Wie kaum ein anderer hatte sich Frieder Schulz (1917–2005) um die historische wie auch theologische Erschließung der gottesdienstlichen Gebete verdient gemacht. Hier sein Artikel „Das Gebet im deutschsprachigen evangelischen Gottesdienst“ aus der TRE:
Das Gebet im deutschsprachigen evangelischen Gottesdienst
Von Frieder Schulz
„Nächst dem Predigtamt ist das Gebet das höchste Amt in der Christenheit“ (WA 34/1, 395,14f). „Man kann und soll wohl überall, an allen Orten und zu jeder Stunde beten; aber das Gebet ist nirgends so kräftig und stark, als wenn der ganze Haufen einträchtig miteinander betet“ (WA 49, 593,24-26). Die Äußerungen M. Luthers über die Bedeutung des Gebers in der versammelten Gemeinde und sein häufig wiederholter Hinweis auf Gebot und Verheißung des Gebets kennzeichnen die Wandlung in Gebetsverständnis und Gebetspraxis nach dem Verständnis der Reformation: Das Gebet ist nicht Mittel und Werk, um Gottes Gnade und Hilfe zu erlangen, sondern Antwort des Glaubens auf das, „was Gott an uns gewendet hat“ (Luther).
Weil also das Gebet Frucht der Evangeliumsverkündigung ist, hat die Darstellung seiner geschichtlichen Entwicklung und seiner Ausdrucksformen in erster Linie das Gebet in der versammelten Gemeinde ins Auge zu fassen, wo das die Antwort auslösende Wort gepredigt wird. Das Gebet des einzelnen ist, wie die Liebestat des einzelnen, im Grunde nur Auswirkung und Ausübung des durch die Predigt geweckten und genährten Glaubens. Um Wiederholungen zu vermeiden, wird im folgenden das evangelische Gemeindegebet behandelt, während die Entwicklung des privaten Betens einschließlich seiner zeitweise engeren, zeitweise auch gestörten inhaltlichen und praktischen Beziehung zum gottesdienstlichen Beten auch aus sachlichen Gründen im Artikel Gebetbücher dargestellt ist.
Das „Kirchengebet“ aus reformatorischem Ansatz ist grundsätzlich volksprachliches Gemeinde-Gebet, inhaltlich begründet, geprägt und abgegrenzt durch die biblische Überlieferung, insbesondere durch das exemplarische Leitbild des Vaterunsers. Gleichwohl knüpft dieses evangelische Gemeindegebet der Reformationszeit durchweg an überlieferte Ausdrucksformen des öffentlichen Gebets der abendländischen Christenheit an und begründet seinerseits wieder eine eigene Tradition des von der verdeutschten Bibel geprägten gottesdienstlichen Betens, eine Tradition, die sich auch dann durchhält, [72] wenn das Bedürfnis nach Zeitgemäßheit in Sprache und theologischer Aussage vorherrschend ist oder wenn gegenüber dem als formelhaft empfundenen geprägten Gemeindegebet neue Lebendigkeit im persönlichen und situationsgerechten „freien“ Gebet des Vorbeters gesucht wird.
- Das Allgemeine Kirchengebet
Auffallendes Kennzeichen eines evangelischen Gottesdienstes war im deutschen Sprachgebiet neben der volkssprachlichen Predigt schon früh die volkssprachliche Fassung des Fürbitten-Gebets, nachdem in der lateinischen Messe schon seit dem 5. Jh. die alte oratio fidelium aus dem Hörbereich der Gemeinde herausgenommen und in den vom Priester leise gesprochenen Canon Missae verlegt worden war. Doch hatten sich Reste alten Brauches erhalten, und spätmittelalterliche Neubildungen im Zusammenhang mit der volkssprachlichen Predigt entsprachen dem Bedürfnis des Volkes, das seine Anliegen ins Gebet der Kirche aufgenommen haben wollte.
1.1. Gebetsvermahnung und Vaterunser. Schon die Benediktusregel (cap. 13 und 17) kannte diesen Gebetstypus, der die offene Reihe der Bitten (litania) mit dem Vaterunser als zusammenfassender Schlußkollekte verband (vgl. Jungmann, Wortgottesdienst 63ff). Wie das Manuale Curatorum von Ulrich Surgant (Basel 1503 u.ö.) ausweist, war es vor allem in Süddeutschland üblich, der Predigt in der Volkssprache das volkssprachliche Gebet pro omni statu ecclesiae in der Form einer Prosphonese (Bittet für … um …) mit abschließendem gemeinsam gesprochenen Vaterunser folgen oder vorausgehen zu lassen.
An diese offenbar weit verbreitete Praxis konnte die Reformation anknüpfen. Entweder wurden nur Stichworte zu freier Formulierung gegeben wie in Mecklenburg 1540 (EKO 5,154) und 1552 (EKO 5,198), Pommern 1535 (EKO 4,341) und Kurland 1570 (EKO 5,89), oder die Agenden enthielten formulierte Prosphonesen wie in Zürich 1523/25 (Schmidt-Clausing 89ff), Basel 1526 (Smend 216), Breslau 1526 (Löhe 193), Braunschweig 1528 25 (EKO 6,443), Augsburg 1537 (EKO 12,70), Naumburg 1537 (EKO 2,80), Calenberg 1542 (EKO 6,793), Lüneburg 1564 (EKO 6,545), Pommern 1569 (Höfling 235), Lauenburg 1585 (Höfling 240); ebenso die jeweils abhängigen Agenden.
In der Deutschen Messe, 1526, verband Luther, der diese Form des Gemeindegebets kannte (vgl. WA 49, 613,29; 614,6-9; 52, 732,33-733,38), das Vaterunser mit den speziellen Bitten noch enger, indem er eine prosphonetische Vaterunserparaphrase ausformulierte, die dann in gleichbleibender Wortgestalt „praescriptis verbis“) der Gemeinde das „angewandte“ Vaterunser einprägen sollte (WA 19, 97,3-7). Diesem Vorbild folgten die Vaterunserparaphrasen von Naumburg 1527 (EKO 2,60) und Veit Dietrich, Agendbüchlein, 1543 (EKO 11,500). Dieser gestaltete außerdem im Anschluß an Formulierungen Luthers eine in der Hauspostille, 1544, veröffentlichte Gebetsvermahnung, die in amtliche Agenden überging (EKO 2,308). M. Bucer 1539 (EKO 8,120f) und J. Calvin 1542 (Beckmann 155f. 303f) nahmen Luthers Anregung so auf, daß sie das ausführliche Kirchengebet mit einer knappen Vaterunserparaphrase abschlossen. Schließlich boten Kurpfalz 1563 (EKO 14,390ff) und 1577 (EKO 14,159) Vaterunserparaphrasen in epikletischer (an Gott gerichteter) Gebetsform. Die Form der Prosphonese mit abschließendem Vaterunser bzw. mit Vaterunserparaphrase trat im Laufe der Zeit mehr und mehr zurück gegenüber epikletischen Formen der Fürbitte.
1.2. Die Litanei als Volksgebet. Das Kyrie im Eingang der Messe erinnert daran, daß hier einmal eine Kyrie-Litanei gebetet wurde, wie sie der Liturgie der Ostkirche bis heute eigen ist. Immerhin bewahrte das monastische Gebet in den Preces die alte Litania ad Landes et Vesperas, wobei allerdings die Kyrie-Rufe durch Psalm-Versikel ersetzt wurden. Volkstümliche Bedeutung gewann diese Gebetsform in der verselbständigten und reicher ausgeformten Allerheiligenlitanei, die als Prozessionsgebet vor allem an Bittagen und zu besonderen Anlässen in Gebrauch kam.
Luther wurde durch die Türkengefahr veranlaßt, eine evangelische Fassung der Allerheiligenlitanei herzustellen (dabei Ausscheidung der Heiligenanrufung). Sie erschien 1529 in lateinischer Fassung für Lateinschülerchöre an Stadtkirchen und in deutscher Fassung zum [73] Wechselgesang zwischen Einzelsängern und Gemeinde. Bemerkenswert ist die kunstvolle Symmetrie des Aufbaus und die sorgfältige, an das Verfahren bei der Deutschen Messe erinnernde, von Luther selbst stammende musikalische Gestaltung. Offenbar wollte Luther um der gemeinsamen Ausführbarkeit willen ein singbares ausdrückliches Gemeinde-Gebet schaffen. Von inhaltlicher Bedeutung war die zentrale Stellung der christologischen Prädikationen und die reformatorische Akzentuierung und Aktualisierung der Fürbitten.
