Predigt über Kirchenverwundung: „Das eigene Gewissen schreit auf, aber die Hilferufe bleiben häufig unerhört, das System ‚Kirche‘ ist solchen Machtkonflikten häufig nicht gewachsen. Für Betroffene, deren eigenes Gewissen verletzt ist, erwächst der Eindruck, das regelwidrige Verhalten sei von oben her gedeckt. Wo Macht – ohne bösen Willen – Gewissen verletzt und niemand schützend eingreift, wo Hilferufe ins Leere gehen, da sind Menschen mit dem System ‚Kirche‘ fertig – fix und fertig. Die Kirche ist scheinbar der einzige Ort bei uns, wo man als Christ(In) in Mitleidenschaft gezogen werden kann.“

Predigt über Kirchenverwundung

Liebe Gemeinde, Schwestern und Brüder,

Wie zu erwarten sind die ersten Reihen der Kirchenbänke leer. Da ist niemandem unter euch einen Vorwurf zu machen. Wenn ich selbst einen Gottesdienst besuche, setze ich mich auch nicht in die ersten drei Bankreihen. Man hält sich sichtbar zurück. Und Kirche auf Abstand scheint gut zu gehen. Als gelegentlicher Gottesdienstbesucher abgeschirmt in einer Kirchenbank ist man in der Regel auf der sicheren Seite. Anders kann es jedoch Christinnen und Christen passieren, die sich ganz mit Leib und Seele auf Kirche eingelassen haben. Hinter den Kulissen, in der Regel außerhalb des Gottesdienstes können gerade aktive Menschen in der Kirche bitter enttäuscht, wenn nicht gar auf das Tiefste seelisch verwundet werden. Und Außenstehende nehmen dies in der Regel kaum wahr. Intensives Mitwirken in der Kirche birgt mitunter die Gefahr selbst verletzt zu werden. Warnhinweise gibt es dazu in der Regel nicht. Holen wir es doch einfach mal für unsere Kirche nach. [Absperren des Altarraums mit rot-weißer Banderole + Anbringung eines Warnschildes: „Vorsicht, Verletzungsgefahr!“].

Vielleicht entfährt nun manchem von Euch der stumme Kommentar: Was soll dieses Theater? Gut, über den Pfarrer kann man sich wohl ab und an ärgern, möglicherweise ja zu Recht. Wir ärgern uns, wenn jemanden mit seinem Verhalten nicht unseren Erwartungen entspricht. Der Ärger hält uns auf Distanz zum anderen; und damit kommen wir schlussendlich ungeschoren davon. Ärger verfliegt mit der Zeit von selbst. Seelische Verwundungen hingegen setzen sich im eigenen Leben tief und anhaltend fest.

„Vorsicht Verletzungsgefahr!“ Ja, es gibt viele, zu viele Kirchenverwundete. Wer ihre Geschichten hört, hat zu schlucken: „Das so etwas in der Kirche möglich ist, das darf doch nicht wahr sein.“ Wenn in einem innerkirchlichen Konflikte Dinge geschehen, die das eigene Gerechtigkeitsempfinden auf das Tiefste verletzen, tun sich Seelenwunden auf. Wo beispielsweise ein evangelischer Pfarrer sich als allein entscheidungsmächtig ansieht, können kritische Mitarbeiterinnen in der Kirche regelwidrig weggebissen werden, um die eigene Position zu halten. „So etwas darf er doch nicht, das geht doch nicht!“ Das eigene Gewissen schreit auf, aber die Hilferufe bleiben häufig unerhört, das System „Kirche“ ist solchen Machtkonflikten häufig nicht gewachsen. Für Betroffene, deren eigenes Gewissen verletzt ist, erwächst der Eindruck, das regelwidrige Verhalten sei von oben her gedeckt. Wo Macht – ohne bösen Willen – Gewissen verletzt und niemand schützend eingreift, wo Hilferufe ins Leere gehen, da sind Menschen mit dem System Kirche fertig – fix und fertig. Die Kirche ist scheinbar der einzige Ort bei uns, wo man als Christ(In) in Mitleidenschaft gezogen werden kann.

