Gerhard von Rad, Christliche Weisheit? (1971): „Das Schöpfungsgeheimnis spielt mit dem Menschen, es liebt ihn, lädt ihn in seine innersten Gemächer ein, ja, es sitzt schon vor seiner Türe! Hier vollzieht sich eine ans Mystische grenzende Auslieferung des Menschen an die Herrlichkeit des Seins. Hier wirft sich der Mensch mit Lust einem Sinn entgegen; er entdeckt ein Geheimnis, das schon auf dem Weg ist, sich ihm zu schenken.“

Christliche Weisheit?

Von Gerhard von Rad

Wer sich mit der Weisheit des alten Israel befaßt, wird zunehmend von der Frage bedrängt, warum denn der christliche Glaube nicht in ähnlicher Weise solche Lebenshilf en anzubieten hat. Gewiß, die alte Tradition der allgemeinverständlichen Lehrsprüche ist abgerissen und läßt sich nicht einfach wiederaufnehmen. Aber eine solche Art von Lebenshilf e könnte sich ja auch in anderer Form aussprechen. Nur müßte etwas von dem darin sein, worin uns die Weisheit Israels so turmhoch überlegen ist, etwas von jener Direktheit und „Praxisbezogenheit“, die wir so angelegentlich suchen und nur auf verzwickten theologischen Umwegen zu finden meinen. Man bedenke: In ihrer Eigenschaft als Nur-Anweisung, als Nur-Ratschlag können diese Anweisungen zum Leben auf theologische Begründungen ganz verzichten, weil sie vom Empfänger ja auch gar nicht erwartet werden.

1. Die Weisen Israels gaben Anweisungen zur Lebensbemächtigung, oder vorsichtiger gesagt: Anweisungen, das Leben zu überstehen und nicht zu scheitern.[1] Ihre Leistung beruht darin, daß sie mit hellwacher Vernunft eine von Gott durchwaltete Welt angegangen haben. Was sie dazu ermächtigte, war das Wissen von Ordnungen, die immer aufs neue formuliert werden mußten. Ihre Kenntnis ist lebensnotwendig, denn durch ihre Mißachtung zerstört der Mensch sein Leben. Dabei handelt es sich nicht um letzte Fragen zwischen Gott, Welt und Mensch, vielmehr um die alltäglichsten Widerfahrnisse, also um das ganz Nahe, das jeder kennt und keiner ergründet. Liegen hier nicht die bedrängendsten Fragen? Die Erkenntnisse, auf einem Feld gewonnen, wo es immer um Sinngewinn oder Sinnverlust geht, können von der Vernunft bestätigt werden. Der „gesunde Menschenverstand“ galt wohl nicht als eine so sichere Instanz. Da ist ja auch viel vom „Toren“ die Rede. Ihm fehlt nicht die Intelligenz, aber die Fähigkeit, sich den waltenden Ordnungen anzupassen. Er ist maß-los; er verschätzt sich. Es handelt sich also um eine Unordnung im Innersten. [151]

2. Dieser Erkenntniswille richtet sich auf eine bis auf den Grund entmythisierte Welt. Diese „Säkularität“ wird aber heute oft falsch vereinnahmt als ein Vorläufer und eine Legitimation des modernen Weltverständnisses. Die Weisen horchen in eine von Gott total umgriffene und durchwaltete Welt hinaus, d. h. in die Welt als Schöpfung. Für uns, aber auch für die Antike, scheint das eine Paradoxie: Je konsequenter die Welt als Schöpfung gesehen wird, um so konsequenter kann von ihrer Welthaftigkeit geredet werden. Das Reden von der Welthaftigkeit der Schöpfung ist also nicht das Einleuchtende, so, als sei Israel schon auf dem Weg zu einem Weltverständnis, das uns heute selbstverständlich erscheint. Im Gegenteil: Israel sah sich in eine Aporie geführt; es behauptete die Nichtidentität von Gott und Schöpfung und hielt doch an dem Durchwaltetsein der Schöpfung fest. Wie artikulierte es die Widerfahrnisse? Die Vorstellung von einer Eigengesetzlichkeit der Welt konnte nicht durchgehalten werden. Die Sentenzen artikulieren die Wirklichkeit merkwürdig ambivalent. Völlig promiscue reden sie wie vom Funktionieren neutraler Ordnungen, wie von einem Regelgeschehen; dann wieder ganz unmittelbar, bekenntnishaft von einem Segnen oder Verweigern Jahwes.

3. Mit dem Wort Wirklichkeit ist der Begriff beschworen, auf dessen rechtes Verständnis in diesem Zusammenhang alles ankommt. Es ist Unfug, vom modern populären Wirklichkeitsbegriff aus den Lehrdichtungen „Dogmatismus“ und Wirklichkeitsfeme vorzuwerfen. Zwei Erkenntnisse sind für die Weisen schlechterdings konstitutiv:

a) Die Schöpfung interpretiert sich selbst.

