
Narrative Theology – dieses angloamerikanische Theologielabel verdankt sich einem Aufsatz des deutschen Romanisten Harald Weinrich aus dem Jahr 1973 in der Zeitschrift Concilium. Darin resümiert Weinrich:
Die heilige oder unheilige Allianz zwischen der Theologie und den Wissenschaften, insbesondere der Geschichtswissenschaft, ist nicht ohne weiteres rückgängig zu machen. Eine nur narrative Theologie ist kaum mehr vorstellbar, zumal nicht in dieser post-narrativen Zeit. Aber der disziplinären und interdisziplinären Theologie-Kritik mag dennoch gestattet sein, die Fraglosigkeit dieses alten Bundes mit der Geschichtswissenschaft in Frage zu stellen. Es ist insbesondere nicht recht einzusehen, warum die Theologen zusammen mit den Historikern wie fixiert auf den einen Punkt starren, wo es um die Wahrheit einer Geschichte geht. Die Faktizität ist nicht die conditio sine qua non dafür, daß eine Geschichte uns etwas angeht, uns «betrifft». Auch fiktionale Geschichten können im Modus der Betroffenheit rezipiert werden. Die Betroffenheit ist eine generell narrative und nicht spezifisch historische Kategorie, und die Betroffenheit beim Hören einer fiktionalen Geschichte kann ebenso wie beim Hören einer tatsächlich geschehenen Geschichte jenes Weiterhandeln und das zugehörige Nacherzählen auslösen, das denen auferlegt ist, die hingeben und ein gleiches tun wollen. Der Weg über die Doktrin ist dabei nicht unerläßlich und scheint eher ein Umweg zu sein, wenn man bedenkt, daß eine erzählende und eine praktische («politische») Theologie es beide mit Handlungen zutun haben. Immerhin; die Theologie wird nicht soweit praktisch werden können, daß sie aus dem Bund der theoretischen Wissenschaften austräte. Aber auch als theoretische Wissenschaft braucht sie ihre überlieferten Erzählungen nicht— kleingläubig — zu verleugnen. Eine Theorie der Narrativität wäre ein weiträumiges Forschungsprogramm für diese Wissenschaft. Mit ihr könnte sie gleichzeitig verschiedenen anderen Wissenschaften interdisziplinären Beistand bieten, einschließlich der Geschichtswissenschaft, die sich bisher selber ebenfalls kaum für die Bedingungen ihrer eigenen Narrativität interessiert hat. Dieses Forschungsprogramm fiele übrigens nicht mit der bekannten Methode der «Formgeschichte» zusammen. Es bleibt insbesondere der entscheidende Unterschied, daß in dieser Theorie der Narrativität die fundamentale Diskriminierung der Narrativität zugunsten der Diskursivität, zumal in der Wissenschaft, von vornherein negativ in Rechnung zu stellen ist. Selbst die stimmigste Theorie der Narrativität muß daher notwendig als inadäquat gelten gegenüber einer einfachen vor- oder nacherzählten Geschichte, die im Hörer Betroffenheit erzeugt und ihn zum «Täter des Wortes» werden läßt, so daß von ihm wiederum erzählt werden kann.
Nein, das ist nicht der theologischen Weisheit letztes Wort. In den biblischen Geschichten, die in der Tat nacherzählt werden müssen – andernfalls wären sie ideologisch aufgelöst – hat das Geschehensein des Erzählten eine unverzichtbare Bedeutung. Das Geschehen trägt die Verheißung und schafft darin den Glauben. Betroffenheit ist zu wenig, da sie nur die eigene moralisch gehaltene Nachahmung bzw. Nacherzählung bewirken kann. Das soll aber Weinrichs stimmulierenden Überlegungen keinen Abbruch tun. Ja, von Romanisten wie Lausberg, Auerbach, Curtius oder auch Weinrich kann man mitunter theologisch mehr lernen als von manchem theologischen Systematiker.
Hier Weinrichs vollständiger Text „Narrative Theologie“ als pdf.
Und hier die englischsprachige Fassung „Narrative Theology“ als pdf.