Mich hat es sehr betroffen gemacht, als eine evangelische Pfarramtssekretärin aus dem Fränkischen zu mir sagte, dass sie am liebsten aus der Kirche austreten würde. Dabei hatte sie ihrer Kirche jahrzehntelang treu gedient und ihre Arbeit ist gerade auch übergemeindlich sehr geschätzt worden. Es waren keine Glaubensgründe, keine religiöse Gleichgültigkeit, vielmehr ist sie in ihrem Gerechtigkeitssinn auf das Tiefste durch einen Vorgesetzten verletzt worden und alle Rufe nach Hilfe sind bei der Kirchenleitung letztendlich verhallt. Da scheint dann nur noch Kirche auf weitem Abstand möglich zu sein.

Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. Nehmt auf euch mein Joch und lernt von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen.“ (Matthäus 11,28f) Da ruft Christus, und sein Ruf gilt ganz besonders den Kirchenverwundeten: Kommt her zu mir, ich bin sanftmütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seelen. Jesus Christus hat am Kreuz die Ungerechtigkeit am eigenen Leib zu spüren bekommen. Und doch hat die Ungerechtigkeit schlussendlich nicht triumphiert. Er, der Auferstandene, der Überwinder von Tod und Sünde muss seine Machtposition nicht auf Kosten anderer aufrecht erhalten. Er zeigt uns seine eigene Demut und Sanftmut und lässt uns nahekommen. Hier, seine eigenen Wunden, zum Berühren nahe – er lädt uns ein: „Reiche deinen Finger her und sieh meine Hände, und reiche deine Hand her und lege sie in meine Seite, und sei nicht ungläubig, sondern gläubig!“ (Johannes 20,27). Wo Christus mit seinen Wunden gegenwärtig ist, braucht es keine Absperrung. Bei ihm droht uns keine Verletzungsgefahr. [Absperrband und Warntafel entfernen] Er lädt uns vielmehr zu sich ein, will verletzten Gewissen und verwundeten Seelen Ruhe geben und sie wiederaufrichten.

Kommt her zu mir, alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken. Christus in der Mitte, wir in seinem Namen und um seinen Tisch versammelt. Da sind unsere Blicke gemeinsam auf ihn ausgerichtet, wir sind von seiner Liebe für uns eingenommen. Wo der Heiland mitten unter uns ist, verlieren sich menschliche Machtpositionen. Da entkommen wir den unseligen zwischenmenschlichen Hackordnungen. Da erneuert sich die Gemeinschaft in der Kirche. Da werden die Worte des Apostels Paulus unter uns wahr: „So zieht nun an als die Auserwählten Gottes, als die Heiligen und Geliebten, herzliches Erbarmen, Freundlichkeit, Demut, Sanftmut, Geduld; und ertrage einer den andern und vergebt euch untereinander, wenn jemand Klage hat gegen den andern; wie der Herr euch vergeben hat, so vergebt auch ihr! Über alles aber zieht an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit.“ (Kol 3,12-15)

Menschliche Gemeinschaft, die als Kirche gilt, birgt ihre Gefahr. Und dennoch sollten wir trotz aller Verletzungsgefahr mit unserem Leben nicht aus diesem Raum hier zurückziehen. Da findet sich dennoch die Gemeinschaft von Schwestern und Brüder, für die die Worte des Apostels Paulus gelten: „Lasst das Wort Christi reichlich unter euch wohnen: Lehrt und ermahnt einander in aller Weisheit; mit Psalmen, Lobgesängen und geistlichen Liedern singt Gott dankbar in euren Herzen.“ (Kol 3,16) Der Lobgesang in der Gemeinschaft, die Solidarität der Christustreuen wird sich durchhalten. Wir wissen um die Gefahr und wir werden dennoch in dieser Kirche gemeinsam auf Christus hin wachsen.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als all unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

Gehalten am Sonntag Kantate, 2. Mai 2010, in der Martin-Luther-Kirche in Vöhringen/Iller.

Hier meine Predigt als pdf.

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