Carl Zuckmayer, Bericht von einer späten Freundschaft mit Karl Barth (1969): „Nie hat mich ein lebender Mensch, vielleicht mit Ausnahme von Albert Einstein, so sehr davon überzeugt, und zwar durch sein pures Dasein, dass Gottesglaube vernünftig sei. Es kam zu dem Besuch in seinem Heim, im Bruderholz zu Basel, den er lange gewünscht hat­te. Für mich war es der Höhepunkt in dieser späten Freundschaft, und ich hatte kein Gefühl von einem Abschied, kein Vorgefühl. Ich sah sein »Pfarrhausgärtchen«, das er sehr liebte, in der Maiblüte. Wir saßen, am Nachmittag er und ich allein, am Abend und bis tief in die Nacht mit einigen seiner näch­sten Freunde, von Pfeifenrauch umschwebt in seinem anheimelnden Studierzimmer, zwischen dessen von Büchergestellen verkleideten Wänden er wirkte wie Hieronymus im Gehäuse.“

Bericht von einer späten Freundschaft (1969)

Von Carl Zuckmayer

In memoriam Karl Barth

Wie sich das oft ergibt, gerade bei besonderen Anlässen, begann diese Begegnung damit, daß sie um ein Haar gar nicht stattgefunden hätte. Ich hatte mich, im Frühling 1967, auf eine längere Italien­reise begeben, und zwar zum Teil aus Gründen der Postflucht. Sechs Monate nach dem Erscheinen meiner Erinnerungen war die Flut der Zuschriften derart angeschwollen, daß meine Frau und ich schon beim täglichen Anrücken des Briefträgers zusammenbrachen. »Keine Post nachsenden«, war die Devise dieser Fahrt, die mir auch Zeit geben sollte, darüber nachzudenken, ob mein Buch wirklich so schlecht sei, um eine solche Leser-Explosion zu entfesseln. Daheim sortierte eine ordnende Hand den täglichen Segen, von der ich an­nahm, daß sie die Spreu vom Weizen zu trennen wisse. Das wäre beinah fatal geworden. Aber es fiel – zufällig oder nicht? – nach meiner Rückkehr ein dickes Dossier zu Boden, das die ordnende Hand beschriftet hatte: »Übliche Briefe von Unbekannten, summa­risch zu beantworten.« Beim Aufheben entdeckte ich diesen Brief und starrte ungläubig auf den Namen des Absenders. Konnte das sein, daß dieser »Unbekannte« wahrhaftig Karl Barth war?

»Jemand hat mir Ihr Buch ›Als wär’s ein Stück von mir‹ ge­schenkt«, begann dieser Brief. »Ich habe es in einem Zug gelesen, und nun muß ich Ihnen sagen –« Was er mir sagte, war nicht das Übliche. Es war ein Anruf, der mich traf und betraf wie selten ein anderer.

»Ich genoß zunächst einfach die Sprache« – und dann führte er aus, wie und weshalb die Lektüre ihn beeindruckt hatte. Es klang in dieser Ausführung etwas ganz Merkwürdiges an – nicht nur Verständnis und Wärme, sondern ein fast kindliches, unverhohle­nes Erstaunen. Wie wenn jemand zum ersten Mal einen Zoo be­sucht hätte. »Ich bin ja noch viel mehr als Sie ein Kind des 19. Jahr­hunderts, und die moderne Welt der ›Schönen Literatur, des Theaters, des Films, auch die der – wie soll ich es nennen – Edel­boheme hat mich zwar berührt, aber nie aus der Nähe erfaßt und bewegt …«

Dann aber kam das Erstaunlichste: er hielt es für nötig, sich vor­zustellen! »Ich bin evangelischer Theologe« – es folgte, in Stich­worten, ein schlichter Lebenslauf, in dem hauptsächlich der Anfang, seine Zeit als »richtiger Pfarrer« in Genf und im Aargau betont war. »Ich habe viele dicke und dünne Bücher theologischen und – erschrecken Sie nicht zu sehr! – dogmatischen Inhalts geschrieben«, hieß es am Schluß – »Jetzt lebe ich in einem nach Umständen fried­lichen und auch noch etwas geschäftigen Ruhestand. Liebliche Frauengestalten, auch einen guten Tropfen und eine dauernd in Brand befindliche Pfeife weiß ich immerhin noch bis auf diesen Tag zu schätzen … – Dies alles nur zur Orientierung, mit wem Sie es zu tun haben und dem es ein Vergnügen ist, an Sie zu denken.«

