In der aktuellen Ausgabe von „Christ und Welt“ ist ein schöner Text „Tod, Trotz und Trost“ von Christina Brudereck enthalten in Sachen christlicher Frömmigkeit:
Ich bin fromm. Möchte es gerne sein. Weil ich mich nicht aufs Diesseits vertrösten lassen will. Weil ich staunen möchte. Weil ich trotz allem vertraue, dass diese wunderbare Erzählung vom Leben einen Erzähler hat, einen Schöpfer, der alles ins Leben liebte und mit seiner Schöpfung zum Ziel kommt. Weil ich Zukunft nicht ohne Hoffnung denken will. Weil ich für das Leben in dieser Welt Liebe brauche, Geduld, Inspiration und Schutz vor Selbstüberschätzung. Deshalb feiere ich Sonntag. Die Kirchenjahreszeiten geben meinem Leben Rhythmus. Gedenk- und Namenstage bewirken Selbstunterbrechung.
Die Hymnen des Glaubens zu singen verleiht mir innere Stärke. Die Bibel ist für mich eine großartige Geschichtenerzählerin und Lehrerin. Ich besuche die Kirche wie eine vertraute Freundin. Im Beten übe ich freie Meinungsäußerung, eine Sprache ohne Lüge, ohne Schere im Kopf, ohne Zensur. Ich bitte um Achtsamkeit und Kraft. Ich bete auch für andere und erlebe, wie meine Gleichgültigkeit schmilzt. Ich feiere im Advent die Schönheit des Wartens. Ich faste und merke, dass freiwilliger Verzicht satt macht. Ich will im Alltag und auf der Schwelle ins Neue nicht auf Segen verzichten. Ich liebe das Geheimnis von Weihnachten und das Widerständige von Passion und Ostern. Abendmahl hilft mir, in dieser Welt auf Wandlung zu hoffen. Zu glauben fasziniert und beseelt mich mehr als alles, was ich zählen, beweisen und kaufen könnte. Meine beiden Großmütter waren fromm. Sie zeigten mir, dass Frömmigkeit tapfer macht. An ihnen konnte ich ablesen, was für eine Kraft das Gottvertrauen ist. Es verlieh ihnen eine beeindruckende Unabhängigkeit. Ich hüte ihr Erbe wie einen Schatz.
Meine Freundin Premila in Indien ist fromm. Jeden Morgen vor der Arbeit betet sie auf den Knien und bittet Gott um Liebe. Sie dankt Jesus für seine Nähe mitten im Leben und für das Privileg, dass sie als dunkelhäutige Frau Medizin studieren durfte. Sie glaubt nicht, dass die eigenen Wünsche das Maß aller Dinge sind. Glück bedeutet zu schenken. Ihr Gottvertrauen hilft ihr, sich ihrer Begabung und ihrer Aufgabe zu vergewissern, bevor sie wieder einen Tag lang als Frauenärztin arbeitet. Sie nährt die tiefe Überzeugung, dass jeder Mensch gewollt ist, Geschöpf, geliebt. Der Armut zum Trotz. Unabhängig von Kaste, Hautfarbe und Geschlecht. Jeden Morgen liest sie in der Bibel und erlaubt den alten Worten, sie zu ermutigen: „Steh auf und geh!“ oder „Friede sei mit dir!“ und „Die Liebe ist die Größte!“ Premila zeigt mir, dass Frömmigkeit dankbar macht, Selbstvergewisserung bedeutet, Kraft schenkt. Ihr Glaube lässt sie Wunder entdecken. Wo andere Massen sehen, sieht sie Persönlichkeiten. Ich kenne niemanden, der mehr staunt.
Mein alter Lehrer ist fromm. Er wird zum Lebensende hin neugieriger. Ostern ist sein Lieblingsfest. Er feiert es mit jedem Sonnenaufgang. Seit vielen Jahren geht er morgens barfuß in seinen Garten. Er hat sich angewöhnt, dort mit dem auferweckten Christus zu sprechen. Von Priester zu Heiland. Wenn Frömmigkeit als Moral daherkommt, wird er zornig. Frömmigkeit nährt sich aus Liebe, die stärker ist als der Tod. Diese Erfahrung soll die Kirche vermitteln. Damit Menschen befreit werden von der Angst vor Vergeblichkeit. Frömmigkeit bewirkt Sonntagsenergie und bedeutet, furchtlos zu leben, grenzenlos zu lieben. Die Welt in ihrer Erstarrung braucht eine Kirche, die sanft ist, zum Schmelzen gnädig und trotzig österlich feiert. Das glaubt er dem Tod zum Trotz. Manches Mal der Kirche zum Trotz.
Ich denke an ein jüdisches Café bei Kapstadt, wo ich Kezia, Sonia und Sarah kennenlernte. Die drei waren fromm. Jüdinnen, aktiv im Widerstand gegen Apartheid. Mutige Frauen. Sie erzählten, wie sie in den Dreißigerjahren geflohen waren, gerade noch rechtzeitig. Wie sie zunächst nur an sich denken konnten. Wie der Horror des Naziregimes sie verstummen ließ. Wie die Trauer um die vielen Angehörigen ihnen den Atem nahm. Und wie ihre Tradition sie dann weiterführte. Der Glaube, dass der Ewige auffindbar ist und beanspruchbar. Das Vertrauen, dass die Geschichte nicht sinnlos ist und wir gerufen sind, den Namen Gottes zu heiligen. Wie sie Jesaja lasen, sich unterbrechen ließen von Worten wie „Tröstet, tröstet mein Volk“ und sie sich der Hoffnung nicht länger entziehen konnten. Wie sie sich aufmachten, genauer hinsahen und entdeckten, dass sie nicht die Einzigen waren, deren Würde mit Füßen getreten wurde. Wie sie sich nicht länger nur als Opfer wahrnahmen, sondern auch sahen: „Wir sind Täterinnen“ – was bedeutete: Wir können etwas tun! Wie sie in die Townships fuhren, Schulspeisungen organisierten, sich einmischten, sich riskierten. Diese Frauen zeigten mir, dass Frömmigkeit den Blick verändert. Für die eigene Würde und die Würde von Familie Mensch. Wie der Glaube hilft, die Vergangenheit nicht zu vergessen, sie aber auch nicht alles bestimmen zu lassen – um der Zukunft willen. Wie wir der Tradition erlauben, uns zu unterbrechen und weiterzulocken. Den schweren Erfahrungen zum Trotz.
Ja, ich bin fromm. Weil ich nicht käuflich sein will. Frömmigkeit muss nicht moralisch sein, nicht antiintellektuell. Frömmigkeit ist Trotzkraft. Schutz vor Selbstüberschätzung. Sie ist für mich der Gegenentwurf zum Zynismus.
Christina Brudereck hat gerade ihr Buch „Liebe, Licht & Leichtigkeit“ veröffentlicht.
Christ und Welt, Nr. 47, 14. November 2013, Seite 3.
Diese Reihe von Ich-Botschaften ordnet die Religion in die Ebene der Erfahrung ein. Das ist gut nachvollziehbar und grenzt nicht aus.