Ingeborg Bachmann über die Strahlkraft des Namens: „Der Name allein genügt, um in der Welt zu sein und es gibt nichts Mysteriöseres als das Leuchten von Namen und unser Hängen an solchen Namen.“

Es sind Schriftstellerinnen (und weniger die Theologen), die es zur Sprache bringen können, welche Macht und Bedeutung Namen haben. Im Wintersemester 1959/60 übernahm Ingeborg Bachmann (1926-1973) als erste Dozentin die vom S. Fischer Verlag eingerichtete Gastdozentur für Poetik an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt/Main. Von den ursprünglich vorgesehenen sechs Vorlesungen wurden zwischen November 1959 und Februar 1960 nur fünf gehalten. Die vierte Vorlesung war dem Umgang mit Namen gewidmet:

Der Umgang mit Namen

Von Ingeborg Bachmann

Es gibt nichts Mysteriöseres als das Leuchten von Namen und unser Hängen an solchen Namen, und nicht einmal die Unkenntnis der Werke verhindert das triumphierende Vorhandensein von Lulu und Undine, von Emma Bovary und Anna Karenina, von Don Quijote, Rastignac, dem Grünen Heinrich und Hans Castorp. Ja, der Umgang mit ihnen in Gesprächen oder in Gedanken ist uns so selbstverständlich, so geheuer, daß wir nicht ein einziges Mal fragen, warum ihre Namen in der Welt sind, als wäre jemand mit ihnen besser getauft als wir mit unseren Namen, als hätte da eine Taufe stattgefunden, bei der zwar kein Weihwasser hat herhalten müssen und von der kein Schriftzug in einem Register spricht — als hätte da eine Namensgebung stattgefunden, die endgültiger und von einem Vorzug ist, an dem kein Lebender teilhat. Diese Namen sind eingebrannt in erdachte Wesen und vertreten sie zugleich, sie sind dauerhaft und so mit diesen Wesen verbunden, daß, wenn wir sie ausborgen und Kinder so nennen, diese zeitlebens mit der Anspielung herumgehen oder wie in einem Kostüm: der Name bleibt stärker an die erschaffene Gestalt gebunden als an den Lebenden.

Weil der Dichtung in Glücksfällen Namen gelungen sind und die Taufe möglich war, ist für die Schriftsteller das Namensproblem und die Namensfrage etwas sehr Bewe-[314]gendes, und zwar nicht nur in bezug auf Gestalten, sondern auch auf Orte, auf Straßen, die auf dieser außerordentlichen Landkarte eingetragen werden müssen, in diesen Atlas, den nur die Literatur sichtbar macht. Diese Landkarte deckt sich nur an wenigen Stellen mit den Karten der Geographen. Freilich sind auch Orte darauf eingetragen, die der gute Schüler kennt, aber auch andere, die kein Lehrer kennt, und alle zusammen ergeben sie ein Netzwerk, das reicht von Delphi und Aulis bis Dublin und Cambray, von der Rue Morgue bis zum Alexanderplatz und vom Bois de Boulogne bis in den Prater: die Wüste von T. E. Lawrence und der Himmel, den Saint Exupéry beflogen hat, stehen auch darauf, aber viele Wüsten nicht, viel fruchtbare Erde nicht — hier gibt es sie nicht. Und Orte gibt es darauf, manche viele Male, wohl hundertmal Venedig, aber immer ein anderes, das von Goldoni und von Nietzsche, eines von Hofmannsthal und eines von Thomas Mann, und es gibt Länder, die sich schwerlich finden auf den käuflichen Karten, Orplid und Atlantis, und andere, die gibt es wohl, wie Illyrien, aber Shakespeares Illyrien deckt sich nicht damit; und es gibt natürlich auch Frankreich und England und Italien und wie die Länder alle heißen mögen! Aber suchen wir einmal jenes Frankreich, das wir jetzt meinen, reisen wir – wir werden nicht ankommen, dort waren wir schon immer oder noch nie. Auf dem Zauberatlas ist es eingezeichnet, wahrer, viel wahrer, und es grenzt dort die Newa an die Seine, und über die Seine führt der Pont du Carrousel von Balzac und der Pont Mirabeau von Apollinaire, und die Steine und die Wasser sind aus Worten gemacht. Dort werden wir unseren Fuß nie hinsetzen, auf diesen Pont Mirabeau niemals, und das schneeige Rußland, durch das die Zwölf von Alexander Blok gezogen sind, wird uns nicht sehen. Aber andererseits: auf all unseren Fahrten, wo sind wir wirklich gewesen? Im Bordell von Dublin und [315] auf dem Blocksberg, auf den finnischen Gütern des Herrn Puntila und in den Salons von Kakanien — dort waren wir vielleicht wirklich.

