
Zahlen sind uns alltäglich gegenwärtig, vorrangig im beruflichen Leben. In Unternehmen dienen sie – neben technischen Berechnungen und organisatorischen Nummerierungen – als erfolgsbezogenes Steuerungs- bzw. Kontrollinstrument, wenn es gemeinhin heißt: „Die Zahlen müssen stimmen.“ Rationalisierungen und Effizienzsteigerungen sind immer auch zahlengestützt. Zahlen mit ihrer jeweiligen Differenzqualität eröffnen in Unternehmen kontrollierbare Handlungsspielräume. Unter einer Zahlenlogik wird menschliches Streben feingliedrig auf Ergebnisse hin ausdifferenziert. Was in unterscheidbarer Weise zugekommen oder abgegangen ist, lässt sich absolut als Ordinalzahlen quantifizieren oder aber als Prozentzahlen relativieren. Und Zahlenwerte in einer Statistik parallel gestellt können dann miteinander verglichen und in Gestalt von Kardinalzahlen tabellarisch in ein Ranking überführt werden.
Nicht nur betriebswirtschaftlich sind Zahlen von Bedeutung, sondern auch volks- bzw. weltwirtschaftlich. Ereignisse, die zahlenwertig erfasst werden, können weltweit kommuniziert werden und wirken sich damit an jedem anderen Ort der Welt wiederum zahlenwertig aus. Dafür sorgen nicht zuletzt Börsen und Kapitalmärkte, deren Notierungen und Kursstände in digitalisierter Form weltweit synchronisiert werden. Wenn beispielsweise die Arbeiter einer chilenischen Kupfermine in den Ausstand treten, steigt weltweit der Kupferpreis.
Im Wirtschaftsleben kommen wir um Zahlen nicht herum. Und dennoch stellt sich die Frage, in wie weit sie bestimmend sein dürfen. Wenn hinter Zahlen nicht länger wertzuschätzende Güter stehen, werden sie selbst zur alles bestimmenden Wirklichkeit. Es entsteht ein zahlengetriebenes Handeln, das sich selbst nur noch zahlenwertig darzustellen und sich darin mit anderen Zahlengefügen zu vergleichen weiß. Die allumfassende Relativität der Zahlen lässt nichts gelten, was auf sich selbst beruhen kann. Zahlen sind in ihrer komparativen Eigendynamik nicht satisfaktionsfähig; ihnen fehlt die Genugtuung. Damit sind der Geldgier (philargyría) und dem Mehr-haben-wollen (pleonexía) Tor und Tür geöffnet (vgl. 1Timotheus 6,10).
So geht unter einer Diktatur der Zahlen das unternehmerische Gemeingut mit der nicht verrechenbaren, solidarischen Anteilnahme (communio) der Mitarbeitenden verloren. Die betriebliche Kooperation ist stattdessen identifikationsfrei unter eigenökonomische Vorteilserwartungen gestellt. Man handelt letztlich selbst berechnend. Menschliche Wertschätzung kann dabei – mangels Abzählbarkeit – nicht wirklich zählen. Haben die Zahlen ein Unternehmen erst im Griff, werden die dort beschäftigten Menschen seelisch und körperlich in Mitleidenschaft gezogen.
In letzter Konsequenz einer ökonomischen Arithmetik muss man über die eigenen betrieblichen Wertschöpfungsmöglichkeiten hinausgehen und zukunftsspekulative Entscheidungen z. B. im Bereich Mergers & Acquisitions treffen. Wo antizipativ auf die Zukunft mit Zahlen gewettet wird, gibt es zu jedem Gewinner immer auch die Reihe der Verlierer. Spekulationsgewinne, die über die reale Wertschöpfung hinausgehen, müssen durch Verluste anderer gegenfinanziert werden. Und irgendwann hat man sich dann selbst unter die Zukunftsverlierer einzureihen …
Zahlen bzw. Zahlengefüge sind kein unternehmerischer Selbstzweck. Und dennoch können sie bei Entscheidungsträgern eine eigene Gläubigkeit gewinnen. Dabei ist konkreten Zahlen nichts Bleibendes abzugewinnen; per se sind sie immer defizitär: Es wäre ja auch noch mehr drin gewesen. Auf das Unendliche hin gibt es ja immer „Mehr“-Zahlen. „Mehr“-Zahlen in die Form des Geldes als symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium (Luhmann) gebracht haben eine eigene Suggestionskraft – mit mehr Geld könne man sich mehr leisten, hätte ein höheres Vermögen mit mehr Wahlmöglichkeiten. Aber in einen zahlenwertigen Spekulationsökonomie, die auf ein quantifizierbares Vermögen aus ist, will ja das eigene Geld nicht konsumiert, also aufgebraucht sein, sondern weiter akkumuliert, also vermehrt werden.
