das Grundgesetz der Produktion betrachten. Der Nationalökonom, welcher das dennoch tut, gleicht jenem Zoologen, der eine Anzahl von Zeisigen mit beschnittenen Flügeln in Käfigen mit Wassernäpfen gesehen hat und daraus den Schluß zieht, daß die beschnittenen Flügel, die Käfige und Wassernäpfe die drei natürlichen Lebensbedingungen dieser Vögel seien. In der Lage dieser Zeisige befinden sich die Arbeiter ohne Grund und Boden und ohne Produktionsmittel, und die Tatsache, daß sie nach Millionen zählen, berechtigt die Wissenschaft noch nicht, diese Lage als eine natürliche zu betrachten und aus dem zufälligen Sachbestand ein allgemein gültiges Produktionsgesetz abzuleiten.
Die lebendige Wirklichkeit hört nicht auf, immer wieder diese Fragen zu stellen, und zuletzt wird denn auch die Wissenschaft nicht umhin können, sich mit ihnen zu beschäftigen. Dann aber muß sie aus dem Zauberkreise, in welchem sie sich gegenwärtig befindet, und in dem sie sich gleichsam beständig um sich selbst dreht, in das volle Leben hinaustreten und den Dingen mit mutiger Stirn ins Antlitz sehen. Dann werden durchaus neue Meinungen und Anschauungen Platz greifen, welche die heutige Pseudo-Wissenschaft mit ihren Einteilungen und Grundprinzipien über den Haufen werfen und der Auffassung des gesunden Menschenverstandes zur Anerkennung verhelfen werden. Auch die Frage, was Geld sei, wird alsdann ihre Lösung finden, und es wird sich herausstellen, daß das Geld durchaus nicht jenes unschuldige Mittel der Wertmessung, der Verkehrserleichterung und der Sparmöglichkeit ist, als welches die Wissenschaft es gegenwärtig darstellt, sondern daß es das erste und vorzüglichste Mittel der Unterjochung des Menschen durch den Menschen ist, mit einem Wort, daß es ist: geronnene Gewalt.
Aus dem Russischen von August Scholz.
Quelle: Freie Bühne für modernes Leben, hrsg. v. Otto Brahm, Berlin, 1. Jahrgang, Heft 1, 29. Januar 1890, S. 3-5.