Als Gemeindegebet in besonderen Gottesdiensten fand die Litanei weite Verbreitung und Aufnahme in den Agenden und Gesangbüchern, so in Sachsen 1539 (EKO 1,272), Brandenburg 1540 (EKO 3,74), Veit Dietrich, Agendbüchlein, 1543 (EKO 11,503), Calenberg 1542 (EKO 6,811), Lüneburg 1564 (EKO 6,552), außerdem in Württemberg 1553 (EKO 14,159ff, wo sie beim Fehlen eines Schülerchors auch vom Pfarrer vorgesprochen werden konnte); ebenso in den abhängigen Agenden.
Verschiedene Agenden ordneten den Gesang der Litanei für den Fall an, daß im Sonntagsgottesdienst keine Kommunikanten vorhanden waren, z.B. Brandenburg 1540 (EKO 3,74), Mecklenburg 1552 (EKO 5,200.202), Pommern 1569 (EKO 4,439f) und Wolfenbüttel 1569 (EKO 6,150). In Lüneburg 1564 (EKO 6,543) wurde zwischen Epistel und Evangelium (vgl. EKO 11,368) eine epikletisch gefaßte monologische Kurzform der Litanei gebetet. Auch sonst drangen die Spezialbitten der Litanei in andere Formen des Allgemeinen Kirchengebets ein, so in Pommern 1569 (Höfling 234), Lüneburg 1564 (EKO 6,545f), Lauenburg 1585 (Höfling 240) und Kurpfalz 1577 (EKO 14,159).
Nachdem in der Epoche der Aufklärung die Litanei teilweise verdrängt oder als monologisches Gebet ohne Gemeindebeteiligung zeitgemäß umgearbeitet worden war (z.B. Württemberg 1809,290ff), wurde sie im 19. Jh. wieder mit dem ursprünglichen Text in neu bearbeitete Agenden aufgenommen, so in Preußen 1829 und 1895 (jeweils im Anhang); W. Löhe, Agende, 21853,149ff (mit ausführlicher Einführung); Bayern 1856, 99ff (mit Noten); Baden 1858,49ff. 93ff. Schon im 16. Jh. hatte die Litanei als Bittgebet in Notzeiten auch den Charakter eines Bußgebets angenommen, z.B. in Württemberg 1553 (= EKO 14,161). Entsprechend wurde sie im 19 Jh. dem Buß- und Bettag, teilweise auch dem Karfreitag als Allgemeines Kirchengebet zugewiesen, jedoch meist nur gesprochen und vielfach ohne Beteiligung der Gemeinde an den Bittrufen, so in Preußen 1829 (I, 50ff).
Der reformierten Tradition, die das responsorische Beten nicht schätzte, blieb die Litanei immer fremd. Eine Frühform der Litanei, die ostkirchliche „Ektenie“ aus der Chrysostomos-Liturgie (BKV 5,220) fand im 19. Jh. erstmals Eingang in die evangelische liturgische Tradition durch die Preußische Agende 1829 (II, 71f) und 1895 (I, 13f).
1.3. Das Diakonische Gebet (Kollekten-Reihe). In den Orationes sollemnes des Karfreitags hat die lateinische Kirche eine sehr alte Form des Allgemeinen Kirchengebets bewahrt. Sie bestand aus einer Reihe von kurzen Prosphonesen mit Angabe des Gebetsgegenstandes durch einen Diakon, worauf die Gemeinde niederkniete und still betete. Zum jeweils abschließenden Kollektengebet des Vorstehers erhob sie sich wieder und beschloß das Gebet mit Amen.
Auch an diese Form eines aufgegliederten und aufgeteilten Gemeindegebets knüpfte man in der Reformationszeit an, als es galt, das volkssprachliche Kirchengebet zu ordnen. Das früheste Beispiel für eine aus zehn Gliedern bestehende Reihe von Prosphonesen und Kollekten findet sich als Beigabe im Katechismus des Andreas Althamer 1528 (MGP XXII/3, 34ff); die Gebete stammen nach M. Brecht von Job. Brenz (ZSRG.K 55 [1969] 327), der diese Form (mit 7 Gliedern) auch in Schwäbisch Hall 1543 (Löhe 204f) und Württemberg 1553 (= EKO 14,151ff) aufgenommen hat. Auch Waldeck 1556 (Precationes solennes, Bl. Q 4aff) und Frankfurt 1565 (Höfling 102ff) boten das diakonische Gebet. Freilich dürfte in allen Fällen die Zuweisung der Prosphonesen an einen zweiten Vorbeter („Diakon“) unterblieben sein. Auch stellte schon Württemberg 1553 (= EKO 14,156ff) neben die dialogische Form des Gebets eine kürzere, monologische Fassung, die das Diakonische Geber in der Folgezeit verdrängte. Erst Löhe (Agende, 21853,201ff) machte wieder auf das Diakonische Gebet aufmerksam, worauf es vereinzelt in Agenden Aufnahme fand, so in Bayern 1856,156ff [74] (als Kirchengebet) und Baden 1858,152ff.157 (bei Gebetsgottesdiensten). Doch waren Pfarrer und Gemeinden noch nicht bereit, das dialogisch strukturierte Gebet auch dialogisch auszuführen.
Weitere Versuche der Reformationszeit, das volkssprachliche Fürbittengebet als Reihe von mehreren Kollekten, jedoch ohne Prosphonesen, zu gestalten, schlossen sich an die mittelalterliche Sitte an, nach dem Gloria mehrere (bis zu sieben) Meßkollekten hintereinander zu beten, so Brandenburg-Nürnberg 1533 (EKO 11,188ff), Veit Dietrich 1543 (EKO 13,495ff) und Pfalz-Neuburg 1543 (EKO 13,71), oder sie ersetzten die Kanon-Gebete durch deutsche Kollekten für die Obrigkeit, die Diener des Wortes und die Einigkeit der Christen, so Brandenburg 1540 (EKO 3,68 f), Calenberg 1542 (EKO 6,815f) und Pfalz-Neuburg 1543 (EKO 13,74). Doch setzte sich diese Form des Kirchengebets nicht durch.
1.4. Das Gebet nach der Predigt. Die „gemeinen Gebete in fortlaufender Gebetsform“ (Löhe) haben unterschiedliche Wurzeln. Es kann sich um Fortbildungen oder Verkürzungen dialogischer Gebetsformen handeln, etwa indem bei der Gebetsvermahnung mit Vaterunser bzw. bei der Vaterunserparaphrase die Prosphonese zum epikletischen (an Gott gerichteten) Gebet umgebildet wird (Kurpfalz 1563) oder indem die Litaneibitten unter Ausscheidung der Bittrufe der Gemeinde zu einem monologischen Fürbittengebet gestaltet werden (Lüneburg 1564) oder indem die Reihe der Kollekten zu einem längeren Gebet zusammenwächst (Württemberg 1553).
Das allmähliche Zurücktreten dialogischer Gebetsformen zeigt, daß es im Reformationszeitalter letztlich nicht gelang, das Priestertum aller Gläubigen beim gottesdienstlichen Gebet zur Geltung zu bringen: Allgemein durchgesetzt hat sich das monologische Gebet des Predigers gewiß auch aus ganz praktischen Gründen. Immerhin blieb fast durchweg die gemeinsam gesprochene „Volks-Kollekte“, das Vaterunser, als Abschluß des allgemeinen Kirchengebets erhalten.
In Südwestdeutschland, also im Gebiet des auf die Predigt konzentrierten oberdeutschen Prädikantengottesdienstes, entwickelte sich schon früh ein sprachlich und inhaltlich der Predigt zugeordnetes epikletisches Gemeindegebet, das vom Prediger vorgesprochen wurde, während die Gemeinde nur im Liedgesang zu Wort kam. In Straßburg trat dieses „homiletische Gebet“ an die Stelle des Meßkanons, der den Rest der alten Fürbitten enthielt (Te igitur, Memento); es rückte in den späteren Ausgaben (1537ff) nach Wegfall der Präfation näher an die Predigt und zog dann auch das Vaterunser als Abschluß an sich (drei inhaltlich ähnliche Formen: Hubert 100f. 103ff. 105ff). Die langen Fürbittengebete in Kassel 1539 (EKO 8,120f), Genf 1542 (Beckmann 301ff), Köln 1543 (Bl. 106aff) sowie Hessen 1566 und 1574 (EKO 8,318. 438f) waren Ausformungen des Straßburger Gebets (Bucer). Kurpfalz 1563 (EKO 14,389ff) bot fünf „Gebete nach der Predigt“, darunter die kurze Form aus Württemberg 1553, das Wochentagsgebet aus Zürich 1535 (Schmidt-Clausing 107) und das stark erweiterte Straßburger Gebet.