Unsere Namen sind so zufällig und das Gefühl der Namenlosigkeit uns selbst und der Welt gegenüber befällt uns oft. Darum bedarf es der Namen, Gestaltennamen, Ortsnamen, Namen überhaupt. Aber verwunderlich ist es doch, und wer möchte nicht manchmal rufen, mit Hamlet:

»Und alles das um nichts!
Um Hekuba!
Was ist ihm Hekuba, was ist er ihr, daß er um sie soll weinen!«

Ja, was sind uns Lulu und Julien Sorel, was Manon und der Knabe Elis? Sind sie nur Stellvertretungen oder Anspielungen? So, wie einer anspielt auf Hekuba und Hekuba wiederum anspielt auf ein Drittes. Sind sie Platzhalter? Oder noch etwas mehr?

Denn mir scheint, daß die Treue zu diesen Namen, Gestaltnamen, Ortsnamen, fast die einzige ist, deren die Menschen fähig sind.

Unser Gedächtnis ist so eingerichtet, daß wir die Namen der Lebenden vergessen, von Schulfreunden nach 15 Jahren kaum mehr wissen, wie sie geheißen haben; die Adressen, die wir einmal auswendig kannten, gehen uns verloren; oder ein Stück von einem Namen geht verloren, die rechte Schreibung; eine Verwechslung tritt eines Tages ein. Und dieses Verdämmern: war es damals in Parma oder in Piacenza? — nein, in Pavia, oder doch nicht! Von. diesem Namensterben in uns ist nur weniges ausgenommen, die Namen derer, die uns am nächsten gestanden sind, oder Namen, die Vorfälle, Zufälle, verankert haben.

Aber was wir hofften, vergessen zu können, schon früh in der Schulzeit, weil wir ärgerlich waren, wenn man uns mit Odysseus und Wilhelm Teil plagte, und obwohl wir geschworen haben, sie zu vergessen wie die chemischen For-[316]meln, die wir tatsächlich vergessen haben — wir haben sie nicht vergessen, und unsere Vorstellung von ihnen, deutlich oder verkümmert, ist haltbarer und vertretbarer als die von lebenden Menschen. Der Umgang mit ihnen ist unkündbar.

Wir gehen ja wirklich mit ihnen um, für uns ist die Welt auch mit ihnen bevölkert.

Unlängst ist in einem New Yorker Museum ein Bild von Monet verbrannt, die ›Seerosen‹. Ich habe es einmal gesehen, und als die Nachricht in den Zeitungen stand, kam ich von dem Gedanken nicht los: wohin sind nun eigentlich die Seerosen gegangen? Dieses Verschwinden, Auslöschen, es ist nicht möglich; unser Gedächtnis hält sie noch, will sie halten, und man möchte reden von ihnen, damit sie hierbleiben, denn diese Zerstörung ist so anders als das Sterben aller Seerosen in allen Seen, und doch war der Brand nur eine geringfügige Zerstörung, gemessen an allen Zerstörungen, von denen wir wissen, durch Kriege. Oder was ist das mit dem Brand der Bibliothek von Alexandrien, von dem wir noch immer reden, nach 2000 Jahren, als hätten nicht mittlerweile unsere Häuser und Städte oft gebrannt? Immer noch denken wir daran, treu, bei soviel Treulosigkeit. Ob diese Treue gutzuheißen ist — und die Tränen um Hebuka — wir wissen es nicht. Wir sind übertragbar und müssen das Beste übertragen. Es scheint so beschlossen zu sein.

In der neuen Literatur ist, was die Namen anbelangt, nun einiges geschehen, das nachdenklich macht, eine bewußte Schwächung der Namen und eine Unfähigkeit, Namen zu geben, obwohl es weiterhin Namen gibt und manchmal noch starke Namen. Und von beiden soll die Rede sein, von der Behauptung der Namen und vom Verkümmern der Namen, von ihrer Gefährdung und der Ursache dafür.