„Aber befrage doch das Tier; es wird dich lehren,
und die Vögel des Himmels, sie werden dir anzeigen.
Oder das Gesträuch der Erde wird dich lehren;
erzählen werden’s dir die Fische des Meeres.
Wer weiß nicht Bescheid von dem allem,
daß Jahwes Hand dies gemacht hat.“
(Hi. 12, 7-9)

Wieviele Verba dicendi! Die Schöpfung hat also nicht nur ein Sein, sie hat auch eine Aussage. Auch in den täglichen Widerfahrnissen kann man „lesen“. In der Gottesrede im Hiob gibt Gott der Schöpfung das Wort; offenbar ist sie ermächtigt, in diesem Streitfall das Wort zu ergreifen. Immer anspruchsvoller wird diese Vorstellung von dem Selbstzeugnis der Schöpfung in jüngeren Lehrdichtungen, wie etwa in Spr. 8 entfaltet. Die weltimmanente Weisheit ruft den Menschen. Aus der Schöpfung ergeht geradezu ultimativ ein Ordnungswille:

„Durch mich regieren Könige
und Amtsträger bestimmen, was recht ist.“
(Spr. 8, 15)

Auf diese Selbstoffenbarung der Schöpfung geht also der Wahrheitsbesitz aller Völker zurück. Ja, ein Heilsangebot geht voll ihr aus, das [152] den Menschen in einen Liebesdialog mit der Schöpfung hineinzieht („Ich habe lieb, die mich lieben“ Spr. 8, 17). Das Schöpfungsgeheimnis spielt mit dem Menschen, es liebt ihn, lädt ihn in seine innersten Gemächer ein, ja, es sitzt schon vor seiner Türe! Hier vollzieht sich eine ans Mystische grenzende Auslieferung des Menschen an die Herrlichkeit des Seins. Hier wirft sich der Mensch mit Lust einem Sinn entgegen; er entdeckt ein Geheimnis, das schon auf dem Weg ist, sich ihm zu schenken.

b) Diese Wirklichkeit ist in ihrem Gewähren oder Verweigern dem Menschen durchaus persönlich zugekehrt. In einer unendlichen und nie ganz unverständlichen Beweglichkeit meint sie immer ihn. Immer spielt sie in dem Verhältnis des Menschen zu Gott mit. Israel hat sich diesem Existenzialbezug, diesem Andringen der Umwelt auf den Menschen gestellt, und es vermochte diesem Geschehen Sinn abzugewinnen.

4. Die Schöpfung ist vertrauenswürdig (ein weites Feld weisheitlicher Belehrung!). Das gilt nicht so im Sinne unseres „Gottvertrauens“, sondern eines Vertrauens zur Schöpfung, die dem, der sich auf sie einläßt, selbst ihre Wahrheit erweist. Dieses Vertrauen zum Leben konnte sich nach der Überzeugung der Weisen auf bestimmte Erkenntnisse und Erfahrungen berufen.

Dem widerspricht freilich der Prediger Salomo radikal: „Es ist alles nichtig.“ Eine rationale Durchforschung des Lebens vermag nach seiner Meinung keinen tragfähigen Sinn zu ergeben. Aber dem ist nun nicht so, daß seine Thesen einfach auf einer genaueren, kritischeren Wirklichkeitserkenntnis stünden. Das Gespräch mit seiner Umwelt ist ebenso abgerissen wie sein Gespräch mit Gott. Er hat kein Vertrauen mehr. Hier steht also nicht realistische Erfahrung gegen „dogmatische“ Voreingenommenheit, sondern es steht Erfahrung gegen Erfahrung. Die Weisen sprachen eine Erfahrung aus, die immer im Gespräch mit ihrem Glauben stand. Es gibt aber keine absolute kritische Instanz, die feststellen könnte, wie viel oder wie wenig eine solchermaßen vom Glauben umfangene Vernunft der Erfahrung entnehmen kann. Im Radikalismus seines Fragens ist der Prediger ganz zum Zuschauer geworden. Von jeder aktiven Lebensgestaltung hat er sich zurückgezogen und damit sich von vornherein von einem weiten Bereich entscheidender Erfahrungen ausgeschlossen. Derart verarmt geht er gleichwohl in seinem Versuch eines Weltverständnisses aufs Ganze; er bürdet der Erfahrung die Beantwortung der Heilsfrage schlechthin auf und er gelangt – wieder im Unterschied zu den Weisen, die summarischen Abstraktionen aus dem Wege gingen – zu dem Fazit „Nichtigkeit“. Aber die Frage, ob sich ein Widerfahrnis dem einen verschließt oder ob es sich dem andern öffnet, läßt sich nicht allein aus dem Temperament oder dem Vorstellungskreis des Betroffenen beantworten. Sie weist vielmehr zurück in den Bereich jenes verborgenen Gesprächs des einzelnen mit seiner Welt, das eben kein [153] Monolog des auf sich selbst zurückgeworfenen Menschen ist. Der Prediger war außerstande, mit der auf ihn eindringenden Welt in ein Gespräch einzutreten. Sie war für ihn zu einem stummen abweisenden Draußen geworden. Übrigens darf man die Weisen ja nicht dem Prediger als die alles Verstehenden gegenüberstellen. Sie waren auch Dithyrambiker des Geheimnisses. Sie haben das Geheimnis geradezu zum Lehrgegenstand erhoben. Aber dieses Geheimnis ist nie als ein Mysterium der Welt in ihrer Tiefe inhärent; es bleibt immer das Geheimnis Gottes.