Die in den Agenden festgehaltenen Gebete nach der Predigt aus dem 16. Jh. erwiesen sich dank des stereotypen Gebrauchs und der prägenden Sprachgestalt als bemerkenswert beständig. Dahinter stand auch die Autorität der Obrigkeit, die über Text und Inhalt des Fürbittengebets wachte. Ein Beispiel dafür war das vom reformiert gewordenen Landesherrn Preußens für reformierte und lutherische Gemeinden herausgegebene und verbindlich gemachte „preußische“ Kirchengebet (1713/1717), das zum festen Bestandteil der evangelischen Gebetstradition geworden ist.
Im 17. und 18. Jh. übernahmen die Agenden teilweise längere Gebete, besonders zu den Festzeiten, aus verbreiteten Gebetbüchern. Das Festliche wurde jetzt nicht mehr im liturgischen Proprium, sondern im homiletischen Kern des Gottesdienstes gesucht; dort konnte es sich individueller und gefühlvoller äußern. In der Aufklärungsepoche führte die Nachbarschaft der Predigt zu ausgedehnten predigtartigen Gebeten in belehrendem, rührendem oder so pathetischem Ton, wobei oft die theologische Substanz verloren ging. Trotz der Bestrebungen zur Wiedergewinnung eines dialogischen Gemeindegebets blieb im 19. Jh. das „Predigergebet“ vorherrschend und betonte, auch wenn es an den Altar verlegt wurde, die Rolle [75] des Pfarrers, der „den Gottesdienst hält“. Im Gegensatz zum 16. Jh. konnten konfessionelle Profile am Allgemeinen Kirchengebet nicht mehr festgemacht werden.
1.5. Der Inhalt des Allgemeinen Kirchengebets. Auch im Inhalt schlossen sich die volkssprachlichen Fürbittengebete zunächst an die Vorbilder der lateinischen Kirche an. Es ging s um die gleichen Amtspersonen, Hilfsbedürftigen und Bedürfnisse wie im Karfreitagsgebet, in der Allerheiligenlitanei oder der deutschen Gebetsvermahnung: um die Kirche und ihre Diener, die weltliche Obrigkeit, die Kranken und Bedrängten, die Reisenden und Schwangeren, die Früchte des Feldes usw. Doch setzte Luther durch Einfügung konkreter Einzelbitten aus den Gebetsvermahnungen in seiner Litanei neue Akzente, vor allem durch Bitten für den Lauf des Evangeliums und um Abwehr von Bedrohungen und Spaltungen in der Gemeinde.
Mit der Vaterunserparaphrase versuchte Luther noch stärker, das unter dem Gebot und der Verheißung Jesu stehende, erhörungsgewisse Beten einzuüben und dem Gemeindegebet den Charakter eines Werkes und Pensums zu nehmen. Die paradigmatische Bedeutung des Betens nach der biblischen Norm des Vaterunsers hat dazu beigetragen, daß später in den meisten evangelischen Gemeindegebeten eine bestimmte Rangfolge der Gebetsanliegen eingehalten wurde: Zuerst geht es um Gottes Sache (1.-3. Bitte), dann um die irdischen Bedürfnisse (4. Bitte) und schließlich um die Angefochtenen und Bedrängten (5.-7. Bitte).
Vom Ende des 16. Jh. an wurde die inhaltliche Bindung an das Vaterunser lockerer und formaler: Die Gebete öffneten sich mehr für konkrete Bitten und Bedürfnisse, wie sie in der Litanei aneinandergereiht waren. Zugleich aber verstärkte sich die Tendenz, das Gebet der gesellschaftlichen Ordnung gemäß zu strukturieren. Es ging dann um das geistliche und das weltliche Regiment, so in Preußen 1568 (EKO 4,83f), oder um den geistlichen, den weltlichen und den Ehe-Stand, so in Ulm 1656 (Löhe 209). Dazu kam die Gewohnheit, den Landesherrn samt Familienangehörigen und Amtsleuten mit Rang und Titel zu nennen, so daß das „Kirchengebet“ zur Einübung in staatstreue Gesinnung dienen konnte. Die Geschichte des Allgemeinen Kirchengebets hat gezeigt, wie schnell es zur Manipulation und Indoktrination mißbraucht werden kann, wenn das Vaterunser nicht mehr inhaltlich zur Geltung kommt, wie es Luther gewollt hat.
- Die Kollektengebete
Wo die Reformation für den volkssprachlichen Gottesdienst den Meßtyp zugrundelegte, da ergab sich die Notwendigkeit, über die Beibehaltung der Kollektengebete zu entscheiden. Luther sagte dazu 1523, man möge sie beibehalten, wenn sie „fromm“ seien, was bei den Sonntagskollekten normalerweise der Fall sei (vgl. WA 12, 209,14f). Nächster Schritt mußte dann die Eindeutschung sein: zwischen 1526 und 1534 veröffentlichte Luther insgesamt 15 nach lateinischen Vorlagen übertragene und 3 neu geschaffene deutsche Kollekten, von denen 17 in den Ausgaben des Klugschen Gesangbuchs (1533ff) abgedruckt wurden. Brandenburg-Nürnberg brachte 1533 (EKO 11,188 ff) 27 ebenfalls nach lateinischen Vorlagen übertragene deutsche Kollekten, darunter 6 von Luther und 10 aus dem Althamerschen Katechismus. Luthers und die Nürnberger Gebete bildeten in vielen reformatorischen Kirchenordnungen den festen Grundstock an Kollekten, der später nicht ersetzt, sondern lediglich ergänzt wurde.
Im Gegensatz zu früheren Übersetzungen, die durch eine holprige Wörtlichkeit gekennzeichnet waren, zeigten die evangelischen Kollekten einen freieren Umgang mit den Vorlagen, um in Satzstruktur, Rhythmus und Sprachmelodie wirkliche Eindeutschungen zustande zu bringen. Das Bedürfnis nach einer der deutschen Sprache eigenen größeren Redundanz führte teilweise dazu, daß zwei lateinische Kollekten zu einer deutschen zusammengearbeitet wurden.
Die eigentliche Bedeutung der evangelischen Kollekten liegt jedoch darin, daß sie das sprachliche Gefäß wurden, in dem sich der reformatorische Glaube betend aussprechen konnte. Luther fügte die Kollekten den neuen Kirchenliedern im Gesangbuch bei, weil sie die Gemeinden in evangelisches Beten einüben sollten. Denn der Aufbau einer Kollekte, in der sich der Beter zunächst der in einer Prädikation angesagten Heilstat Gottes erinnert, um daraufhin vertrauensvoll zu bitten und dann in der Konklusion mit dem Ausblick auf die ver-[76]heißene Erfüllung zu schließen, entsprach ganz dem reformatorischen Ansatz, wonach das Gebet des Glaubens, das immer neu gelernt werden muß, aus dem vorgängigen Zuspruch des Evangeliums erwächst und im Bekenntnis zu Christus als dem Bürgen und Fürsprecher der Erhörung gewiß wird.
Bis zur Mitte des 16. Jh. kamen die Kirchenordnungen mit dem nur geringfügig erweiterten Grundstock von einigen allgemeinen Kollekten und den Kollekten für die Festzeiten aus. Die Weiterentwicklung der evangelischen deutschen Kollekte ist auf den Lutherschüler Veit Dietrich zurückzuführen, der schon in seinem Agendbüchlein, 1543 (EKO 11,496f) 7 neu geschaffene Kollekten vorgelegt hatte. Dietrich veröffentlichte 1546 seine Kinderpredigten und stellte hinter jede Sonntagsperikope mit Auslegung ein zusammenfassendes kurzes Gebet im Kollektenstil. Prädikation und Bitte bezogen sich dabei auf den vorausgehenden Bibeltext, es entstand die „Textkollekte“ als charakteristische Form evangelischen Betens. Seit Sachsen 1555 (EKO 1,275ff) ergänzten die Kirchenordnungen in der Folgezeit ihren Bestand an Kollekten durch den Rückgriff auf Dietrichs Textkollekten; Hoya 1581 (EKO 6,1148) verwies sogar auf den vollständigen Zyklus bei Veit Dietrich. Auf das Gebetbuch des Johann Mathesius 1563, das Gebete zu den sonntäglichen Evangelienperikopen enthielt, wurde in Lauenburg 1585 verwiesen. Österreich u. E. 1571 übernahm sogar 111 Texte aus Mathesius.