Beigefügt waren dem Brief zwei Broschüren, Bericht und Gedan­ken von seiner letzten Romreise, ›Ad limine Apostolorum‹, die andere eine Zusammenfassung seiner vier Mozartreden. Die letz­tere war mir schon bekannt. Die erste, mit einem Brief über Mario- logie als Anhang, lieferte bald Gesprächs-, auch Zündstoff zwischen uns. Denn das Schönste, für mich, bei diesen reichhaltigen Diskus­sionen in schriftlicher und mündlicher Form bestand darin, daß es – bei grundlegender, tiefer Übereinstimmung – immer etwas gab, worüber wir nicht einig waren. Dann konnte er den Gesprächspart­ner anfunkeln, mit einem schwarzen Feuerblick wie aus glimmen­den Kohlen, halb streng, halb belustigt, und gleichzeitig voll Sym­pathie und Freude an der freimütigen Aussprache.

Nach dem ersten Briefwechsel, der im Juni 1967 stattgefunden hatte, kam es bald, im Juli, zur ersten Begegnung, und zwar, auf seinen ausdrücklichen Wunsch, hier oben in meinem Haus in Saas­Fee. Er war damals, wie er ahnungsvoll bemerkte »vielleicht zum letzten Mal«, selbst in den Walliser Bergen, im Sommerhaus seines Sohnes Markus im Val d’Hérens. Als der Jüngere – er war 81, ich erst 70 – bot ich ihm natürlich an, ihn dort aufzusuchen. Aber er wollte nicht, er bestand darauf, mich – wie er schrieb – »in meiner eigenen Haut« kennenzulernen. »Nur zu Hause ist man ganz un­verstellt.« Er war unverstellt, wo immer er sich befand. Auch die Tatsache, daß man hier nicht mit dem Auto vorfahren kann, daß man von der »Station« und dem Parkplatz in Saas-Fee noch 15 bis 20 Minuten bergauf zu unserer Behausung gehen muß, schreckte ihn nicht ab. Immerhin brachte ich einen Electro-Car auf, sonst nur für Materialtransporte benutzt, mit dem er die größere Strecke die­ses Wegs fahren konnte. Aber den Rückweg machte er, nach vielen Gesprächsstunden und manchem »guten Tropfen«, zu Fuß, nur auf den Arm seiner Frau gestützt und jede andere Stütze energisch ablehnend.

Es war ein herrlicher Tag. Die Gletscher und Schneegipfel strahlten ihm entgegen. Aber ihm kam es, vor allem, auf die Men­schen an. Schon beim Aperitif, auf unserer schattigen Terrasse, nahm er mich ins Gebet und stellte die Gretchenfrage. »Wie ist das nun bei Ihnen mit der Religion? Ich meine, mit dem Katholizismus? Ist das romantische Erinnerung – oder denken Sie sich etwas dabei?« Meinerseits zunächst Verlegenheit. Eine komplizierte Frage, und wir sitzen da mit Familie, vier Barths, vier Zuckmayers. Er, dies auf der Stelle verspürend, lenkte sofort ein: »Das besprechen wir später, unter vier Augen«, und er schaute gebieterisch meine Frau an: »Nach Tisch müßt Ihr uns zwei alte Männer allein lassen.« Selten bin ich, wie bei diesem nachfolgenden Gespräch, einem jünge­ren Geist begegnet. Und er schenkte mir dabei, nach langen, ausführ­lichen Dialogen, eine völlig unverhoffte Überraschung: persönliches Vertrauen – einem Menschen gegenüber, den er zum ersten Mal sah.

