
Man muss nicht jeden Satz unterschreiben. Aber was Friedrich Wilhelm Graf in Sachen selbstgefälliger Gottesrede zu sagen hat, ist durchaus zutreffend.
Wie Gott der Herr in den Wellness-Betrieb integriert wurde: Der führende protestantische Theologe der Republik zieht vorweihnachtlich Bilanz
Von Friedrich Wilhelm Graf
„Großer Gott, wir loben dich; Herr wir preisen deine Stärke. Vor dir neigt die Erde sich und bewundert deine Werke“, sangen Deutschlands Christen früher gern an wichtigen Festtagen. Inzwischen erklingen in vielen Kirchen ganz andere Töne. „Herr, deine Liebe ist wie Gras und Ufer, wie Wind und Weite und wie ein Zuhaus.“ Seit gut dreißig Jahren lässt sich im Lande ein tiefgreifender Wandel der Gottesrede beobachten. Sprach man auf den Kanzeln einst vom allmächtigen Schöpfer des Himmels und der Erden, der zugleich Richter und Retter sein könne, so wird Gott nun primär als allumfassende Liebe bezeugt. Schon die spätantiken Kirchenväter hatten eigene Lehren von den Eigenschaften Gottes entwickelt und dem einen Gott des Alten und des Neuen Testaments Attribute wie Allmacht, Allwissen, Ewigkeit, Unendlichkeit, Vollkommenheit, Unveränderlichkeit und Wahrheit zugeschrieben. In Übereinstimmung mit dem Sprachgebrauch der Bibel gingen diese Gottesgelehrten zudem davon aus, dass der persönliche Vatergott auch zornig, grausam und stumm sein kann. Später betonte vor allem Martin Luther mögliche dunkle Seiten Gottes. Seit der Aufklärung stritten christliche Theologen dann heftig über Gottes Eigenschaften. Einige liberale Theologen behaupteten, dass die Rede vom Zorne Gottes christlich illegitim sei, weil Gott nach dem 4. Kapitel des 1. Johannesbriefes einfach reine Liebe sei. Andere, eher konservative Theologen betonten demgegenüber die innere Vielschichtigkeit, auch Zwiespältigkeit Gottes. Als alles bestimmende Wirklichkeit sei er nun einmal zornig und langmütig, verborgen und offenbar, gnädig und rachsüchtig zugleich. Zwar widersprächen sich Eigenschaften wie Gnade und Zorn oder Güte und Gerechtigkeit. Dieser Spannungsreichtum in Gott erlaube es jedoch, elementare Grunderfahrungen unseres endlichen Lebens, etwa die unaufhebbare Spannung zwischen Abhängigkeit und Freiheit, zu deuten. Gewiss bereite Gottes Zwiespältigkeit gedanklich Probleme, aber sie biete auch einen faszinierenden Reichtum an Deutungschancen zum besseren Verständnis der existenziellen Widersprüche unseres Lebens. Nur mit Blick auf Gottes unbegreiflich schreckliche Verborgenheit ließen sich überhaupt die negativen Seiten menschlicher Existenz deuten. In diesem jahrhundertelang geführten Gelehrtenstreit war allen Beteiligten bewusst, dass es im Bilde Gottes immer auch um die Selbstwahrnehmung des Menschen als eines konstitutiv endlichen, aber zur Freiheit bestimmten Wesens geht. Im Reden von Gott sprechen wir nicht nur von uns. Aber alles Reden von Gott und jedes Gebet sind unausweichlich auch Akte unserer Selbstdeutung.
Nie zuvor hat es im Lande vergleichbar viele Weihnachtsmärkte gegeben wie in diesem Advent. Dies hat gewiss mit Geschäftssinn zu tun, aber auch mit dem Wunsch zahlloser Menschen nach Wiederverzauberung einer Welt, die sie oft als allzu rational, kalt, hektisch erleiden. Auf den Abertausenden von Weihnachtsmärkten treten Goldengel nun in Bataillonsstärke auf, und die Heiligen Drei Könige kommen zur Krippe mit Gabenbergen, für die sie wohl einen Transportdienstleister benötigten. Viel Glaubenskitsch wird offeriert. Am Münchner Gärtnerplatz kann man blond gelockte Spezialengel für Schwule kaufen, die gerade aus einem himmlischen Fitnessstudio gekommen zu sein scheinen. Andere bieten ökosensible Hirten auf dem Felde mit Nachhaltigkeitszertifikat an. Oft ist der Glühwein hier allzu süßlich. Aber dies entspricht nur einem neuen Trend der Gottesrede, wie er sich in beiden großen christlichen Kirchen beobachten lässt. Auf den Kanzeln wird zunehmend ein Kuschelgott verkündet, an dem wer auch immer sich fröhlich erwärmen kann. Wurde in den Predigten einst ein männlich imaginierter guter Vatergott verkündet, so wird nun ein irgendwie androgyner, jedenfalls nicht mehr nur männlicher Gott in monotoner Einseitigkeit aufs Liebsein festgelegt. Der zeitgeistaffine Gegenwartsgott ist immer nur reine Liebe, Güte, Gnade und Herzenswärme, ein trostreicher Heizkissengott für jede kalte Lebenslage. Gott entbehrt hier des Stachels der Negativität, kann also keine Irritationskraft mehr entfalten. Überkommene religiöse Haltungen wie Gottesfurcht oder scheue Ehrfurcht vor dem Heiligen werden zwar noch von einzelnen christlichen Frommen und vor allem den muslimischen Minderheiten gelebt. Aber im Mainstream der christlichen Kirchen haben die Ferne und erhabene Transzendenz des „mächtigen Königs der Ehren“ keinen Ort mehr. Auf den meisten Kanzeln ist der liebe Gott immer nur ganz nah, fortwährend bei uns, mehr noch: in uns, denn er hat sich nun „eingebracht“ in unsere Herzen. Deshalb sollen wir uns dann in was auch immer „einbringen“ und überhaupt nett zueinander sein, weil doch Gott auch so nett geworden ist, am Heiligen Abend gar richtig niedlich. Viel Distanzlosigkeit und Gefühlsduselei lassen sich in Weihnachtsgottesdiensten beobachten. Die zeitgenössische Kanzelrede lebt weithin von einem wild wabernden Psycho-Jargon. Emotionen, subjektive Befindlichkeiten, das Sichwohlfühlen rücken in ihr Zentrum. Das erste Gebot des neuen Kults von Einfühlsamkeit und Herzenswärme lautet: Fühle dich endlich wohl! Gott will das so. So wird das Christentum zu einer Wellness-Religion gemacht. Selbst in den Kirchen feiern manche Gläubige nur noch sich selbst. Fröhliche Weihnachten!
Focus, Nr. 51, Montag, 20.12.2010, Seite 58.
1 Kommentar