
Der Klassiker eines religionistischen Missverständnisses von Reformation ist noch immer Karl Holls Vortrag „Was verstand Luther unter Religion“ von 1917, gehalten aus Anlass des Reformationsjubiläums. Dort wird anschaulich, wie bürgerliche Religion nichts anderes als ein ästhetisch-ethischer Autismus ist. So schreibt Holl:
„Luthers Religion ist Gewissensreligion im ausgeprägtesten Sinne des Worts. Mit all der Eindringlichkeit und persönlichen Bedingtheit, die einer solchen zukommt. Wie sie aus einer Gewissenserfahrung bestimmter Art, aus dem von Luther in eigenartiger Schärfe erlebten Zusammenstoß eines zugespitzten Verantwortungsgefühls mit dem als unbedingt, als schlechthin unverrückbar geltenden göttlichen Willen hervorging, so ruht sie als Ganzes auf der Überzeugung, daß im Bewußtsein des Sollens, in der Unwiderstehlichkeit, mit der die an den Willen gerichtete Forderung den Menschen ergreift, das Göttliche sich am bestimmtesten offenbart. Und zwar um so klarer und unzweideutiger, je tiefer das Sollen den Menschen erregt und je schärfer es sich von den »natürlichen« Lebenswünschen des Menschen abhebt. Es ist für Luther ein grundlegender Satz, daß nicht das vom Menschen selbst »Erwählte«, das frei von ihm Erdachte, sondern das ihm durch eine höhere Ordnung Auferlegte, das Gemußte, den Stempel des Göttlichen an sich trägt. Denn gerade das Gemußte, das mit dem natürlichen Lebensverlangen in Spannung Tretende und deshalb dem nur nach seinem Glück Trachtenden als »unsinnig« Erscheinende erweckt im Menschen zugleich die Ahnung, daß es den tieferen, den wahren Sinn des Lebens in sich birgt. Das Gesetz geht »über die Vernunft« sagt Luther, das heißt das Sollen hegt jenseits aller bloßen Zweckmäßigkeits- und Folgeberechnungen. In ihm taucht dem eigenen »vernünftigen« Trachten gegenüber ein anderer, unbedingter Wille auf, den der Mensch von dem »seinigen« unterscheidet und doch nicht umhin kann, als den richtigen zu bejahen. So ist der Gottesgedanke und zwar der Gedanke eines persönlichen Gottes bei Luther unmittelbar mit dem Gefühl des Sollens verbunden. Eben auf den Druck, der dabei verspürt wird, gründet sich seine Gewißheit, daß es nicht ein »gedichteter«, sondern der wirkliche Gott sei, mit dem er es zu tun habe.
Bei ihm führte Gott selbst ganz unmittelbar im Gewissen den Beweis für sein Dasein. Aber er hatte gegen alle philosophische Erörterung der theologischen Dinge – und zwar von Anfang an – auch den Verdacht, daß sie auf einen ganz anderen Gott als den des Christentums hinausführten. Der Gott, der der »Vernunft« entsprach, konnte immer nur der Gott der Werkgerechtigkeit sein. Denn die »Vernunft« mußte an dem Satz festhalten, daß Gott demjenigen wohl will, der sich um eine »untadelige« Lebensführung bemüht. Ein Gott, der sich um den Sünder kümmert, war auf diesem Boden etwas Unverständliches.
Dafür hebt Luther um so kräftiger die Seite an der Religion hervor, daß sie sich – eben als Gewissensreligion – an die persönliche Freiheit, an den persönlichen Entschluß wendet. Nirgends schien es ihm so wichtig, die Freiheit zu betonen, wie in der Religion. Auch das Gottesverhältnis gilt ihm nur dann als aufrichtig und als wirklich, wenn es auf persönlicher Überführung beruht. Luther tritt damit in ausgesprochenen Gegensatz zu der katholischen Auffassung. Dort herrscht der Glaube an die Masse, an die unbedingte Richtigkeit des von ihr instinktmäßig eingeschlagenen Wegs, und empfindet man es deshalb als fromm, andern die Verantwortung für das eigene Tun zu überlassen. Bei Luther ist umgekehrt der Wille, persönliche Verantwortung zu tragen, entscheidend für den Ernst der Religion. Der einzelne kann darum in die Lage kommen, sein Gottesbewußtsein auch gegenüber der Gesamtheit zu behaupten.“
Hier der maßgebliche Auszug zur „Gewissensreligion“ aus Karl Holls Vortrag als pdf.