Was verstand Luther unter Religion? (im Verständnis von Karl Holl): „Luthers Religion ist Gewissensreligion im ausgeprägtesten Sinne des Worts. Mit all der Eindringlichkeit und persönlichen Bedingtheit, die einer solchen zukommt. Wie sie aus einer Gewissenserfahrung bestimmter Art, aus dem von Luther in eigenartiger Schärfe erlebten Zusammenstoß eines zugespitzten Verantwortungsgefühls mit dem als unbedingt, als schlechthin unverrückbar geltenden göttlichen Willen hervorging, so ruht sie als Ganzes auf der Überzeugung, daß im Bewußtsein des Sollens, in der Unwiderstehlichkeit, mit der die an den Willen gerichtete Forderung den Menschen ergreift, das Göttliche sich am bestimmtesten offenbart. Und zwar um so klarer und unzweideutiger, je tiefer das Sollen den Menschen erregt und je schärfer es sich von den »natürlichen« Lebenswünschen des Menschen abhebt.“

Was verstand Luther unter Religion?

Von Karl Holl

Der Klassiker eines religionistischen Missverständnisses von Reformation ist noch immer Karl Holls Vortrag „Was verstand Luther unter Religion“ von 1917, gehalten aus Anlass des Reformationsjubiläums. Dort wird anschaulich, wie bürgerliche Religion nichts anderes als ein ästhetisch-ethischer Autismus ist.

Luthers Religion ist Gewissensreligion im ausgeprägtesten Sinne des Worts. Mit all der Eindringlichkeit und persönlichen Bedingtheit, die einer solchen zukommt. Wie sie aus einer Gewissenserfahrung bestimmter Art, aus dem von Luther in eigenartiger Schärfe erlebten Zusammenstoß eines zugespitzten Verantwortungsgefühls mit dem als unbedingt, als schlechthin unverrückbar geltenden göttlichen Willen hervorging, so ruht sie als Ganzes auf der Überzeugung, daß im Bewußtsein des Sollens, in der Unwiderstehlichkeit, mit der die an den Willen gerichtete Forderung den Menschen ergreift, das Göttliche sich am bestimmtesten offenbart. Und zwar um so klarer und unzweideutiger, je tiefer das Sollen den Menschen erregt und je schärfer es sich von den »natürlichen« Lebenswünschen des Menschen abhebt. Es ist für Luther ein grundlegender Satz, daß nicht das vom Menschen selbst »Erwählte«, das frei von ihm Erdachte, sondern das ihm durch eine höhere Ordnung Auferlegte, das Gemußte, den Stempel des Göttlichen an sich trägt. Denn gerade das Gemußte, das mit dem natürlichen Lebensverlangen in Spannung Tretende und deshalb dem nur nach seinem Glück Trachtenden als »unsinnig« Erscheinende erweckt im Menschen zugleich die Ahnung, daß es den tieferen, den wahren Sinn des Lebens in sich birgt. Das Gesetz geht »über die Vernunft« sagt Luther, das heißt das Sollen hegt jenseits aller bloßen Zweckmäßigkeits- und Folgeberechnungen. In ihm taucht dem eigenen »vernünftigen« Trachten gegenüber ein anderer, unbedingter Wille auf, den der Mensch von dem »seinigen« unterscheidet und doch nicht umhin kann, als den richtigen zu bejahen. So ist der Gottesgedanke und zwar der Gedanke eines persönlichen Gottes bei Luther unmittelbar mit dem Gefühl des Sollens verbunden. Eben auf den Druck, der dabei verspürt wird, gründet sich seine Gewißheit, daß es nicht ein »gedichteter«, sondern der wirkliche Gott sei, mit dem er es zu tun habe.