Bis zum Ende des 16. Jh. waren zwar gelegentlich einzelne lateinische Kollekten zusätzlich übersetzt und in die Kirchenordnungen aufgenommen worden, so in Calenberg 1542 (EKO 6,812ff), Mecklenburg 1545 (EKO 5,152), Spangenberg, Kantionale, 1545, Sachsen 1555 (EKO 1,275ff), Lüneburg 1564 (EKO 6,568ff). Jedoch kam es zu keiner geschlossenen Übernahme des verdeutschten Zyklus der Meßkollekten in die Agenden. Preußen 1525 und 1544 (EKO 4,37.72) brachte zwar eine Verdeutschung, die aber mangels sprachlicher Qualität bereits 1568 verschwand. Die Übersetzung der Meßkollekten durch Michael Coelius erschien in einem zum privaten Gebrauch (vor 1550) und wurde wie die verdeutschten Meßkollekten im Missale des Matthias Ludecus (1589) nicht in die Agenden des 16. Jh. übernommen. Die nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich begründete Eigenprägung eines evangelischen Kollektengebets setzte sich überall durch. Dem entspricht auch die Beobachtung, daß die Agenden an keiner Stelle Texte aus der mittelalterlichen und jesuitischen Gebetsliteratur übernommen haben, im Gegensatz zu den evangelischen Gebetbüchern, die in der 2. Hälfte des 16. Jh. sich bereitwillig katholisch-mystischen Einflüssen geöffnet haben.
Das Zeitalter der Aufklärung wußte mit den überlieferten „altertümlichen“ Kollektengebeten nicht viel anzufangen. Entweder ließ man sie ganz weg oder man verfertigte neue, meist wortreichere, inhaltlich verflachte Kollekten. Die Funktion der Summarienkollekten von Veit Dietrich blieb dort erhalten, wo neue Kollektengebete als Summarium der in der Predigt verkündigten Wahrheiten und Sittenlehren geschaffen wurden. Kollekten in Gedichtform, womöglich im Wechsel gesprochen, erinnerten daran, daß die alten Kollekten bestimmten sprachlichen Stilgesetzen folgten und im Altargesang ausgeführt worden waren.
Erst die Preußische Agende 1822/29, die den Gottesdienst im Meßtyp wiederherstellte, brachte die alten evangelischen Kollekten als „Gebet vor der Epistel“ wieder zur Geltung, und zwar 11 für die Hauptfeste und 36 allgemeine, jeweils mit davorgesetztem Versikel. Löhe sammelte in seiner Agende 71 (1844) bzw. 130 (1853) Kollektengebete aus der evangelischen Überlieferung und fügte seinem Perikopenbuch (1861) den vollständigen Zyklus der verdeutschten Meßkollekten bei. Hannover 1852 (Petri) bot 62 Kollekten der regionalen Überlieferung. Ein erneuerter Kanon evangelischer Kollektengebete bildete sich im 19. Jh. heraus durch die Agenden Bayern 1856 (76 Kollekten), Sachsen 1880/1906 (151 Kollekten), Hannover 1889 (83 Kollekten), Preußen 1895 (93 Kollekten) u.a. Während Bayern 50 und Hannover sich auf Kollekten der reformatorischen Tradition beschränkten, boten Sachsen und Preußen zusätzlich neue Kollekten „im alten Stil“.
Trotz der verhältnismäßig großen Zahl von Kollektengebeten kam es im 19. Jh. in den amtlichen Agenden noch nicht zur Zuordnung der Gebete zu jedem Sonn- und Feiertag, [77] auch nicht zur Rezeption des vollständigen Zyklus der Meßkollekten aus der abendländischen Tradition. Es blieb bei der Einteilung in Festkollekten und allgemeine Kollekten, zu denen auch Kollekten für bestimmte Anliegen gehörten. Da die Kollektengebete im 19. Jh. weithin nicht mehr im Altargesang ausgeführt und als Abschluß des aus Introitus, Kyrie und Gloria bestehenden, ebenfalls gesungenen Eingangsteils verstanden wurden, sondern als Gebete zur Vorbereitung der Schriftlesung, verschob sich ihre Funktion in Richtung auf das Gebet vor der Wortverkündigung (Eingangsgebet) nach oberdeutscher Tradition. Freilich war dieses Gebet dort ursprünglich ein stereotypes oder freies Gebet, das sich teilweise mit der Offenen Schuld verband. Texte boten zuerst Zwingli 1525 (Schmidt-Clausing 130), Straßburg 1526 (Hubert 96), Kurpfalz 1563 (EKO 14,388f) Baden 1686 (2). Hierher gehört ferner das stereotype Eingangsgebet mit stillem Vaterunser vor der Predigt aus Württemberg 1668 (Zeremonienordnung). Auch die lutherischen Agenden kannten die Aufforderung zum Gebet um Gottes Geist für die Aufnahme der Predigt, z. B. Lüneburg 1564 (EKO 6,544). Dem oberdeutschen Kanzelgottesdienst fehlte also die klassische Kollekte, doch gibt es bei Calvin eine bemerkenswerte Parallele zu den Summarienkollekten Veit Dietrichs. In seinen biblischen Vorlesungen pflegte Calvin ein kurzes, gleichbleibendes Gebet um Öffnung des göttlichen Wortes vorauszuschicken und die Vorlesung mit einer Textkollekte zu beschließen. Doch sind diese lateinischen Gebete erst im 20. Jh. verdeutscht und in reformierte Agenden übernommen worden.
Die Bedeutung der neuen deutschsprachigen Kollektengebete kam im übrigen auch darin zum Ausdruck, daß sie nicht nur in der Funktion der Eingangskollekte im Meßgottesdienst oder der Schlußkollekte im Tageszeitengebet Verwendung fanden. So wurde in Braunschweig 1528 (EKO 6,442) und Mecklenburg 1552 (EKO 5,200), falls der Abendmahlsteil mangels Kommunikanten ausfiel, zum Schluß eine Sonntagskollekte gebetet, wofür die Dankkollekte nach dem Abendmahl (Posteommunio) formaler Anknüpfungspunkt gewesen sein dürfte. In Württemberg 1553 (= EKO 14,154), wo der Gottesdienst nach oberdeutscher Tradition keine Eingangskollekte kannte, waren die De tempore-Kollekten auch nach der Predigt (als Predigtschlußgebet), im Abendmahl (als Schlußgebet) und in der Vesper zu verwenden. In Sponheim 1721,230ff.266 rückten die allgemeinen und Festkollekten der evangelischen Tradition im Gottesdienst ohne Abendmahl unmittelbar vor den Segen. Ihre Zahl wurde durch 24 neue Kollekten (zum Teil im Stil einer Dankkollekte) vermehrt. Brandenburg-Nürnberg 1533 (EKO 11,188) entfaltete die Eingangskollekte durch Aneinanderreihung von Fest- und Kasus-Kollekten zum Allgemeinen Kirchengebet. In ihrer zusammenfassenden Funktion und biblisch-theologischen Prägung wurde die deutschsprachige Kollekte zum bündigen Ausdruck des öffentlichen Gebets der evangelischen Christenheit.
- Abendmahlsgebete
Da die vom Priester nur leise gebeteten Kanongebete in den reformatorischen Abendmahlsordnungen ganz wegfielen, blieb neben Einsetzungsworten und Vaterunser als Gebetstext nur das Dankgebet nach dem Empfang übrig. Die von Luther aufgrund einer lateinischen Vorlage geschaffene, aber charakteristisch erweiterte Postcommunio (statt: dignos nos eius participatione perficias „gedeihen lassest zu starkem Glauben gegen dir und zu brünstiger Liebe unter allen“) aus der Deutschen Messe, 1526, wurde in den lutherischen Ordnungen weithin unveränderlicher Bestandteil des Abendmahlsordinariums. Daneben verbreitete sich die längere, kombinierte Dankkollekte aus Brandenburg-Nürnberg 1533 (EKO 11,197) mit ihrem eigenartigen theologischen Akzent („du wollest durch deinen Heiligen Geist in uns wirken“ … „angezeigt und zugesagt“) in den abhängigen Ordnungen, seit Köln 1543 (Bl. 104b) und Württemberg 1553 (EKO 14,150) mit dogmatischer Korrektur („angeboten und gegeben“). Das Straßburger Dankgebet (Hubert 112f) mit starker Hervorhebung der im Abendmahl mitgeteilten Christusgemeinschaft wurde in verschiedenen Fassungen von den abhängigen Agenden übernommen, z. B. von Genf 1542 (Beckmann 155f.164) und Kassel 1539 (EKO 8,123). [78]
Beim Präfationsgebet ergibt sich ein uneinheitlicher Befund: Die überlieferte lateinische Präfation wurde beibehalten, so in Brandenburg 1540 (EKO 3,68), teilweise besonders an Festtagen, freigestellt, so in Braunschweig 1528 (EKO 6,441), Sachsen 1539 (EKO 1,271), Pommern 1535 (EKO 4,341) und Mecklenburg 1552 (EKO 5,199); doch kamen verdeutschte Präfationen, z.B. Straßburg 1524 (Hubert 64.76) und Erfurt 1525 (EKO 2,376ff), nicht in allgemeine Übung, nachdem Luther in der Deutschen Messe die Präfation gänzlich ausgeschieden hatte, weil er praefatio als „Vor-Rede“ (= Anrede) verstand und als deutsche Vermahnung gestaltete. So übernahmen in den reformatorischen Abendmahlsliturgien die stereotypen Abendmahlsvermahnungen die Funktion der eucharistischen Gebete und verhinderten so deren Verdeutschung und Rezeption. Doch ist zu beachten, daß beispielsweise die weit verbreitete Nürnberger Abendmahlsvermahnung von A. Osiander 1524 (EKO 11,47) ursprünglich dazu diente, die (damals noch lateinisch rezitierten) Einsetzungsworte für die Gemeinde zu „eröffnen“. Die bisher in die Kanongebete eingebetteten, aber vom Priester leise rezitierten Einsetzungsworte kamen jetzt im Rahmen einer Abendmahlsparänese laut zu Gehör. Komplementär dazu übernahm die Gemeinde die verdeutschten Abendmahlsgesänge Sanctus (seit 1526) und Agnus (seit 1528).
