Über die Bilderwelt des eigenen Gedächtnisses (Bekenntnisse)
Von Augustinus
Himmel und Erde und Meer sind da untergebracht nebst allem, was ich je in ihnen erspürt, ausgenommen, was ich vergaß. Da begegne ich mir auch selber und erinnere mich daran, was ich getan und wann und wo und wie mir zumute war, als ich’s tat. Da ist alles, dessen ich mich erinnere, ob ich’s nun selbst erfahren oder es gläubig aufgenommen habe. Aus diesem Vorrat nehme ich die Bilder von allerlei Dingen, mag ich sie selbst wahrgenommen oder auf Grund eigener Erfahrung andern geglaubt haben, bald diese, bald jene, knüpfe an Vergangenes an und stelle mir im Anschluss daran künftige Handlungen, Ereignisse und Hoffnungen vor Augen, und all das wiederum so, als wär’s gegenwärtig. „Dies oder jenes will ich tun“, so sage ich und greife hinein in den ungeheuren Mantelsack meines Geistes voller Bilder, unzählig vieler und großer, und dies oder jenes geschieht auch. „Oh, daß doch dies oder jenes geschähe, möge Gott dies oder jenes verhüten!“, so spreche ich bei mir selbst, und wenn ich spreche, sind die Bilder von all dem, was ich nenne, aus dem Schatz der Erinnerung zur Hand, und überhaupt nichts könnte ich nennen, fehlten sie.
Groß ist die Macht des Gedächtnisses, gewaltig groß, mein Gott, ein Tempel, weit und unermesslich. Wer kann es ergründen? Eine Kraft meines Geistes ist’s, zu meiner eigenen Natur gehörig, aber ich vermag nicht ganz zu erfassen, was ich bin. Ist denn der Geist zu eng, sich selbst zu fassen? Wo ist denn das, was er von sich selbst nicht fassen kann? Ist’s etwa außer ihm und nicht in ihm? O nein, und doch kann er’s nicht fassen! Da steigt ein großes Verwundern in mir auf, Staunen ergreift mich. Und die Menschen gehen hin und bewundern die Bergesgipfel, die gewaltigen Meeresfluten, die breit daherbrausenden Ströme, des Ozeans Umlauf und das Kreisen der Gestirne und vergessen darüber sich selbst.
Confessiones X,8, in der Übersetzung von Wilhelm Thimme.