Als Kafkas Romane und Erzählungen berühmt wurden, [317] wurden mit ihnen K. und Josef K. berühmt, zwei Gestalten, die nicht nur kaum auszumachen sind als Romangestalten im herkömmlichen Sinn, sondern die schon in ihrem Namen reduziert sind, mehr mit einer Chiffre als einem Namen ausgestattet sind. Es besteht nämlich ein eklatanter Zusammenhang zwischen dieser Namensverweigerung von seiten des Autors und der Verweigerung all dessen an K., was ihn berechtigen könnte, einen Namen zu tragen. Herkunft, Milieu, Eigenschaften, jede Verbindlichkeit, jede Ableitbarkeit sind der Figur genommen. Was Kafkas geniale Manipulation für Folgen hatte, ist Ihnen bekannt. Die Kafka-Mode hat uns eine ganze Literatur beschert, Erzählungen und Romane haufenweis, in denen die Helden A. und X. und N. heißen, nicht wissen, woher sie kommen und wohin sie gehen, in Städten und Dörfern wohnen, in Ländern, in denen sich niemand zurechtfindet, meist auch der Autor selber nicht, es gibt da nur allgemeine Benennungen, die Stadt, der Fluß, die Behörde, Prozesse, Einkreisungen, die als Parabeln verstanden werden sollen, aber wofür? Sie sind auf alles und jedes applizierbar. Man sollte den Epigonen jedoch nicht ganz unrecht tun, denn etwas dürften einige von ihnen, bewußt oder unbewußt, begriffen haben — nämlich, daß es heute nicht so leicht ist, etwas zu benennen, Namen zu geben, daß das Vertrauen in die naive Namensgebung erschüttert ist, daß hier tatsächlich eine Schwierigkeit liegt, daß es auch den anderen Autoren, die fortfahren, naiv zu benennen, nur selten gelingt, uns einen Namen zu übergeben, eine Gestalt mit einem Namen, der mehr ist als eine Erkennungsmarke — einen, der uns so überzeugt, daß wir ihn annehmen, fraglos, den wir uns merken, uns wiederholen und mit dem wir anfangen, Umgang zu haben.

Wie Kafka selbst jedoch, zum Unterschied von seinen Nachahmern, folgerichtig mit seinen Namen verfährt, möchte ich Ihnen an einem Beispiel zeigen, dem Roman ›Das [318] Schloß‹. Mit welcher Genauigkeit werden wir doch von ihm in die Unsicherheit und Ungenauigkeit geführt! Ein Landvermesser, K., kommt in das Dorf, vermeintlich als Angestellter des Schlosses. Wenig später treffen auch seine Gehilfen ein, und es gibt die folgende Szene:

»Es ist schwer mit euch«, sagte K. und verglich wie schon öfters ihre Gesichter, »wie soll ich euch denn unterscheiden? Ihr unterscheidet euch nur durch die Namen, sonst seid ihr einander ähnlich wie« — er stockte, unwillkürlich fuhr er dann fort —, »sonst seid ihr einander ja ähnlich wie Schlangen.« Sie lächelten. »Man unterscheidet uns sonst gut«, sagten sie zur Rechtfertigung. »Ich glaube es«, sagte K., »ich war ja selbst Zeuge dessen, aber ich sehe nur mit meinen Augen, und mit denen kann ich euch nicht unterscheiden. Ich werde euch deshalb wie einen einzigen Mann behandeln und beide Artur nennen, so heißt doch einer von euch. Du etwa?« — fragte K. den einen. »Nein«, sagte dieser, »ich heiße Jeremias.« — »Es ist ja gleichgültig«, sagte K., »ich werde euch beide Artur nennen. Schicke ich Artur irgendwohin, so geht ihr beide, gebe ich Artur eine Arbeit, so macht ihr sie beide…«

Wir werden aber noch sehen, daß K.s Ignoranz sich rächen wird, denn ihm steht die Namensverweigerung nicht zu.

In eine große Verlegenheit kommt K. aber selber, als endlich vom Schloß angerufen wird und er sich melden soll. K. zögert, sich zu nennen. K.s Zögern macht den Mann ungeduldig. »Wer dort?« wiederholt er und fügt hinzu: »Es wäre mir lieb, wenn dortseits nicht soviel telephoniert würde, erst vor einem Augenblick ist telephoniert worden.« K. geht auf diese Bemerkung nicht ein, sondern meldet sich, einem plötzlichen Entschluß folgend, fälschlich als Gehilfe des Landvermessers. Dringender befragt, welcher Gehilfe er denn sei, gibt K. endlich seinen Vornamen preis und sagt: »Josef.« Ein wenig stört ihn hinter seinem [319] Rücken das Murmeln der Bauern; offenbar sind sie nicht damit einverstanden, daß er sich nicht richtig meldete. Am Telephon wird ihm widersprochen, man weiß dort, daß die Gehilfen Artur und Jeremias heißen. K. lügt weiter, behauptet, der alte Gehilfe zu sein, der dem Landvermesser nachkam. »›Nein!‹ schrie es nun. ›Wer bin ich also?‹ fragte K., ruhig wie bisher.« Und nach einer Pause gibt die Stimme am Telephon ihm zu, was er hören wollte, er sei der alte Gehilfe. — Damit ist eigentlich der unheilvolle Auftakt da; er kann nur noch, sich hinter einer anderen Person versteckend, fragen, wann sein Herr, also er selber, ins Schloß kommen dürfe. Und die Antwort ist: »Niemals.«