Dieses Zwiegespräch dauerte zweieinhalb Stunden, und ich hatte dabei den merkwürdigen Eindruck, daß ich, in meinem Verhalten, der ältere sei – auf ungewohntem Gelände eher behutsam, nach­denklich, tastend – er ganz in seinem Element, inspiriert, stürmisch, draufgängerisch. Natürlich kam die Rede auch auf Literatur, die Künste, Musik vor allem. Hier entwickelte er eine gewisse Unduld­samkeit, fast Einseitigkeit. Mozart, über den kaum ein Anderer, selbst nicht Annette Kolb, Schöneres geschrieben hat als er, war für ihn absoluter Gipfel erreichbarer Seligkeit, alles andere nur Anstieg zu ihm oder Abstieg. Er hat ja öfters gesagt, auch geschrieben, daß er glaube, die Engel, wenn sie Freizeit vom Alleluja hätten und zu ihrem Vergnügen musizieren, würden nur Mozart singen (den er auch dem Papst, humoristisch, zur Seligsprechung empfahl). Ich wagte vorzuschlagen, sie könnten zur Abwechslung auch einmal Schubert nehmen. Aber das paßte ihm nicht, der war ihm bereits zu romantisch, und Romantik war ihm suspekt, auch in der Philo­sophie. Am schlechtesten kam Beethoven weg – dieser »verzweifelte Jubel« (in einer späteren Schrift nannte er es das »unerlöste Freu­dengeschrei«) im letzten Satz der Neunten Symphonie … Auch die Missa Solemnis schien ihm nicht aus einem befreiten Herzen zu kommen, sondern aus einem geplagten Hirn. Mit dem Schlußchor der Neunten geht es mir ebenso, aber ich wies auf den »anderen Beethoven« hin, die letzten Klaviersonaten wie opus 111, die späte Kammermusik wie das wunderbare Streichquartett opus 135, mit seinem dritten Satz, dem »Lento assai« … »Ja, ich weiß«, sagte er ungeduldig. »Man nennt das metaphysische Musik. Aber das ist es ja gerade! Bei Beethoven muß immer alles etwas bedeuten. Wenn die Leute ein Beethoven-Thema singen, kriegen sie feierliche Ge­sichter. Übrigens«, sagte er plötzlich mit jenem seltsamen Lachgefunkel in den Augen, »bin ich ja gar nicht musikalisch!« – und brach damit, nach einigen Variationen, dieses The­ma ab. Es war ein bewegter, bewegender Nachmittag. Mitsommer, die Luft strich voll Heugeruch durchs offene Fenster. In der letzten halben Stunde dieses Gesprächs legte er öfters seine Hand auf die meine und sagte leise, was für keinen anderen Menschen bestimmt war – ich ant­wortete, so gut ich konnte, und dieser Abschluß eines in allem Ernst stets heiteren Anti­phons hätte, auch wenn wir beide noch viel jünger gewesen wären, eine nicht mehr abklingende Zwiesprache begründet.

Nach diesem Besuch, bis zu dem meinen in Basel im nächsten Jahr und darüber hinaus, folgte ein lebhafter Briefwechsel, der im­mer vertrauter wurde und nicht immer ohne Haken und Wider­haken war. Aus der Anrede »Lieber verehrter –« oder »Lieber Herr –« wurde bald, von ihm aus, die einfache: »Lieber Freund«. Aber schon in seinem ersten Brief nach diesem Julitag, datiert vom 15. August 1967, brachte er mich zum Erschrecken. Er hatte inzwi­schen fast alles, was gedruckt von mir vorlag, gelesen, und er ent­schied sich für den »Band mit den Erzählungen« als das, was ihm »den tiefsten Eindruck gemacht« habe (sehr zu meiner Freude, denn ich halte sie für besser als meine bekannteren Stücke). Dann aber kam’s. Das ihn Bewegende, schrieb er, der Vorzug dieser Ar­beiten gegen Produkte anderer Zeitgenossen, die er benannte – liege »in der nirgends versagenden Barmherzigkeit, in der die mensch­liche Dunkelheit, Verkehrtheit und Misere zu sehen Ihnen auf der ganzen Linie gegeben ist. Mephistopheles ist abwesend … Und mit das Beste ist, daß Sie es offenbar kaum selbst bemerken, wie sehr Sie in Ihrer, wie man sagt, rein ›weltlichen‹ Schriftstellerei faktisch ein priesterliches Amt ausgeübt haben und noch ausüben, in einem Ausmaß, wie das unter den berufsmäßigen Priestern, Predigern, Theologen usw. katholischer oder evangelischer Konfession wohl nur von wenigen gesagt werden kann …« Mich drückte das zu Boden, mehr als es ein fachmännischer ›Verriß‹ je hatte tun können. Ich fühlte mich von einem Anspruch, einem Postulat betroffen, wie man es bewußt kaum erfüllen kann. Glücklicherweise vergißt sich so etwas wieder, wenn man an der Arbeit ist. Auch die »Abwesen­heit des Mephistopheles« beunruhigte mich zunächst: genau das wurde mir von Kritikern, von Freunden, manchmal auch von mir selbst als Manko vorgeworfen. Damals übten diese Sätze, diese Heimsuchung, eine Lähmung auf mich aus, welche dann, durch die strömende Güte und erfrischende Mitteilsamkeit seiner Briefe ins Gegenteil verwandelt wurde. »Ich grüße Sie«, hieß es am Schluß dieses Schreibens, »als einen spät, aber um so dankbarer entdeckten Freund oder etwas jüngeren Bruder.«