Die das Abendmahlsgeheimnis entfaltenden eucharistischen Gebete der Tradition wurden also nicht einfach gestrichen; ihre Funktion wurde von der Verkündigung und dem Gemeindegesang übernommen. Folgerichtig fiel die Präfation vielfach ganz weg, so in Brandenburg-Nürnberg 1533 (EKO 11,195) und abhängigen Agenden, oder sie wurde verkürzt zum Präfamen vor den Einsetzungsworten (Luther, Formula Missae, 1523) bzw. vor dem Vaterunser, so in Kassel 1539 (EKO 8,123).
Immerhin ist im Reformationszeitalter an einigen Stellen die Neubildung evangelischer Abendmahlsgebete zu verzeichnen. In Straßburg, wo man die Kanongebete durch ein Allgemeines Kirchengebet ersetzt hatte (Hubert 65.80), ging dieses Gebet in ein Abendmahlsgebet über (Hubert 102.104.107), das in die abhängigen Agenden übernommen wurde, z. B. Genf 1542 (Beckmann 155) und Kurpfalz 1563 (EKO 14,386). Das Gebet bittet, durch die Speisung mit dem Himmelsbrot möge Christus in den Glaubenden leben, die Teilhaber des neuen und ewigen Gnadenbundes geworden sind. Ein ähnliches Gebet vor dem Abendmahlsempfang mit der Bitte um die „selige Gemeinschaft“ in Christi Abendmahl, das Bucer in Köln 1543 (Richter 11,42) veröffentlichte, wurde von den südwestdeutschen Agenden, die dem Meßtyp nicht folgten, in die Abendmahlsordnung übernommen, so von Württemberg 1553 (= EKO 14,149) und abhängigen Agenden. Der Versuch, eine evangelische Konsekrationsbitte zu formulieren, wurde in Nördlingen 1522 (EKO 12,286), Straßburg 1524 (Hubert 68) und Pfalz-Neuburg 1543 (EKO 13,73) gemacht, fand jedoch ebenso wenig Nachahmung wie der Entwurf einer erweiterten Präfation in Köln 1543 (von Bucer, Richter 11,43), deren heilsgeschichtliche Anamnese an ostkirchliche Anaphoren erinnert.
Die Aufklärungsepoche variierte und paraphrasierte die überlieferten Abendmahlsvermahnungen und Dankgebete in wortreichem, zeitgemäßem Stil, meist moralisierend oder zur Erzielung feierlicher Rührung in gereimten Gebeten. Mit der preußischen Agende 1822/29 begann dann der Rückgriff auf die geprägten Texte der Reformationszeit, insbesondere kam es jetzt zur Rezeption der verdeutschten Präfationen, die in Preußen als feierliche Gebetstexte auch im abendmahlslosen Meßgottesdienst gebraucht wurden. Im allgemeinen setzte sich für die Präfationen die sprachliche Fassung aus Löhes Agende 1844 (26ff) und die gesangsweise Ausführung durch, so in Bayern 1856 (13f), Sachsen 1880/1906 (124), Hannover 1889 (11); auch unierte Kirchen übernahmen jetzt die Präfationen, z.B. Baden 1858 (23) und Hessen 1904 (168f), freilich in gesprochener Form. Zugleich begannen die Abendmahlsvermahnungen aus den Agenden zu verschwinden.
Im 19. Jh. finden sich auch erste Ansätze zu einer Abendmahls-Berarcha (Postsanctus-Gebet), so in Bayern 1856 (17) und in verschiedenen Privat-Agenden. Dabei kamen als neue inhaltliche Akzente das Selbstopfer Christi und der Christen sowie die Personen-Epiklese zur Geltung. [79]
- Beichtgebete
In der lateinischen Kirche hatte sich im 11. Jh. aus den privaten priesterlichen Rüstgebeten (Apologien) ein eigener Vorbereitungsritus entwickelt, dessen Kern ein Sündenbekenntnis (Confiteor) war, das der Priester vor der Verrichtung seines heiligen Amtes sprach. Es war eine folgenreiche Entscheidung, als man in Straßburg diesen Reinigungsakt des Priesters in ein deutsches Rüstgebet der Gemeinde vor dem Abendmahlsgang umwandelte, wobei der liturgische Absolutionsspruch durch ein Bibelwort ersetzt wurde. Seit 1530 erschien dieses Rüstgebet in drei Formen, zwei als gemeinsames Sündenbekenntnis und eines als Sündenbekenntnis eines einzelnen nach den 10 Geboten. Der Text des 2. Straßburger Sündenbekenntnisses (Hubert 92) wurde von anderen Agenden übernommen, so von Köln 1543 (Richter 2,42), Württemberg 1553 (= EKO 14,161) und Kurpfalz 1563 (EKO 14,388). Vor allem ist es über Genf 1542 (Beckmann 149f) Kennzeichen des reformierten Gottesdienstes geworden, wobei Calvin durch eine Einfügung („wir bekennen … vor deiner heiligen Majestät“) das Bekenntnis als Akt demütiger Anbetung qualifiziert hat, statt als Aufzählung von Aktualsünden.
Das Straßburger Rüstgebet hat hinsichtlich seiner Stellung weitere Agenden beeinflußt, die ebenfalls ein Rüstgebet vor den Introitus des Meßgottesdienstes gestellt haben, so Döbers Meßordnung Nürnberg 1525 (EKO 11,51), die wiederum auf Mecklenburg 1540 (EKO 5,151) einwirkte. Daneben gab es Agenden, die das Confiteor der lateinischen Überlieferung als privates Rüstgebet des Liturgen beibehalten, so Brandenburg-Nürnberg 1533 (EKO 11,188), Brandenburg 1540 (EKO 3,68) und Pommern 1569 (EKO 4,437).
Neben dem Confiteor der Messe fand die Reformation eine weitere Form des Sündenbekenntnisses vor, nämlich die volkssprachliche „Offene Schuld“ oder „Offene Beicht“. Sie gehörte zu den katechetischen Stücken, die den Rahmen des volkssprachlichen Predigtgottesdienstes im späten Mittelalter bildete, wie das Manuale Curatorum des Ulrich Surgant (Basel 1503ff) ausweist. Die Sitte, nach der Predigt gemeinsam die Offene Schuld zu beten, wurde von vielen evangelischen Agenden übernommen. Weite Verbreitung fand die Offene Beichte aus Württemberg 1536 (Bl. B 7a), bei der die Aufzählung der Einzelsünden an die Herkunft des Textes aus der Privatbeichte erinnert. Diese Formel übernahmen Württemberg 1553 (= EKO 14,145), Kurpfalz 1563 (EKO 14,389) und Wolfenbüttel 1569 (EKO 6,144), ebenso die abhängigen Agenden. Kurpfalz 1556 (EKO 14,151) verband die Offene Beichte mit dem Fürbittengebet und begründete diese Verbindung in einem Präfamen.
Andere Fassungen des Sündenbekenntnisses nach der Predigt (ohne Aufzählung einzelner Sünden: ich habe gesündigt „in Gedanken, Worten und Werken“) boten Basel 1523 (Smend 51) und 1525 (Smend 216), Calenberg 1542 (EKO 6,795), Mecklenburg 1552 (EKO 5,203) und Sachsen 1581 (EKO 1,557). Braunschweig 1528 (EKO 6,443) verband Sündenbekenntnis und Fürbitten nach der Predigt, beides in der Form der Vermahnung (Prosphonese). Der selbständige Beichtgottesdienst oder Beichtteil zur Vorbereitung auf den Abendmahlsgang, bestehend aus Ansprache (Vermahnung), Sündenbekenntnis und Absolution, gehört in diesen Zusammenhang, zumal weithin dieselben Texte für das Beichtbekenntnis verwendet wurden.