K. bequemt sich auch erst dazu, Jeremias »Jeremias« zu nennen, als dieser ihm gefährlich wird, Artur davongelaufen ist und im Schloß gegen ihn wirkt, aber auch das ist zu spät, denn Jeremias, muß er entdecken, hat ihm Frieda weggenommen, die er wiederum an sich binden wollte, weil sie die Geliebte des vermutlich mächtigen Klamm vom Schloß war. In einem Gespräch über Klamm übrigens, wenn K. die Wirtin, auch eine einstige Geliebte Klamms, ausfragt, bekommt er eine bezeichnende Antwort:

Die Wirtin schwieg und ließ nur ihren Blick beobachtend an K. auf und ab gehen. Dann sagte sie: »Ich will allem, was Sie zu sagen haben, ruhig zuhören. Reden Sie lieber offen, als daß Sie mich schonen. Nur eine Bitte habe ich. Gebrauchen Sie nicht Klamms Namen. Nennen Sie ihn ›Er‹ oder sonstwie, aber nicht beim Namen.«

Wenn in dem Fall Klamm aber der Namensgebrauch noch eindeutig ist, obwohl nur sein Name durch das Buch geistert, K. ihn nur einmal durch ein Guckloch, undeutlich, sehen kann und die Wirtin gar nur ein Photo des Boten aufbewahren kann, der sie einmal zu Klamm gerufen hat, [320] so wird die Namensverwirrung vollkommen, wo eine höhergestellte Person aus dem Schloß einmal leiblich erschienen ist und ihren Schatten geworfen hat, als sollte die von Kafka gewünschte Unkenntlichmachung wieder durch die Namensbehandlung erreicht werden. K. stößt schon im Anfang seines Aufenthalts auf den Namen eines Beamten: Sordini. Jemand erklärt:

»Ich begreife auch nicht, wie selbst ein Fremder glauben kann, daß, wenn er z. B. Sordini anruft, es auch wirklich Sordini ist, der ihm antwortet. Vielmehr ist es wahrscheinlich ein kleiner Registrator einer ganz anderen Abteilung. Dagegen kann es allerdings in auserlesener Stunde geschehen, daß, wenn man den kleinen Registrator anruft, Sordini selbst die Antwort gibt. Dann freilich ist es besser, man läuft vorn Telephon weg, ehe der erste Laut zu hören ist.«

Von jenem Sordini meint K. wieder zu hören, wenn Olga ihm die Geschichte ihrer Schwester Amalia erzählt, die den unverschämten Antrag des Beamten abgewiesen hat und deren ganze Familie seither um die Wiederherstellung ihrer Position im Dorf kämpft: »›Es gibt einen großen Beamten im Schloß, der heißt Sortini.‹ — ›Ich habe schon von ihm gehört‹, sagte K., ›er war an meiner Berufung beteiligt.‹—›Das glaube ich nicht‹, sagte Olga, ›Sortini tritt in der Öffentlichkeit kaum auf. Irrst du dich nicht mit Sordini, mit ,d` geschrieben?‹ — ›Du hast recht‹, sagte K., ›Sordini war es.‹ — ›Ja‹, sagte Olga, ›Sordini ist sehr bekannt, einer der fleißigsten Beamten, von dem viel gesprochen wird; Sortini dagegen ist sehr zurückgezogen und den meisten fremd…‹« Es folgt die Geschichte, und später heißt es plötzlich wieder: »›Von Klamm ist es bekannt, daß er sehr grob ist; er spricht angeblich stundenlang nicht, und dann sagt er plötzlich eine derartige Grobheit, daß es einen schaudert. Von Sortini ist das nicht bekannt, wie er ja überhaupt sehr unbekannt ist. Eigentlich weiß man von [321] ihm nur, daß sein Name dem Sordinis ähnlich ist; wäre nicht diese Namensähnlichkeit, würde man ihn wahrscheinlich gar nicht kennen. Auch als Feuerwehrfachmann verwechselt man ihn wahrscheinlich mit Sordini, welcher der eigentliche Fachmann ist und die Namensähnlichkeit ausnützt, um besonders die Repräsentationspflichten auf Sortini abzuwälzen…‹« Der Unbekanntheit der Personen oder ihrer relativen Unbekanntheit stehen also die Namensschwankungen oder Namenheimlichkeiten gegenüber. Eins bedingt das andere.