Natürlich hatte ich nun auch versucht, mich mit seinem theolo­gischen Werk vertrauter zu machen, soweit es dem »Laien« (er konnte dieses Wort nicht leiden) zugänglich ist. Er schickte mir Band II, 2, seiner Dogmatik, da wir im Gespräch das problema­tische Thema der Prädestination berührt hatten. Dies, auch Ge­stalt und Wirkung Calvins, gab Stoff zu mancherlei Dialogen, auch Kontroversen. Er schichte mir die großartigen, mutigen Predigten, die er in einer Basler Strafanstalt gehalten hatte (»Den Gefangenen Freiheit!«) und in denen er, wie er schrieb, versuchte, solche Pro­bleme auf einfachere Weise an den »in diesem Fall gar nicht so einfachen Mann zu bringen«.

Sein Wissensdurst, von einem Quell tiefen, gründlichen Wis­sens gespeist, war unerschöpflich und nährte den meinen. Immer wieder griff er neue Gegenstände, historischen, literarischen, phi­losophischen Charakters auf, um, wie er es nannte, »alte Lücken auszufüllen« und sie im Briefwechsel »einigermaßen zu schließen«. So kam er plötzlich auf Wilhelm Raabe und gleichzeitig auf Jean Paul Sartre (›Les Mots‹). »Beide gehen mir sehr nahe, aber eben irgendwie unheimlich nahe«, hieß es mit diesen Unterstreichungen in einem Brief – »Ist Raabe nicht in der ganzen urdeutschen Lie­benswürdigkeit seiner Schilderungen der raffinierteste Vertreter des heimlichen Nihilismus des neunzehnten – Sartre in seiner eis­kalten Schärfe der krude Vertreter des offenen Nihilismus des gegenwärtigen Jahrhunderts?« Solche und andere Fragen waren von ihm wirklich als Fragen, nicht als Feststellungen gemeint, er vertrug Widerspruch, forderte ihn manchmal heraus, quittierte ihn mit Humor, und wie wunderbar, wie belebend wirkt ein solches Spiel, Gedankenspiel, Frage- und Antwort-Spiel, manchmal an das des Nikolaus Cusanus erinnernd, auf die geistige Vitalität eines immerhin auch schon im Altern begriffenen, aber niemals »mit sich selbst fertigen« Menschen! Da wurde Schleiermacher zur Diskus­sion gestellt, von dem ich bis dahin – außer eben seiner Beziehung zu den Romanti­kern, den Briefen über Lucinde, der ›Rede über Religion‹ – wenig gewußt hatte und erst durch ihn – auch durch sein zusammenfassendes Nachwort zu einem neuen Auswahlband – Genaueres erfuhr. »Vorläufig behandle ich den Mann«, schrieb er über sein gerade begonnenes kritisches Seminar, »mit Lust – in altem Liebeshaß und noch älterer Haßliebe.« Jedesmal hatte er, in seinem »geschäftigen Ruhestand«, von neuen Plänen, Vorhaben, Auseinandersetzungen zu berichten: ob er es noch schaffen werde, eine ihm angebotene Vorlesungsreihe in Amerika, Harvard University, zu übernehmen? Oder: er beginne gerade wieder ein Semi­nar, mit und gegen Calvin – »die Sache nötigt mich zu heilsam viel Arbeit, macht mir aber Vergnügen, weil ich gerne mit jungen Men­schen (etwa 60) umgehe und rede …« – »Kennen Sie die hübsche Anekdote von Pablo Casals?« hieß es im selben Brief. »Der Mann ist 90 Jahre alt, also erheblich älter als wir beide, und übt immer noch täglich 4-5 Stunden. Gefragt: Wozu? Antwort: Weil ich den Eindruck habe, ich mache Fortschritte!«