Bei den traditionellen Beichtgebeten handelt es sich um fest geprägte, wiederholbare Formeln, die den Kollektengebeten insofern gleichen, als sie bündige Zusammenfassung eines vorgängigen Glaubensaktes, hier der Selbstprüfung vor Gott sind. Als Offene Schuld erwuchs das Beichtgebet aus der Predigt, am Anfang des Gottesdienstes setzte es gewissenhafte Kirchgänger voraus bzw. veranlaßte es die Voranstellung des Dekalogs, wie in der späteren reformierten Tradition. Hier führte das Gesetz zum Bekenntnis der Sünde, dort war es eher die in der Evangeliumspredigt kundwerdende „Güte Gottes, die zur Buße leitet“ (Röm 2,4). Die allgemeine Formel bedurfte jedenfalls der vorangehenden Entfaltung und Zuspitzung.
Als im 19. Jh. die dialogische Gottesdienstgestaltung der reformatorischen Agenden wiederhergestellt wurde, kombinierte man vor allem in unierten Kirchen das „reformierte“ (= eigentlich Straßburger) Sündenbekenntnis samt nachfolgendem Absolutionsspruch mit [80] dem „lutherischen“ ( = abendländischen) Kyrie und Gloria, z.B. in Bayern 1856 (4ff), Baden 1858 (16f), Preußen 1895 (I, 3f), und zwar auch in abendmahlslosen Gottesdiensten. Das führte allmählich zu einer stärkeren Differenzierung der mit dem festen Kyrie verbundenen „Bußgebete“: Neben das herkömmliche Sündenbekenntnis („wir haben gesündigt“) trat das Eingeständnis von gelegentlichem Versagen in bestimmten Lebensbereichen („Wir sind oft lieblos gewesen“) und die Klage über Not und Verstrickung („Wir haben Angst und sind ratlos“).
Es ist auffällig, daß Luther das Vaterunser als Beichtgebet (WA 30/I, 235,1; 384,4-5; 19, 96,33-97,1) und die Evangeliumspredigt als öffentliche Absolution ansah (WA 15,485,28-486,12). Seine Gottesdienstordnungen kannten keine Formeln für Confiteor und Offene Schuld, und die Beichte war bei ihm ein Stück privater Seelsorge. Das allsonntägliche Sündenbekenntnis bzw. Buß- und Beichtgebet zu Beginn eines abendmahlslosen Predigtgottesdienstes spiegelt demnach einen anders akzentuierten theologischen Ansatz. Die Befriedigung eines religiösen Grundbedürfnisses durch das formalisierte Reinigungs-Ritual zu Beginn des Gottesdienstes wird leicht gesetzlich mißverstanden. Inhalt und Form der gottesdienstlichen Beichtgebete sind daher bis in die Gegenwart ein ungelöstes theologisches Problem geblieben.
- Gebete bei kirchlichen Handlungen
Bei der Neugestaltung der Gottesdienste zu kirchlichen Handlungen waren nach reformatorischem Verständnis „Gottes Wort und Gebet“ (1Tim 4,4f) konstitutiv. Dagegen traten sakramentale und juridische Vollzugsformeln zurück. Zu einem engeren Anschluß an die Gebetstexte der abendländischen Tradition kam es vor allem bei der Taufe. Mit den neu geschaffenen deutschen Gebeten, die immer auch darüber Aufschluß geben, wie die jeweilige kirchliche Handlung als Anwendungsfall der Evangeliumspredigt zu verstehen ist, wurde eine eigene evangelische liturgische Tradition begründet, die bis in die Gegenwart weiter gewirkt hat. Im folgenden sind nur die hauptsächlichen Gebetstraditionen berücksichtigt; örtliche Sondertexte blieben außer Betracht. Für alle Gebete in den kirchlichen Handlungen gilt, daß sie im Aufklärungszeitalter stark bearbeitet und sowohl sprachlich wie inhaltlich an die Bedürfnisse vernünftiger und „rührender“ Gebetspraxis angepaßt wurden. Zu Anfang des 19. Jh. erfolgte dann der Rückgriff auf die Gebete des Reformationszeitalters.
5.1. Taufgebete. Die ersten reformatorischen Taufordnungen (Taufe) boten zunächst die verdeutschten Taufgebete der lateinischen Kirche, so Luther 1523 (EKO 1,18 f: 3 Gebete), Osiander 1524 (EKO 11,34: 4 Gebete) und Straßburg (Hubert 27f: 4 Gebete). Doch erweiterte Luther bereits iin Taufbüchlein, 1523, unter Verwendung typologischer Motive aus der Liturgie der Osternacht das Gebet zur Datio Salis zu dem eigenartigen „Sintflutgebet“, dessen Zuschreibung an Luther lange strittig war (vgl. F. Schmidt-Clausing: Zwing. 22 [1972] 516ff). In einer umgearbeiteten Fassung wurde dieses Gebet übernommen von Jud 1523 (Schmidt-Clausing 153), Zwingli 1525 (Schmidt-Clausing 153) und Kurpfalz 1563 (EKO 14,340). Im revidierten Taufbüchlein, 1526, behielt Luther neben dem Sintflutgebet nur das 2. Gebet der Tradition mit dem Zitat aus Mt 7,7 bei. Zusammen mit dem Dankgebet nach der Taufe aus Württemberg 1553 (= EKO 14,124) blieben diese 3 Taufgebete durch Jahrhunderte fester Bestandteil der von Luthers Taufbüchlein geprägten Taufordnungen. Eine andersartige Traditionslinie nahm ihren Ausgang von den wortreichen, belehrenden Taufgebeten in Straßburg 1537 (Hubert 46.47.51) mit dem Hinweis auf die Beschneidung als Tauftypus und deutlicher Einbeziehung der Taufgemeinde in die Bitten. Die Gebete wurden in überarbeiteter Fassung rezipiert und durch weitere Taufgebete ergänzt in Augsburg 1537 (EKO 12,77f), Kassel 1539 (EKO 8,117f) und Köln 1543 (Richter 11,39). Auch Kurpfalz 1563 (EKO 14,341) blieb mit seinem aus den Ordinancien des Martin Micron 1554 (EKO 7,614) genommenen Dankgebet nach der Taufe in der Bucerschen Tradition, wonach Verkündigung und Gebete bei der Taufe stets auf den Glauben der Eltern und der Gemeinde so zielten.
5.2. Konfirmationsgebete. Bucer, der in Kassel 1539 die erste evangelische Konfirmationsordnung vorlegte (Konfirmation), war auch der Verfasser des großen Konfirmationsgebetes, das in fast alle Konfirmationsordnungen überging. Das vierteilige Gebet enthielt die [81] Bitte um den Heiligen Geist, um Stärkung zu christlichem liehen, um Gehorsam gegen das Evangelium und eine abschließende Vaterunserparaphrase (EKO 8,125f). Der Fürbitte folgte die Segnung unter Handauflegung mit einer Accipe-Formel („Nimm hin den heiligen Geist“), deren Inhalt im vorausgehenden Gebet schon als Bitte enthalten war. In Köln 1543 (Höfling, Taufe II,368) und Waldeck 1556 (Höfling, ebd. 369) entfiel die abschließende Vaterunser-Paraphrase, und die Handauflegung erfolgte während eines zweiten kürzeren Gebets. Hessen 1566 (EKO 8,299) vollzog die Handauflegung zu einem mit der Segensformel kombinierten Segnungsgebet, während Calenberg 1542 (EKO 6,842f) dem großen Konfirmationsgebet ein neues kürzeres Gebet folgen ließ, aber erst zur Segensformel die Hand auflegte. Pommern 1569 (EKO 4,444) hatte als Fürbitte das Vaterunser mit anschließendem neuen Konfirmationsgebet. Dann folgte die Handauflegung zum aaronitischen Segen. Die anders strukturierte Konfirmationsordnung von Lauenburg 1585 (Höfling, Taufe II,406) stellte ein eigenes kürzeres Fürbittengebet hinter die (schweigend vollzogene) Segnung mit Handauflegung. Auch dort, wo Bucers Konfirmationsordnung mit Verpflichtungsfragen und Handauflegung zur Segnung nicht übernommen wurde, schloß man die öffentliche Katechese vor der Erstkommunion mit dem 1. Teil des Bucerschen Konfirmationsgebetes – so in Württemberg 1553 (= EKO 14,133) und Coburg 1626, in Pfalz-Neuburg 1543 (EKO 13,62) mit inhaltlich entsprechender Gebetsvermahnung und Vaterunser.