Und darum verwundert es auch schon nicht mehr, wenn man, was den Grafen des Schlosses betrifft, das groteske Gespräch K.s mit dem Lehrer liest: »K. gab aber nicht nach und fragte nochmals: ›Wie? Sie kennen den Grafen nicht?‹ — ›Wie sollte ich ihn kennen‹, sagte der Lehrer und fügte laut auf französisch hinzu: ›Nehmen Sie Rücksicht auf die Anwesenheit unschuldiger Kinder.‹« Dieses »Nehmen Sie Rücksicht auf die Anwesenheit unschuldiger Kinder«, als wäre die harmlose Frage nach einer Person etwas Obszönes oder Verbrecherisches, ist beispiellos.

Daß bei Kafka auch einfache, hausbackene Namen vorkommen, etwa die Mädchennamen Frieda, Olga, auch Familiennamen wie Gerstäcker und Lasemann in ihrer Selbstverständlichkeit und Unerheblichkeit, lenkt nur den Blick ab von der nicht mehr bewältigbaren Namensfrage. Der Held K. sagt sich ja, in einem Augenblick wirklicher Einsicht, daß er unauffällig wie jene Gerstäcker und die anderen Dorfbewohner werden müßte, um seinen Frieden im Dorf zu finden. Max Brod berichtet, daß K. auf dem Sterbebett erfahren sollte, daß er leben und arbeiten dürfe im Dorf, obwohl kein Rechtsanspruch bestehe. Das Zusammenfallen des Todes mit dieser Nachricht ist notwendig, denn wie der Name K. sich fügen soll, wie er heimisch werden soll unter den anderen einfachen Namen, ist nicht vorstellbar. K. ist nur vorstellbar auf dem Weg, [322] aber nicht am Ziel, nicht in der Gemeinschaft, schon des Namens wegen.

Aber es liegt mir fern, Kafka-Exegese zu treiben.

Wir sind noch immer so gewohnt, Figuren an ihren Namen zu erkennen und mit Hilfe der Namen auf der Fährte des Geschehens zu bleiben, daß wir meinen, mit dem Namen auch schon die Figur zu haben. Selbst bei Kafka können wir uns noch an die Namen klammern; wir werden zwar öfters fortgestoßen, unsicher gemacht, aber wir klammern uns wieder daran. Wir sind es so gewohnt und sind auch verwöhnt — verwöhnt nicht nur von der älteren Literatur, sondern auch von Zeitgenossen jener Schriftsteller, die uns die Namen zum erstenmal aus der Hand schlagen. Ich denke vor allem an Thomas Mann. Aber die Raffinesse, mit der er uns die meisten seiner Namen serviert, ist vielleicht auch nichts anderes als ein Alarmzeichen. Den Namen kommt bei Thomas Mann eine große Wichtigkeit zu; er ist der letzte große Namenserfinder, ein Namenzauberer. Aber er legt die Namen ironisch um seine Gestalten, komische und tragische, mit einer sehr überlegten Nuance. Er will alles aus dem Namen herausholen. Serenus Zeitblom, Helene Oelhafen, Madame Houpflé, die Marquise de Venosta, née Plettenberg — das Gravitätisch-Bürgerliche, das Ordinäre, Gewöhnliche, Blasse oder Exotische, das Pseudoexotische — nun alles ist genau bedacht, dem Namen injiziert, und auch ein ernster Name wie Adrian Leverkühn ist genau beladen mit der Bedeutung, die der Person zukommt. Oder die akzentuiert norddeutschen, die süddeutschen, die südlichen Namen, sie sollen das Thema schon anschlagen. Oder wie bei ›Tonio Kröger‹ die Gebundenheit an zwei Welten kundtun. Der Name deutet schon auf den Konflikt hin, dem der Held ausgesetzt sein wird.

Ich bin nicht sicher, ob Thomas Mann bei dieser Untersuchung über Namen in der neueren Literatur sehr nütz-[323]lich ist, aber die ironische, im weitesten Sinn ironische, Namengebung kann wohl auf den Gedanken bringen, daß die vertrauensvolle Namensgebung auch hier vorläufig zu Ende gegangen ist, nicht ohne uns noch ein paar köstliche, herrliche Namen zu hinterlassen: Peeperkorn, Settembrini, Krull. Es wäre ein langer Reigen.

