
In der neuen Ausgabe der Zeitschrift Mission EineWelt (23. Jahrgang, Ausgabe 3, September-November 2012, Seite 19) ist von mir folgender Artikel über chinesische Religiosität und insbesondere das dortige Christentum erschienen (vgl. außerdem „Diätetik statt Sinnstiftung„):
In Sachen Religion weiss man Bescheid. Da geht es um etwas Unbedingtes – man kann auch sagen Göttliches, das Menschen einen letzten Sinn in ihrem Leben finden lässt. Wer sich jedoch der chinesischen Kultur annähert, wird in Sachen Religion eines anderen belehrt. Es gibt im Chinesischen keinen Begriff, der das ausdrückt, was Europäer unter Religion verstehen. Nichtsdestoweniger wird man in Hongkong eine Vielzahl von Aktivitäten oder Orten entdecken, die einem Europäer als „religiös“ erscheinen: Reisopfer an Wegrändern, Ahnenschreine in Wohnungen und schliesslich Tempel, wo Menschen sich mit glimmenden Räucherstäbchen vor Statuen verbeugen.
Religion ist in China wie auch in den anderen Ländern Ostasiens keine Weltanschauung, sondern Praxis. Der Himmel (Tian) als schicksalhafter, natürlicher und sozialer Ordnungsrahmen steht dabei nicht zur Disposition. Bei den verschiedenen religiösen Lehren und kultischen Praktiken – seien sie „taoistisch“, „buddhistisch“, oder „konfuzianisch“ – geht es vielmehr um das eigene Wohlergehen. Als „Diätetiken“, das heisst Lehren der geregelten Lebensführung, bieten sie Wege an, wie Menschen ihr Lebens- und Sterbensschicksal in ihrem Familienzusammenhang nicht nur bewältigen, sondern vielmehr verändern und verbessern können. Man ist also mit Absicht religiös: Ich tue etwas, was mir (und anderen) gut tun soll – eben wie bei einer Diät.
Da mag man in Europa unterscheiden zwischen Religion als sinnhafter Weltanschauung, Medizin als Heilungslehre und Moral als sittliche Lebensführung. Aber genau diese Unterscheidung ist im chinesischen Kontext nicht letztgültig; Heil und Heilung sind dort nicht voneinander zu trennen. So wird auch in China die christliche Lehre und Gemeinschaft vorrangig diätetisch verstanden und praktiziert: Christus als persönlichen Heiland in der eigenen Bekehrung anzunehmen heisst, von einem selbst empfundenen Schuldverhängnis erlöst zu sein. Im Glauben an Christus hat man Zugang zu der Über-Macht des einen Gottes, der Himmel und Erde erschaffen hat. Durch eine eigene, bibelgemässe Lebensführung partizipiert man an der besonderen göttlichen Vorsehung, die für die Gott-Zugehörigen Schutz, Heilung und Wohlstand bewirken soll. Als Christ in China will man nicht einfach nur „glauben“. Man vertraut vielmehr darauf, dass man in der vorgegebenen Heilslehre seine eigene Sache richtig machen kann.
Will man das chinesische Christentumsverständnis nachvollziehen, braucht es den Vergleich mit fernöstlichen Lehren, wie sie bei uns praktiziert werden. Seien es Qigong, Tai-Chi, Feng-Shui oder traditionelle chinesische Medizin – immer mehr Menschen in Europa sind von diesen chinesischen Lehr- und Praxistraditionen fasziniert. Gerade das Fremdkulturelle scheint eine besondere Wirkung für das eigene Leben zu versprechen. In Sachen überkommener christlicher Lehre gibt man sich betont dogmenkritisch und betont die eigene Freiheit des Glaubens. Wenn es hingegen um chinesische Wohlergehenslehren geht, sucht man als Europäer eine möglichst hohe Regelkonformität: Klare Sache – wie soll es sonst auch wirken? Und genau da mag man dann bei uns verstehen, warum chinesische Christinnen und Christen in Sachen christlicher Lehre und Praxis ausgesprochen regelgläubig sind.