Bei ihm führte Gott selbst ganz unmittelbar im Gewissen den Beweis für sein Dasein. Aber er hatte gegen alle philosophische Erörterung der theologischen Dinge – und zwar von Anfang an – auch den Verdacht, daß sie auf einen ganz anderen Gott als den des Christentums hinausführten. Der Gott, der der »Vernunft« entsprach, konnte immer nur der Gott der Werkgerechtigkeit sein. Denn die »Vernunft« mußte an dem Satz festhalten, daß Gott demjenigen wohl will, der sich um eine »untadelige« Lebensführung bemüht. Ein Gott, der sich um den Sünder kümmert, war auf diesem Boden etwas Unverständliches.

Dafür hebt Luther um so kräftiger die Seite an der Religion hervor, daß sie sich – eben als Gewissensreligion – an die persönliche Freiheit, an den persönlichen Entschluß wendet. Nirgends schien es ihm so wichtig, die Freiheit zu betonen, wie in der Religion. Auch das Gottesverhältnis gilt ihm nur dann als aufrichtig und als wirklich, wenn es auf persönlicher Überführung beruht. Luther tritt damit in ausgesprochenen Gegensatz zu der katholischen Auffassung. Dort herrscht der Glaube an die Masse, an die unbedingte Richtigkeit des von ihr instinktmäßig eingeschlagenen Wegs, und empfindet man es deshalb als fromm, andern die Verantwortung für das eigene Tun zu überlassen. Bei Luther ist umgekehrt der Wille, persönliche Verantwortung zu tragen, entscheidend für den Ernst der Religion. Der einzelne kann darum in die Lage kommen, sein Gottesbewußtsein auch gegenüber der Gesamtheit zu behaupten.

Aus der Begründung auf die Gewissenserfahrung ergab es sich nun aber auch von selbst, daß in der Ordnung der Gedanken der Gottesbegriff das Beherrschende wurde. Handelt es sich in der Religion um ein Sollen, so muß zuerst der Wille, der hinter diesem Sollen steht, verdeutlicht werden. Luther denkt streng »theozentrisch«. Gott ist ihm nicht wie dem Philosophen der Grenzbegriff, den er als Letztes hinter der Welt und dem Menschen erreicht, sondern umgekehrt der Ausgangspunkt, von dem aus er die Welt und den Menschen überhaupt erst wahrnimmt.

Luthers Gottesbild ist die treue Wiedergabe des von ihm Durchlebten. Es war jedoch das Naturgemäße, daß das, was er als Letztes gefunden hatte, beim sachlichen Aufbau ihm an die erste Stelle rückte. Er hat Gott zuletzt verstanden als denjenigen, der ihn an sich heranzieht, das heißt als Liebe, und er ist überzeugt, daß er damit in das Innerste in Gott, in sein »Herz« hineingeblickt hat. Aber mit der Liebe stößt nun bei ihm sofort eine andere Seite in Gott zusammen, die ihm in seiner Gewissenserfahrung gleichfalls wichtig geworden war. Luther hat die paulinische Lehre vom Zorn Gottes, die im Abendland hauptsächlich durch Augustin zurückgedrängt worden war, wiederum zu Ehren gebracht. Sie entsprach seiner ernsten Auffassung von Gottes Heiligkeit. Gott muß nicht nur dem Sünder, sondern auch dem verhältnismäßig Gerechten zürnen, das heißt ihn rundweg verwerfen. Denn es gibt bei Gott kein Mittelding zwischen Ja und Nein; allein das Vollkommene kann vor ihm bestehen, das Unvollkommene kann er nur ablehnen und vernichten.

Die Wiedereinführung dieser Lehre vom Zorn Gottes gab nicht nur der Gottes-, sondern der ganzen Weltanschauung eine neue Wendung. Sie bedeutet nicht nur einen Gegensatz gegen die Mystik, der die Welt bloß wie ein Schattenbild erschien – Luther bejaht, indem er Gott zürnen läßt, seinerseits ernsthaft die Wirklichkeit und die Selbständigkeit der Welt; es war noch wichtiger, daß Luther damit auch den ästhetischen Bestandteil wieder ausschied, der vom Neuplatonismus her in die Gottesanschauung des Christentums eingedrungen war. Er bricht mit der Betrachtungsweise, der der Reichtum Gottes als eine wesentliche, wo nicht als die vornehmste Eigenschaft Gottes erschien und die diesen in der Fülle der nebeneinander bestehenden Stufen in der Welt bewunderte. Für ihn wird wieder wie für das Urchristentum das Sittliche, das unbedingt zu Verwirklichende, zum allein gültigen Maßstab der Weltbetrachtung.