5. Im Neuen Testament stehen die Wirklichkeitserfahrungen in einem veränderten Horizont. Die Todesgrenze ist aufgehoben; diese Weltzeit ist eine vergehende. Aber an der Überzeugung, daß in der Schöpfung Wahrheit greifbar ist, hat sich nichts geändert. Das tritt in ganz verschiedenen zusammenhängen immer wieder zutage: In den Gottesreichsgleichnissen geht es um eine Sache, die sich im Bereich des Erfahrbaren begibt und für die bestimmte Regeln gelten, die der Vernunft geläufig sind (Unkraut unter dem Weizen!). Es wimmelt in der Predigt Jesu von Vernunftschlüssen und Erfahrungssätzen („Wer hat, dem wird gegeben, wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat“. Mt. 13, 12). Der reiche Kornbauer wird einfach als „Tor“ bezeichnet. Paulus führt für sich und seine Leser ohne weiteres einleuchtend die geschlechtliche Perversion auf die Verkennung des Selbstzeugnisses der Schöpfung zurück. Eine „Wirklichkeit“ interpretiert sich ihm theologisch (Rö. 1, 22 ff.). Der Satz von „den Früchten der Trübsal“ – Geduld, Bewährung, Hoffnung – ist ein Erfahrungsurteil (Rö. 5, 3 f.). In Phil. 1, 9 – „Euere Liebe werde reich an Erkenntnis und Verständnis (aisthesis)“ – wird die agape fast programmatisch auf einzubringende Erkenntnisse verwiesen. Und was die wirksame Zukehr der Umwelt auf den Menschen hin anlangt, so hat sie Paulus wiederum fast programmatisch behauptet: Denen, die Gott lieben, „wirkt alles zum Guten mit“ (Röm. 8, 28).

Und nun sei endlich die Frage formuliert: Kann der christliche Glaube nicht auch heute dem Menschen mit Erfahrungen und Wahrheiten an die Hand gehen, die Evidenz haben? Die Weisen Israels behaupteten, daß es keineswegs a limine aussichtslos sei, die Schöpfung auf Gott hin zu befragen. Sie wußten von einer Art Urordnung, die sich auf allen Plätzen, „an den lärmvollsten Orten“ der Stadt bezeugt, also nicht von etwas Esoterischem, sondern von einem Wissen, das sozusagen auf der Straße liegt (Spr.1, 20 f.). Ist demgegenüber der Eifer, mit dem wir das Walten Gottes in eine totale Verborgenheit hinabstoßen, christlich gerechtfertigt? Nun klagen wir über die „Weltlosigkeit“ Gottes. Haben wir der Vernunft gar nichts anzubieten? Wohl, – Weisheit ist nie ein neutrales Sachwissen; es ist ein Wissen, zu dem man sich bekennt, das man lebt und hinter dem ein Vertrauen steht. Auch wir predigen das absolute Vertrauen, aber dahinter kommt nichts mehr. Haben wir nicht ein großes Feld, auf dem wir zum Reden, ja zum Ar-[154]gumentieren ermächtigt wären, eine riesige Dimension spezifisch christlicher Erfahrungen versteppen lassen? Lehren wir nicht im Grunde ein Leben ohne Nähe Gottes? Das kleine Gespräch des Menschen mit seinen Widerfahrnissen zwischen Morgen und Abend muß dem großen „Weltgespräch“ mit den Physikern vorangegangen sein. Eine göttliche Segnung ist doch auch eine Erfahrung. Ist sie ein Lotterietreffer oder gibt es da Zusammenhänge, die ihre Logik haben? Lassen sich da gar keine Wahrheiten fixieren, die sich der Vernunft bestätigen? Alle Welt verlangt mit Recht, daß sich der christliche Glaube „nach draußen“ öffne. Aber was geschieht denn da draußen, wie sieht die „Wirklichkeit“ aus, auf die sich alle berufen? Von den heutigen Humanwissenschaften können wir eine Menge lernen; der Nachholbedarf ist tatsächlich sehr groß. Aber die christliche Interpretation der „Wirklichkeit“ können sie uns nicht abnehmen. Wir werden das heutige Wissen von der Welt und vom Menschen auf seinem eigensten Gebiet provozieren müssen. Vielleicht könnte eine neue Bemühung um die Wirklichkeit unsere entsetzliche Stummheit (oder unsere ebenso entsetzliche theoretische Gesprächigkeit) lösen und uns zu einem helfenden Gespräch mit den andern ermächtigen.

Quelle: Evangelische Theologie, 31. Jahrgang (1971), Nr. 3-4, S. 150-154.


[1] Im folgenden greife ich auf Feststellungen und Formulierungen in meinem eben erschienenen Buch „Weisheit in Israel“ (Neukirchen 1970) zurück.

Hier der Text als pdf.

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