Alles, was das gegenwärtige Leben, das Weltgeschehen, auch die Tagespolitik betraf, beschäftigte ihn, erregte seine Kritik und sein waches Interesse: so die damalige Koalitionsregierung in Bonn, die er scharf aufs Korn nahm, »ganz abgesehen davon, daß mir eine angeblich ›christliche‹ Partei, und dann als solche auch noch eine herrschende, prinzipiell ein Greuel ist!« Oder das »Getöse der eidge­nössischen Wahlen« im Herbst 1967: »Herrlich der mir genau gleichaltrige Walliser Sozialist Dellberg, der, von seinen eignen Leuten nicht mehr portiert, selbständig kandidierte und dann glän­zend wiedergewählt wurde!« Dann wieder erzählte er »von einem reichlich unreifen Theologiebeflissenen aus Kanada, der mich heute morgen u.a. fragte, was die Vernunft für meine Theologie bedeute? Antwort: Ich brauche sie!«

Nie hat mich ein lebender Mensch, vielleicht mit Ausnahme von Albert Einstein, so sehr davon überzeugt, und zwar durch sein pures Dasein, daß Gottesglaube vernünftig sei.

Es kam zu dem Besuch in seinem Heim, im Bruderholz zu Basel, den er lange gewünscht hat­te. Für mich war es der Höhepunkt in dieser späten Freundschaft, und ich hatte kein Gefühl von einem Abschied, kein Vorgefühl. Ich sah sein »Pfarrhausgärtchen«, das er sehr liebte, in der Maiblüte. Wir saßen, am Nachmittag er und ich allein, am Abend und bis tief in die Nacht mit einigen seiner näch­sten Freunde, von Pfeifenrauch umschwebt in seinem anheimelnden Studierzimmer, zwischen dessen von Büchergestellen verkleideten Wänden er wirkte wie Hieronymus im Gehäuse. Aber besonders stolz war er auf seinen »modernen Schreibtisch«. Die Freunde wa­ren viel jünger – sein letzter Assistent Eberhard Busch, mit seiner reizenden Frau, die ich, sehr zu seiner Erheiterung, als »Augentrost« bezeichnete, und sein trefflicher Arzt Dr. Briellmann, der großzügig Rotweinflaschen aufzog: er wußte, daß ihm dies nicht schadete, sondern ihn nur belebte und unser Zusammensein beschwingte. Er war gebrechlich, seit ich ihn kannte, seine Gesundheit durch schwere Operationen geschwächt, aber er nahm, soweit wie irgend möglich, keine Notiz davon. Sein geistiges Feuer und seine heitere Sympa­thie für alles tätige, rüstige Leben waren mächtiger als Krankheit und Alterslast. »Bruder Leib«, wie er ihn scherzhaft nannte, machte ihm in seinem letzten Lebensjahr, dem 83., noch schwer zu schaffen. Aber sofort nach einer Spitalszeit mit langwieriger Operation, künstlicher Ernährung, Durst – »Ich weiß erst jetzt, was Durst ist«, schrieb er mir dann – war er von neuer Energie, von Arbeits­plänen, auch von lebhafter Teilnahme an den meinen erfüllt. Daß ihm die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa verlieh, be­lustigte ihn eher, aber ich hatte den Eindruck, es machte ihm, dem an öffentlichen Ehrungen wenig gelegen war, doch Freude. Er starb am 10. Dezember 1968, nach einem Tag voller Lektüre und Gesprä­che, wie ich nach Berichten glauben darf, eines milden Todes.

In seinem letzten Rundbrief ›Dank und Gruß‹ nach seinem 82. Geburtstag hat er mich, unsere »merkwürdige Freundschaft« und unsere »muntere Korrespondenz«, guter Worte gewürdigt. Ich aber hatte noch einmal gefunden, was ein Mensch am nötigsten braucht, um sich selbst zu verstehen: eine Vatergestalt.

Quelle: Späte Freundschaft. Carl Zuckmayer / Karl Barth in Briefen, Zürich: Theologischer Verlag, S. 81-91.

Hier der Text als pdf.

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