Am Ende der Berufsgeschichte Abrahams in Genesis 12 heißt es: „Da ging Abram, wie der HERR es ihm gesagt hatte, und Lot ging mit ihm. Abram aber war fünfundsiebzig Jahre alt, als er von Charan auszog. Und Abram nahm Sarai, seine Frau, und Lot, den Sohn seines Bruders, und all ihre Habe, die sie besassen, und die Leute, die sie in Charan erworben hatten, und sie zogen aus, um ins Land Kanaan zu gelangen, und sie kamen ins Land Kanaan.“ (Zürcher vv 4-5) Der französische Jesuit und China-Missionar Yves Raguin (1912-1998) hat den Aufbruch Abrahams als ganzheitlichen Weg in die Erkenntnis des lebendigen Gottes zu deuten gewusst:
Viele brechen nur scheinbar auf. Meditation über Abrahams Aufbruch (Genesis 12,4-5)
Viele brechen nur scheinbar auf.
Sie tragen nur ein Gespenst ihrer selbst mit sich fort,
eine abstrakte Puppe.
Sich selber bringen sie vor dem Aufbruch in Sicherheit …
Sie bilden sich eine künstliche Persönlichkeit,
eine ausgeliehene,
nach Büchern zurechtgemachte,
und diesen Roboter,
diesen Schatten ihrer selbst schicken sie auf die Suche nach Gott.
Nie treten sie mit ihrem ganzen Wesen in die Erfahrung ein […]
Beim Auszug muss man seinen ganzen Besitz auf seinen Esel packen,
mit allem emigrieren,
was man ist,
mit seinen Knochen,
seinem Geist,
seiner Seele,
alles muss mit,
das Erhabene und das Erbärmliche,
die Sündenvergangenheit,
die großen Hoffnungen,
die gemeinsten und heftigsten Triebe …
Alles, alles,
denn alles muss durch das Feuer hindurch.
Alles muss schließlich integriert werden,
damit ein Mensch herauskommt,
der mit Leib und Seele in die Erkenntnis Gottes eingehen kann.
Gott will ein leibhaftiges Wesen vor sich sehen,
das weinen kann,
schreien unter den Wirkungen seiner läuternden Gnade;
er will ein Wesen, das um den Wert menschlicher Liebe weiß
und die Anziehung des anderen Geschlechts kennt.
Er will ein Wesen, das den heftigsten Wunsch verspürt,
ihm zu widerstehen, warum nicht? …
Gott will ein menschliches Wesen vor sich sehen,
sonst hätte seine Gnade nichts zu verwandeln;
das wirkliche Wesen wäre entwischt.
Hier aber pflegt das Unglück zu geschehen:
zu viele unter denen, die sich Gott geben,
haben seinem Wirken nur eine ausgeliehene Persönlichkeit ausgesetzt …
Kein Wunder, wenn sie eines Tages entdecken,
dass sie für etwas anderes gemacht sind.
Quelle: Yves Raguin, Wege der Kontemplation in der Begegnung mit China, Einsiedeln: Johannes-Verlag, 2. A. 1976, 31f.