Stabil auf den ersten Blick, beinahe so stabil wie im Roman des 19. Jahrhunderts, sind auch die Namen bei James Joyce. Sie versprechen durchaus, solide zu sein, wiegen uns in Sicherheit: Da gibt es den Annoncenacquisiteur Leopold Bloom, Marion-Molly, seine Frau, und, ungleich pointierter, Stephan Dädalus, der seinen Namen bedeutungsschwer herumträgt. »Ist doch zum Lachen«, wird ihm gesagt, »dein seltsamer Name, ein alter Grieche.« Es wäre nichts weiter zu bemerken, wenn nicht von der Sprachaufrüttlung, der aggressiven Sprachauflösung auch die Namen betroffen würden. Blooms Name wird dem Leser zuerst einfach vorgesetzt, dann geschüttelt, neu gekostet, er wird von allen Seiten und in allen Variationen gerufen: Leo, Poldy, Siopold! Wanderer Leopold, Junker Leopold, Herr Leopold, der liebste Genosse, Leopold sanftmütiger Meister, Junker Bloom, Leop. Bloom, Stephan D. Leop. Bloom.

In dem Nachttheater, in dem Bordellkapitel, wird er zuerst von der Glocke gerufen: »Bam, Bam zu-rück, Bloo.« Dann von einer Stimme: »Poldy!« Polizisten treten auf, legen ihm die Hände auf die Schultern, sagen: »Bloom. Von Bloom. Für Bloom. Bloom.«

Und wenig später fährt einer der Polizisten ihn an: »Los! Name und Adresse.«

Bloom antwortet: »Dr. Bloom, Leopold, Zahnarzt. Sie haben doch von Bloom-Pasha gehört? Ungezählte Millionen. Donnerwetter. Gehört halb Österreich. Ägypten. Vetter.« Der erste Polizist fragt: »Beweis?«

Bloom reicht ihm eine Karte. Von dieser Karte aber liest [324] der Polizist den Namen: »Henry Flower, kein fester Wohnsitz.«

(Denn Leopold läßt sich von seiner Geliebten Martha Henry Flower nennen und hat, wie wir wissen, im Lauf des Tages einen Poste-restante-Brief, auf diesen Namen lautend, abgeholt.)

Kurz nach der Polizistenszene erscheint Martha, ruft: »Henry, Leopold! Leopold! Lionel, du verlorener, gib mir meine Ehre wieder.«

Eine andere Frau sagt aus, von ihm einen Brief erhalten zu haben, unterzeichnet mit dem Namen James Lovebirch.

Es treten auf: Küsse, die zwitschern und trillern: »Leo, Leopold, Leeolee! O Leo!«

Bloom schlüpft im weitern Verlauf der Szene in verschiedene Rollen, als Kaiser und Herrscher heißt er: Leopold der Erste.

Der Erzbischof, der ihn salbt, gibt ihm die Namen: »Leopold, Patrick, Andreas, David, Georg, so seiest du nun gesalbt!«

Bloom (in seiner Rede an die Untertanen) sagt: »Meine geliebten Untertanen, eine neue Ära dämmert herauf. Ich, Bloom, sage euch der Wahrheit gemäß, daß sie schon greifbar ist. Ja auf das Wort eines Bloom, bald sollt ihr einziehen in die goldene Stadt, die entstehen wird, d. h. in das neue Bloomusalem.«

Darauf steht ein Mann auf. Sagt: »Glaubt kein Wort von dem, was er sagt. Der Mann ist Leopold MʼIntosh, der bekannte Brandstifter. Sein wirklicher Name ist Iliggins.« Als Professor Bloom wird er zum Exemplar des ersten weiblichen Mannes, dem eine Geburt bevorsteht. Eine Stimme fragt ihn: »Bloom, bist du der Messias ben Joseph oder ben David?«

Seine Tochter Milly: »Lieber Gott! Das ist ja Papli!«

Wenn der Spuk des Nachttheaters verschwunden ist, bleibt [325] Bloom übrig, aber immer noch mit einem Namen Bloom, der plötzlich als Assoziation »Bloom, Blaue Blume« auslöst, und immer noch bleibt Henry Flower übrig, den Namen Bloom stellvertretend, der in Hinterrücksübersetzungen erscheinen kann.

Von einem zu bauenden oder gebauten Haus für ihn werden folgende Namen als mögliche Namen genannt: Bloom Cottage, Saint Leopolds oder Flowerville.