Aber das von ihm behauptete Nebeneinander von Zorn und Liebe in Gott stellte Luther nun vor eine schwere Frage. Er war nicht gewillt, auf Grund der Anschauung vom Zorn die Vorstellung eines Gottes zu vertreten, der das in der Welt Wachsende und zuletzt doch von ihm selbst Geschaffene bloß verurteilen und zerstören kann. Dem stand der Gedanke der göttlichen Liebe entgegen. Aber ebensowenig war er geneigt, den Gedanken des Zorns durch den der Liebe aufzuheben oder abzuschwächen. Beides, Zorn und Liebe, sollte in seiner Ganzheit aufrecht erhalten werden. Und doch fühlte er sich gedrängt, hinter dem Gegensatz die Einheit zu suchen. Die Lösung gab ihm ein Schriftwort: die Stelle, an der Jesaja (28, 21 nach der Vulgata) vom Zorn als von einem »fremden« Werk Gottes redete. Daraus entnimmt Luther: Zorn und Liebe stehen in Gott nicht auf derselben Stufe. Die Liebe ist sein »eigentliches«, der Zorn sein uneigentliches Werk. Der Zorn ist die Maske, hinter der sich »Gott« verbirgt. Es gehört zu Gottes Wesen, daß er sich auch in seinem Gegensatz offenbart. Aber er tut dies nicht aus Laune, sondern nach bestimmtem Plan. Gott braucht den Zorn, um zu seinem Ziel zu gelangen; um die Hindernisse wegzuräumen, die der reinen Durchsetzung des Höchsten im Wege stehen. Denn im Vergleich mit dem Höchsten, dem ganz Vollkommenen, ist auch das teilweise Vollkommene ein Hemmnis, ein Aufenthalt auf dem Wege. Nur gilt es wohl zu unterscheiden zwischen Zorn und Zorn. Es gibt einen »Zorn der Strenge«, der nur straft und deshalb vernichtet. Er offenbart sich im Jüngsten Gericht; aber auch hier schon überall da, wo Gott das völlig Unbrauchbare ausscheidet. Aber es gibt auch einen »Zorn des Erbarmens«, der läutert und befreit. Ihn erfährt der Mensch an sich, den Gott im Gewissensgericht heimsucht. Gott zerbricht mit ihm den Menschen, aber bloß um ein Neues, ein Besseres aus ihm zu machen. Er muß ihn immer wieder zerbrechen, wenn er ihn wirklich bis zu sich selbst emporbringen und ihn in sein eigenes Wesen wandeln will. So offenbart sich durch den Zorn hindurch, ja in dem Zorn selbst Liebe; die Liebe, die dem Menschen das Höchste gönnt und unermüdlich an ihm arbeitet. Das ist tiefer und männlicher gedacht als das scheinbar so nahe Anklingende, daß »alles, was besteht, wert ist, daß es zugrunde geht«. Luther sieht hinter der Vernichtung ein Werden, hinter dem Zerstören ein Schaffen, das Hervorgehen eines Ewigen in dem zugrundegehenden Endlichen. Aber ebenso ist auf der anderen Seite ersichtlich, wie durch die Verbindung mit dem Zorn der Begriff der Liebe bei Luther vertieft wird. Das Willensstarke, das heilsam Harte, das Erzieherische kommt in die Liebe hinein. Die Liebe wird verstanden als eine Macht, die sich nicht scheut, wehe zu tun, um den von ihr Gemeinten von sich selbst loszureißen und ihn über sich hinauszuheben. Man braucht nur Tolstois weiche Auffassung dagegen zu halten, um das Große in Luthers Deutung zu empfinden.

K. Holl, Was verstand Luther unter Religion, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte 1, Tübingen 61932, 1-110, 35-42.

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