Ist die prospektive „Mehr“-Zahl des Geldes die alles bestimmende Wirklichkeit, herrscht der schnöde Mammon. In seiner Auslegung zum ersten Gebot aus dem Großen Katechismus findet dazu Martin Luther die passenden Worte:
„Es ist mancher, der meint, er habe Gott und alles zur Genüge, wenn er Geld und Gut hat; er verläßt sich darauf und brüstet sich damit so steif und sicher, daß er auf niemand etwas gibt. Sieh, ein solcher hat auch einen Gott: der heißt Mammon, das heiß Geld und Gut; darauf setzt er sein ganzes Herz. Das ist ja auch der allgewöhnlichste Abgott auf Erden. Wer Geld und Gut hat, der weiß sich in Sicherheit, ist fröhlich und unerschrocken, als sitze er mitten im Paradies; und umgekehrt, wer keins hat, der zweifelt und verzagt, als wisse er von keinem Gott. Denn man wird ja ganz wenig Leute finden, die guten Mutes sind und weder trauern noch klagen, wenn sie den Mammon nicht haben; das klebt und hängt der [menschlichen] Natur an bis in die Grube.“
Man verschreibt sich mit dem eigenen Leben einer hoffnungslosen Spekulation und wirkt damit auf den eigenen Tod hin. „Nichts haben wir in die Welt mitgebracht, so können wir auch nichts aus ihr mitnehmen.“ (1Timotheus 6,7) Zahlen für sich selbst behalten enthalten mir die Anteilnahme am Gemeingut sowie am Mitmenschlichen vor. Was ein Leben in seiner Fülle wirklich ausmacht, ist das Empfangen-Dürfen, das eben nicht zahlenwertig für sich selbst zu gewinnen ist. Im Bild der überfließenden Quelle, die in ihrer Fülle eben nicht auszuschöpfen ist, wird dies für uns vorstellbar. So schreibt der griechische Kirchenvater Gregor von Nyssa in seinen Homilien zum Hohenlied (In canticum canticorum) über die lebenserfüllende Gottesschau (visio Dei):
„Wenn du dich der Quelle genähert hast, staunst du über das unversiegliche Wasser, das unablässig aus ihr hervorsprudelt und fließt. Aber du könntest nicht sagen, du habest alles Wasser gesehen. Denn wie könntest du sehen, was noch im Schoß der Erde verborgen ist? Daher fängst du, wie lange du auch bei der Quelle bleiben magst, immer erst an, das Wasser zu sehen. Ebenso ist es, wenn jemand die unendliche Schönheit Gottes betrachtet. Sie wird stets neu entdeckt und wird immer als etwas Neues und Unbekanntes angesehen im Vergleich mit dem, was der Geist bereits begriffen hat. Und während Gott sich weiter offenbart, staunt der Mensch weiter; und sein Verlangen, mehr zu sehen, hört niemals auf, denn das, worauf er wartet, ist immer großartiger und göttlicher als alles, was er schon gesehen hat.“
Die Gottesschau verspricht unzählige Erfüllung. Und doch werden wir im irdischen Wirtschaften und Haushalten um Zahlen und damit um ein sachgerechtes Accounting nicht herumkommen. Die Zahllosigkeit (anarithmon) kann nur eschatologisch, also endzeitlich erhofft werden, wenn „der Gott sei alles in allem“ (1Korinther 15,28). Für die Gegenwart gilt jedoch die ethische Herausforderung, die der Kirchenvater Augustin einst mit dem der antiken Güterlehre abgewonnen Unterscheidung von Gebrauchen (uti) und Genießen (frui) gestellt hat.[1]
In seiner De doctrina christiana schreibt Augustin in Sachen Gebrauchs- und Genussdinge: „Genießen (frui) bedeutet nämlich, aus Liebe irgendeiner Sache um ihrer selbst willen anzuhängen; gebrauchen (uti) aber bedeutet, alles, was sich für den Gebrauch anbietet, auf das Erlangen dessen zu beziehen, was du liebst — wenn es sich dabei überhaupt um eine Sache handelt, die geliebt werden soll.“ (I,4) Den so definierten Gliedern des Schemas zufolge sind die Dinge (res) entweder auf Genuss oder Gebrauch ausgerichtet. Allein die um ihrer selbst willen zu erstrebenden Genussgüter des „frui“ machen den Menschen dauerhaft glücklich. Alle anderen sind als vorläufige Gebrauchsdinge (res utendae) nichts als Mittel zum Zweck. So hat es ja der Apostel für die Gemeinde in Korinth vorgesehen: „Die Zeit ist kurz. Fortan sollen auch die, […] die kaufen, als behielten sie es nicht; und die diese Welt gebrauchen, als brauchten sie sie nicht. Denn das Wesen dieser Welt vergeht.“ (1Korinther 7,29-31)
Zahlenwerke dürfen uns nur als Gebrauchsdinge gelten. Damit sie nicht doch zum Selbstzweck werden, braucht es eine Ethik der Zahlen. Diese führt nicht einfach abstrakte Gerechtigkeitsdiskurse fort oder „lästert“ menschliche Geldgier. Vielmehr hat sie zu zeigen, wie man mit Zahlen in Wirtschaft, Staat und Privatleben so umzugehen ist, damit sie uns Menschen nicht fälschlicherweise zu Heilsgütern werden. Eine solche Ethik muss erst noch geschrieben werden. Sie hätte einiges „Konservatives“ zu sagen in Sachen Sparen, Haushalten, Wachsen, Verlieren-Können, Prämieren, Belohnen, Freigebigkeit, Großzügigkeit, Spenden wie auch Stiften.
[1] Vgl. Henry Chadwick, Frui – uti, in: Cornelius Mayer (Hg.), Augustinus-Lexikon, Vol. 3 (2004), Sp. 70-75; bzw. Oliver O’Donovan, Usus and Fruitio in Augustine, De Doctrina Christiana I, JThS NF 33 (1982), S. 361-397.