Die Namen sind im Sinn und lautlich verrückbar bei Joyce, sie können verrückt gemacht werden, verschrieben oder verstellt werden, aber doch so, daß der ursprüngliche Name angespielt wird, wie in dem Akrostichon, das der junge Bloom fabriziert hat.

Posten tuen öfters singen:
O herrliche Musik!
Laut laß ich durch die Welt es klingen:
Du bist mein Glück
Immerdar…

(Die Anfangsbuchstaben ergeben seinen Namen, Poldi.)

Wie mit dem Namen Bloom Karussell gefahren wird, bis dem Namen und uns schwindlig wird, zeigt eine andere Stelle (ein Anagramm, das Bloom in seiner Jugend gemacht hat) :

Leopold Bloom
Ellpoldbomool
Molldopeloob
Bollopedoom
Old Ollebo M. P.

Und mit wem hat Bloom gereist, wird einmal gefragt. Mit?

»Sindbad dein Seefahrer und Tindbad dem Teefahrer und Jindbad dem Jefahrer und Windbad dem Wehfahrer und Nindbad dem Nefahrer und Findbad dem Feefahrer und Bindbad dem Befahrer und Pindbad dem Peefahrer und Mindbad dein Meefahrer und Hindbad dem .Hefahrer und Rindbad dem Refahrer, [326] und Drindbad dem Drehfahrer und Schnindbad dem Schneefahrer und Lindbad dem Leefahrer und Zindbad dem Zeefahrer.«

Und schließlich — wie sollten wir es vergessen! — heißt das Buch ›Ulysses‹, und Leopold Blooms Gang durch Dublin an einem einzigen Tag wird getan unter dem Schatten dieses großen beschworenen Namens — Odysseus. Dieser Name genügt und muß uns genügen als ständiger Hinweis auf die Fahrt des Dulders und muß uns allerorten die gleichnishaften Szenen entdecken lassen.

Namensverweigerung, Namensironisierung, Namensspiel mit und ohne Bedeutung, die Erschütterung des Namens: das sind die Möglichkeiten — aber es gibt noch eine radikalere. Als wäre es zu primitiv, eine Person durch einen Namen kenntlich zu machen, stürzt William Faulkner seine Leser in seinem wahrscheinlich wichtigsten Werk ›Schall und Wahn‹ in Verzweiflung. Ich glaube fast, es wird kaum jemand gelingen, sich je ganz und gar zurechtzufinden in dem Gewebe des Buchs, und zwar nicht so sehr, weil die Behandlung der Zeit durch William Faulkner dies erschwert — in dem Buch wird zwischen drei Zeiten andauernd hin- und hergesprungen, es können wenige Sätze sich auf das Jahr 1928, die nächsten wieder auf das Jahr 1910 beziehen. Nicht hier liegt die eigentliche Schwierigkeit, weil wir mit Texten, die die chronologische Zeit nicht mehr zum Muster haben, längst vertraut sind, sondern weil wir völlig im Stich gelassen werden beim Griff nach den Namen. Für den Verfasser des Klappentextes dieses Buchs, der den Inhalt des Romans wie den eines Familienromans wiederzugeben versteht, kann man nur neidische Bewunderung haben. Selbst in den Text verstrickt, fühlt man sich wie in einen Spürhund verwandelt, der alle Augenblicke die Spur verliert, weil ihm wieder ein anderer Geruch in die Nase gekommen ist. Da gibt es zweimal den Namen Caddy, einmal mit y geschrieben, einmal mit ie; [327] zweimal den Namen Jason, zweimal den Namen Quentin, einmal als männlichen, einmal als weiblichen Vornamen. Aber es hilft uns auch kaum, dies zu begreifen, denn wir sollen die Figuren ja gar nicht an ihren Namen erkennen. Die Namen muten wie Fallen an. Sondern erkennen sollen wir sie an etwas ganz anderem. An einem Flor, der jede Person umgibt, an einer in sehr zarten Stimmungen bezeichneten Konstellation, in der sie stehen. Sie wird ausgedrückt in kleinen Zitaten, auf die wir achten sollen, und bei jedem Wiederauftreten der Person, sei es Quentin-er oder Quentin-sie und in welcher Zeit immer — als Kind, als Student, als junges Mädchen —, wird dieses Zitat mitgegeben vom Autor. Wichtiger, als auf den Namen zu achten, ist es, auf den Zusammenhang zu achten, in dem der Name genannt wird. Er kann im Kontext stehen mit einer Blume, einem Geißblatt, einer verkauften Wiese, einer Vermählungsanzeige. Wir entdecken plötzlich, daß wir nur so an Boden gewinnen, daß die Personen uns sonst für immer verborgen blieben. Und sie wollen sich verbergen, denn da ist ein Grund, ein Rätsel, das die Namen scheu macht. Es ist einmal etwas geschehen, Blutschande, und die Schuldigen wollen nicht genannt sein — das Kind aus der Beziehung soll nicht genannt sein. Das Geschehnis wird öfters beschworen und sogleich wieder vertuscht, und die Namen werden beschworen und vertuscht.