Das Konfirmationsgebet ist ein typisches Beispiel für die Gestaltung einer evangelischen Segnung: Der eigentliche Segnungsakt erwächst aus der vorausgehenden Fürbitte der Gemeinde, die in der abschließenden Segensformel unter Handauflegung spürbar zugeeignet wird. Das Fürbittengebet enthält die Bitte um den Heiligen Geist, ist also eine Personen-Epiklese. Wäre Bucers Konfirmationsgebet nicht so lang ausgefallen, so hätte die Handauflegung auch schon zu diesem Gebet erfolgen können. Nach reformatorischem Verständnis war also das Gebet der versammelten Gemeinde, nicht eine sakramentale Vollzugsformel Kern der evangelischen Segnung.
5.3. Ordinationsgebete. Das von Luther ohne Anschluß an die Tradition neu geschaffene Ordinationsformular 1537 enthielt ein Gebet, das unter Handauflegung gesprochen wurde. Es bestand aus dem Vaterunser und einem aus den ersten drei Bitten des Vaterunsers entfalteten speziellen Ordinationsgebet mit der Bitte um den heiligen Geist für den Ordinanden. Neben diesem weit verbreiteten Ordinationsgebet Luthers (EKO 1,27) wurden die beiden Ordinations- bzw. Installationsgebete aus Württemberg 1547 (= EKO 14,241f) auch in Norddeutschland rezipiert, so in Sachsen 1580 (EKO 1,382f), Wolfenbüttel 1569 (EKO 6,190f) und abhängigen Agenden. Diese Gebete enthielten die Bitte um Erhaltung des Predigtamtes und um die Gabe des Heiligen Geistes.
Im Ordinationsgebet Bucers aus Kassel 1539 (EKO 8,127) ging es ebenfalls um die Geistbegabung. Doch wurden die Vielfalt der Dienste nach Eph 4,8ff und die Seelsorge besonders herausgestellt. Dem Gebet folgte wieder, wie bei Bucers Konfirmationsgebet, eine unter Handauflegung gesprochene Accipe-Formel. In Hessen 1566 (EKO 8,198) folgte dem gleichen Ordinationsgebet die Handauflegung, jedoch wurde dazu ein kurzes neues Kollektengebet gesprochen. Ein spezielles Gebet zur Installation in Preußen 1568 (EKO 4,110f) mit der Bitte um den Heiligen Geist für den neuen Pfarrer handelte vom vollmächtigen Predigen und vom willigen Hören.
Im 19. Jh. wurden mit den alten Ordnungen auch die Gebete der Tradition wieder in Gebrauch genommen, vor allem in den lutherischen Kirchen, z. B. Bayern 1856 und Hannover 1889. Jedoch trat vielfach der kirchenrechtliche Aspekt der Amtseinweisung so in den Vordergrund, daß nicht mehr das Gebet der versammelten Gemeinde als Personen-Epiklese, sondern die rechtlich relevante Vollzugsformel im Mittelpunkt der Handlung stand. Die zum Teil neugefaßten Gebete verloren damit ihre ursprüngliche Funktion und bildeten nur noch den geistlichen Rahmen für einen gemeindeöffentlichen Verwaltungsakt der Kirchenleitung.
5.4. Traugebete. Für die kirchliche Handlung nach erfolgter Eheschließung vor der Kirchentüre (Ehe) hatte Luther in seinem Traubüchlein, 1529 (EKO 1,23f) die konstitutiven Stücke „Gottes Wort und Gebet“ so geordnet, daß den biblischen Lesungen mit Traupredigt [82] ein Kollektengebet folgte, zu dem über das knieende Hochzeitspaar die Hände ausgestreckt wurden. Das Gebet, das vom Segen Gottes über den Ehestand spricht und einen Hinweis auf Eph 5,32 enthält, ist weithin als einziges evangelisches Traugebet übernommen worden. An anderer Stelle wurde eine Anknüpfung an die lateinischen Gebete der Brautmesse versucht, so in den schwerfällig übersetzten Gebeten aus Brandenburg 1540 (EKO 3,84), wo der alte ausführliche Brautsegen mit den alttestamentlichen Paradigmen Rahel, Rebekka und Sara wörtlich beibehalten war. Den gleichen Brautsegen brachte Straßburg 1524 (Hubert 7), jedoch nunmehr auf beide Brautleute bezogen.
Schon 1523 erschien in Zürich (Schmidt-Clausing 169) ein langes Ehesegnungsgebet, das unter Aufnahme der biblischen Motive des erweiterten alten Brautsegens jetzt auf die Altväter Abraham, Isaak und Jakob anspielte und neben Eph 5 auch Joh 2 anklingen ließ. Die kürzere Fassung dieses Gebets aus Zürich 1529 (Daniel III,204) und das spätere Straßburger Traugebet 1526 (Hubert 19) ließen durch die Nennung der Patriarchen immer noch erkennen, daß sie aus dem lateinischen Brautsegen erwachsen waren. Das Straßburger Traugebet wurde auch von Genf 1542 (Clemen 164), Augsburg 1537 (EKO 12,83), Kurpfalz 1563 (EKO 14,401), Hessen 1566 (EKO 8,324) und Österreich 1571 (Höfling 201 f) zum Teil in erweiterter Fassung übernommen. Auch Bucers Traugebet in Kassel 1539 (EKO 8,127) war eine eigenständige Bearbeitung des Straßburger Gebets, jedoch unter Betonung der neutestamentlichen Motive.
Während Luther allen Nachdruck auf die mit Präfamina versehenen ausgedehnten Traulesungen legte und sich mit einem knappen Segensgebet begnügte, das als äußerste Verkürzung des lateinischen Brautsegens angesehen werden kann, blieb im Süden Inhalt und Form des ausführlichen Brautsegens der Tradition auch in der reformatorischen Bearbeitung erhalten. Jedoch wandelte sich die Funktion des Traugebets. Es folgte der Traupredigt, wie im Predigtgottesdienst die Fürbitten der Predigt zugeordnet waren, und faßte wortreich die Trauverkündigung nochmals zusammen, um dann in eine Vaterunserparaphrase überzugehen. Die Trauung war als Eheschließung mit Wortgottesdienst, nicht als Segnung der geschlossenen Ehe gestaltet.
5.5. Bestattuugsgebete. Kaum eine kirchliche Handlung wurde von den Reformatoren aller Richtungen so kritisch beurteilt und so einschneidend verändert wie die Bestattung. Auf die Anknüpfung an die Tradition und die Ausgestaltung eines Rituals wurde daher gänzlich verzichtet, es blieben nur Wort Gottes, Gesang und Gebet. Die Agenden verzeichneten vielfach nur ein Gebet, das die Wortverkündigung abschloß.
Das früheste Beispiel eines Bestattungsgebetes bietet Straßburg 1537 (Hubert 129f) mit der Bitte um Stärkung des Glaubens und Heiligung des Lebens im Aufblick zu dem auferstandenen und erhöhten Herrn. Eine Bitte für den Verstorbenen fehlt. Das Gebet wurde vor allem im Südwesten in die Agenden aufgenommen, z.T. in erweiterter Fassung, so in Pfalz-Zweibrücken 1557 (Bl. 146a), Köln 1.543 (Bl. 132a), Hessen 1566 (EKO 8,336), Österreich 1571 (Bl. 172b), aber auch in Pommern 1569 (BI. 256b). Die Agende Sachsen 1540 (EKO 1,275) befriedigte den Wunsch nach einem Begräbnisgebet durch die entsprechend erweiterte Oster-Kollekte Luthers. Es gab wenige Agenden, die das Gebet nicht übernahmen, sofern sie überhaupt ein Begräbnisgebet vorsahen. In Sachsen 1555 (EKO 1,279) erschien eine neue Begräbniskollekte mit dem Ausblick auf das ewige Leben, das durch den Tod als Abschied von dieser bösen Welt eröffnet wird. Außerdem griff man auf eine Summarienkollekte Veit Dietrichs zum Evangelium des 24. Sonntags nach Trinitatis (Mt 9,18-26) zurück, die ebenfalls in abhängige Agenden überging. Während die Bestattungsgebete aus Jakob Otters Betbüchlein, 1537, in offiziellen Agenden keine Aufnahme fanden, wurden 12 Gebete aus dem Gebetbuch 1563 von Johannes Mathesius in Österreich 1571 eingefügt. Das einzige aus einer lateinischen Vorlage übersetzte Begräbnisgebet steht im Missale des Matthias Ludecus (1589), doch stammt die Vorlage aus dem Baseler Psalmbuch, 1524, wahrscheinlich von Joh. Oekolampad.
Neue Bestattungsgebete kamen dann noch einmal im 17. Jh. heraus, so in Koburg 1626 (2 Gebete von Joh. Gerhard), Hanau-Lichtenberg 1659 (3 Gebete), Württemberg 1666 (1 [83] Gebet aus dem Gebetbuch von 1602 des Johannes Hermann), Baden 1686 (1 Gebet). Sie fanden aber meist erst im traditionsfreundlichen 19. Jh. Aufmerksamkeit, so in Bayern 1856, bei Löhe, II 1859, und in anderen Privat-Agenden. In diesen Gebeten kamen die Empfindungen der Trauernden, die Bitte um eine sanfte Ruhe und das unterschiedliche Schicksal von Leib und Seele stärker als früher zur Geltung. Die verhältnismäßig spärliche Ausbeute an Bestattungsgebeten zeigt einmal, daß man die Bestattung sehr schlicht gestaltete, zum Teil im Anschluß an biblische Lesungen mit wörtlich festgelegten Kurzansprachen, die in ein geprägtes Gebetsvotum übergingen, so in Schwäbisch Hall 1543 (von Brenz), übernommen in Köln 1543 (Bl. 129ff), Pfalz-Zweibrücken 1557 (Bl. 143ff) und Sachsen 1580 (EKO 1,372). Andererseits machte Luther in dem von ihm eingeleiteten Bestattungsliederbuch 1542 (WA 35, 478f) deutlich, daß der Gesang der Gemeinde das wesentliche Element eines christlichen Begräbnisses ist. Das gemeinsame Beten der Christen kann vom vorgesprochenen Gebet in den Lobgesang übergehen, mit dem die Gemeinde der Erlösten ihren Herrn rühmt (Jes 35,10).
Die Ausformung eines Bestattungs-Rituals und die Differenzierung der Bestattungspredigt führten im 19. Jh. zur Vermehrung der Bestattungsgebete in den Agenden. Sie nahmen jetzt stärker die Empfindungen der Trauernden auf und waren weniger bekennende Glaubensantwort auf die Heilsbotschaft angesichts des Todes. Gleichzeitig wurden die Bestattungsgesänge von instrumentaler Musik abgelöst.
Quellen
Joachim Beckmann (Hg.), Quellen zur Gesch. des christl. Gottesdienstes, Gütersloh 1956. – BSKORK. – Carl Clemen (Hg.), Quellenbuch zur prakt. Theol. 1. Quellen zur Lehre vom Gottesdienst, Gießen 1910. – Hermann Adalbert Daniel, Cod. Liturgicus Ecclesiae Universae, Leipzig, 111 1851. – Otto Dietz, Die Evangelienkollekten des Veit Dietrich, Leipzig 1930. – Gudstjeneste-Kollekterne. Den aeldre og yngre Raekke. Med inledninger, tekster, forslag og historiske noter, Bringstrup 1953 (For Kirke od Theologi 4/5). – Hermann v. Wied, Einfältiges Bedenken. Reformationsentwurf f. das Erzstift Köln v. 1543, übers, u. hg. v. Helmut Gerhards/Wilfried Borth, Düsseldorf 1972. – Johann Wilhelm Friedrich Höfling, Das Sakrament der Taufe, Erlangen, II 1859. – Ders., Liturg. Urkundenbuch, Leipzig 1854. – Friedrich Hubert, Die Straßburger liturg. Ordnungen im Zeitalter der Reformation, Göttingen 1900. – Wilhelm Löhe, Agende für christl. Gemeinden des luth. Bekenntnisses, 2 T., Nördlingen 1853/59 = ders., GW, Neuendettelsau, VII/1 1953. – Aemilius Ludwig Richter, Die ev. Kirchenordnungen des 16. Jh., 2 Bde., Weimar 1846=Nieuwkoop 1967. – Sammlung liturg. Formulare der ev.-luth. Kirche, hg. v. W. Löhe, 3 H., Nördlingen 1839/42. – Sammlung liturg. Formulare aus älteren u. neueren Agenden, hg. v. F.W. Bodemann, 2 Abt., Göttingen 1845/46. – Fritz Schmidt-Clausing, Zwinglis liturg. Formulare, Frankfurt 1970. – Frieder Schulz, Die ev. Begräbnisgebete des 16. u. 17. Jh.: JLH 11 (1966) 1-44. – Ders., Ev. Ordination: JLH 17 (1972) 42-45. – Julius Smend, Die ev. dt. Messen bis zu Luthers Dt. Messe, Göttingen 1896. – Ernst Wolf/Martin Albertz (Hg.), Kirchenbuch. Ordnungen für die Versammlungen der nach Gottes Won reformierten Gemeinden dt. Zunge, München 1941.
Literatur
Paul Althaus d.Ä., Zur Einf. in die Quellengesch. der kirchl. Kollekten in den luth. Agenden des 16. Jh., Leipzig 1919 = ders., Forschungen zur ev. Gebetsliteratur, Gütersloh 1927 = Hildesheim 1966, 163-249. – Willem Frederick Dankbaar, Die Liturgie des Predigtgottesdienstes bei Johann Ulrich Surgant: Reformation u. Humanismus. FS Robert Stupperich, Witten 1969, 235-254. – Gregory Dix, The Shape of Liturgy, London 1945 21964, bes. S. 632-537. – DLW 139. – Paul Drews, Beitr. zu Luthers liturg. Reformen. Stud. zur Gesch. des Gottesdienstes u. des gottesdienstlichen Lebens, Tübingen, IV/V 1910. – Balthasar Fischer, Litania et Laudes et Vesperas: LJ 1 (1951) 55-74. – Ders., Die Anliegen des Volkes im kirchl. Stundengebet: Brevierstud., hg. v. J.A. Jungmann, Trier 1958, 57-70. – Paul Graff, Die Epiklese in reformatorischen Ordnungen: MGKK 45 (1940) 133-138. – Johann Peter Hebel, Ideen zur Gebetstheorie: ders., SW. Neue Ausg., Karlsruhe, VII 1838, 3-14. – Markus Jenny, Die Einheit des Abendmahlsgottesdienstes bei den elsässischen u. schweizerischen Reformatoren, Zürich 1968. – Ottfried Jordahn, Georg Friedrich Seiler – Der Liturgiker der dt. Aufklärung: JLH 14 (1969) 1-62. – Manfred Josuttis, Die Staatsauffassung der Agendengebete: EvTh 28 (1968) 238-255. – Josef Andreas Jungmann, Wortgottesdienst, Regensburg 1965. – Emanuel Kellerhals, Sündenbekenntnis u. Gnadenzuspruch im ref. Predigtgottesdienst, Bern 1967. Bernhard Klaus, Die Rüstgebete: Leit. 2 (1955) 523-567. – Hans Ludwig Kulp, Die Kollektengebete: Der Gottesdienst an Sonn- u. Feier-[84]tagen. Unters, zur Kirchenagende 1, Gütersloh, I 1949, 283-427. – Ders., Das Gemeindegebet im christl. Gottesdienst: Leit. 2 (1955) 399-414. – Ders., Art. Gebet: RGG3 2 (1958) 1225-1228. – Ulrich S. Leupold, Die christl. Fürbitte für die Gesellschaft: LR 15 (1965) 42-59. – Liturgy and Worship. A Companion to the Prayer Books of the Anglican Communion, London 1932 21964, 374-378. – Alfred Niebergall, Das Gebet der Kirche für den Staat: JMUB 3 (1964) 9-20. – Gerrit Jan van de Poll, Martin Bucer’s Liturgical Ideas, Assen 1954. – Luther Dotterer Reed, The Lutheran Liturgy, Philadelphia 1947, 262-272.295-303; 21959, 277-287.310-320. – Dorothea Roth, Die ma. Predigttheorie u. das Manuale Curatorum des Johannes Ulrich Surgant, Basel 1956. – Friedrich Schleiermacher, Die prakt. Theol. nach den Grundsätzen der ev. Kirche: ders., SW, Berlin, I/13 1850, 187-201. – Fritz Schmidt-Clausing, Zwingli als Liturgiker, Göttingen 1952, bes. S. 87- 113.143-172. – Paul Schorlemmer, Die Kollektengebete, Gütersloh 1928. Walter Schubert, Die Kollekte im ev.-luth. Gottesdienst: LJ 19 (1969) 177-192. – Frieder Schulz, Das freie Gebet im Gottesdienst: PTh 50 (1961) 262-272. – Ders., Die Offene Schuld als Rüstgebet der Gemeinde: JLH 4 (1958/59) 86-90. – Ders., Das Kollektengebet. Seine Frühgesch., die theol. Bedeutung seiner Gestalt u. die Probleme seiner Rezeption in der Gegenwart: Kerygma u. Melos. FS Christhard Mahrenholz, Kassel/Berlin 1970, 40-56. – Hermann Waidenmeier, Die Entstehung der ev. Gottesdienstordnungen Süddeutschlands im Zeitalter der Reformation: SVRG 125/126 (1916) 115-137. – Christian Zippert, Der Gottesdienst in der Theol. des jungen Bucer, Diss. Theol. Marburg 1969, 228-239.
TRE 12, 1984, 71-84.