Wenn wir zum erstenmal davon hören, heißt es: » …Wolfsmilch. Ich sagte, Ich habe Blutschande begangen, Vater, sagte ich. Rosen.«

Das nächste Mal tritt dieser Satz im Zusammenhang mit einem Namen auf, mit dem wir zuerst nichts anzufangen wissen, der aber dann immer wieder beschworen wird, bis wir seine Wichtigkeit erfassen. »Ich habe Blutschande begangen sagte ich Vater ich war es nicht Dalton Ames. Und als er sie Dalton Ames. Dalton Ames.« (Es folgt ein Zwischensatz, der zu einer anderen Zeitperiode gehört, [328] dann wird nochmals dieser Name genannt, dreimal.) »Dalton Ames. Dalton Ames. Dalton Ames.«

Die Rosen treten immer wieder als Zitat auf. Eine Blume oft im Zusammenhang mit dem Irren Benjamin; direkt mit dem vertuschten Vorfall jedoch immer Geißblattduft. Er, Quentin, erzählt: »… sie hielt meinen Kopf gegen ihre feuchte feste Brust ich hörte wie ihr Herz jetzt gleichmäßig und langsam schlug und nicht mehr hämmerte und das Wasser gurgelte im Dunkel unter den Weiden und Wellen von Geißblattduft stiegen auf..

Etwas später: »das verdammte Geißblatt hört das denn gar nicht mehr auf«

Etwas später: »der Geißblattduft triefte und triefte…«

Dinge, die mit einer Situation oder einem Menschen verbunden waren, bleiben es und kreisen die jeweiligen Personen besser ein als der Name. Dinge bezeugen die Anwesenheit der Person, oder Erinnerung an Dinge. Die Methode Faulkners ist eigentlich die: uns abzubringen von den Namen, um uns umweglos, erklärungslos in die Wirklichkeit zu stoßen. Nicht er, der Autor, maßt sich die Namen an, nicht er führt sie uns vor und beugt Verwechslungen vor. Sondern nur die Figuren untereinander kennen sich, nennen sich und andere beim Namen, und wir müssen zusehen — wie in der Wirklichkeit —, wie weit wir vordringen und was wir in Beziehung zu setzen vermögen zwischen Menschen, die uns niemand vorformt, präpariert und etikettiert zum größeren Verständnis.

Nun wäre es an der Zeit zu sagen, daß der Gedanke an Namen mir zum erstenmal bei der Lektüre von Prousts ›Auf der Suche nach der verlorenen Zeit‹ gekommen ist. Es gibt kein Buch, das besser aufmerksam macht auf die Handhabung von Namen, auf ihr Funktionieren, ihre Dichte oder Durchlässigkeit. Ja, selbst der Grund für die Strahlkraft von Namen oder für die Totgeburt von Namen wird einem offenbar, wenn man jedem einzelnen Namen [329] Prousts auf der Spur bleibt. Denn er hat ja nicht nur einen Friedhof voll von berühmten Namen hinterlassen, sondern Namen und Namenserlebnis in seinem Roman mit zum Thema gemacht. Er hat über Namen gesagt, was sich nur irgend sagen läßt, und er hat nach zwei Seiten gewirkt: hat die Namen inthronisiert, sie in ein magisches Licht getaucht, dann zerstört und verwischt; er hat sie mit Bedeutung erfüllt, aufgeladen, und hat zugleich ihre Leere bewiesen, sie als leere Hülsen weggeworfen, als Anmaßung eines Eigentums gebrandmarkt.

Quelle: Aus den Frankfurter Vorlesungen, in: Ingeborg Bachmann, Gedichte, Erzählungen, Hörspiel, Essays, München: R. Piper & Co. Verlag 1964, 313-329. Wiederabgedruckt in: I. Bachmann., Werke, hg. v. Ch. Koschel, I. von Weidenbaum und C. Münster, Bd. 4: Essays. Reden. Vermischte Schriften. Anhang. München 1978, 238-254.

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