Über Hiob (Über das Misslingen aller philosophischer Versuche in der Theodizee, 1791)
Von Immanuel Kant
Hiob wird als ein Mann vorgestellt, zu dessen Lebensgenuss sich alles vereinigt hatte, was man, um ihn vollkommen zu machen, nur immer ausdenken mag: gesund, wohlhabend, frei, ein Gebieter über andere, die er glücklich machen kann, im Schoße einer glücklichen Familie, unter geliebten Freunden; und über das alles (was das Vornehmste ist) mit sich selbst zufrieden in einem guten Gewissen. Alle diese Güter, das letzte ausgenommen, entriss ihm plötzlich ein schweres, über ihn zur Prüfung verhängtes Schicksal. Von der Betäubung über diesen unerwarteten Umsturz allmählich zum Besinnen gelangt, bricht er nun in Klagen über seinen Unstern aus; worüber zwischen ihm und seinen vorgeblich sich zum Trösten einfindenden Freunden es bald zu einer Disputation kommt, worin beide Teile, jeder nach seiner Denkungsart (vornehmlich aber nach seiner Lage), seine besondere Theodizee zur moralischen Erklärung jenes schlimmen Schicksals aufstellt. Die Freunde Hiobs bekennen sich zu dem System der Erklärung aller Übel in der Welt aus der göttlichen Gerechtigkeit, als so vieler Strafen für begangene Verbrechen; und ob sie zwar keine zu nennen wussten, die dem unglücklichen Mann zu Schulden kommen sollten, so glaubten sie doch a priori urteilen zu können, er müsse deren auf sich ruhen haben, weil es sonst nach der göttlichen Gerechtigkeit nicht möglich wäre, dass er unglücklich sei. Hiob dagegen – der mit Entrüstung beteuert, dass ihm sein Gewissen seines ganzen Lebens halber keinen Vorwurf mache; was aber menschliche unvermeidliche Fehler betrifft, Gott selbst wissen werde, dass er ihn als ein gebrechliches Geschöpf gemacht habe – erklärt sich für das System des unbedingten göttlichen Ratschlusses. „Er ist einig,“ sagt er, „er machts, wie er will“.[1]
In dem, was beide Teile vernünfteln oder übervernünfteln, ist wenig Merkwürdiges; aber der Charakter, in welchem sie es tun, verdient desto mehr Aufmerksamkeit. Hiob spricht, wie er denkt, und wie ihm zu Mute ist, auch wohl jedem Menschen in seiner Lage zu Mute sein würde; seine Freunde sprechen dagegen, als wenn sie insgeheim von dem Mächtigen, über dessen Sache sie Recht sprechen, und bei dem sich durch ihr Urteil in Gunst zu setzen ihnen mehr am Herzen liegt als an der Wahrheit, belauscht würden. Diese ihre Tücke, Dinge zum Schein zu behaupten, von denen sie doch gestehen mussten, dass sie sie nicht einsahen, und eine Überzeugung zu heucheln, die sie in der Tat nicht hatten, sticht gegen Hiobs gerade Freimütigkeit, die sich so weit von falscher Schmeichelei entfernt, dass sie fast an Vermessenheit grenzt, sehr zum Vorteil des letzteren ab. „Wollt ihr,“ sagt er[2], „Gott verteidigen mit Unrecht? Wollt ihr seine Person ansehen? Wollt ihr Gott vertreten? Er wird euch strafen, wenn ihr Personen anseht heimlich! – Es kommt kein Heuchler vor Ihn.“
Das letztere bestätigt der Ausgang der Geschichte wirklich. Denn Gott würdigt Hiob, ihm die Weisheit seiner Schöpfung vornehmlich von Seiten ihrer Unerforschlichkeit vor Augen zu stellen. Er lässt ihn Blicke auf die schöne Seite der Schöpfung tun, wo dem Menschen begreifliche Zwecke die Weisheit und gütige Vorsorge des Welturhebers in ein unzweideutiges Licht stellen; dagegen aber auch auf die abschreckende, indem er ihm Produkte seiner Macht und darunter auch schädliche, furchtbare Dinge hernennt, deren jedes für sich und seine Spezies zwar zweckmäßig eingerichtet, in Ansehung anderer aber und selbst der Menschen zerstörend, zweckwidrig und mit einem allgemeinen durch Güte und Weisheit angeordneten Plane nicht zusammenstimmend zu sein scheint; wobei er aber doch die den weisen Welturheber verkündigende Anordnung und Erhaltung des Ganzen beweiset, obzwar zugleich seine für uns unerforschliche Wege selbst schon in der physischen Ordnung der Dinge, wie vielmehr denn in der Verknüpfung derselben mit der moralischen (die unserer Vernunft noch undurchdringlicher ist) verborgen sein müssen. – Der Schluss ist dieser: dass, indem Hiob gesteht, nicht etwa frevelhaft, denn er ist sich seiner Redlichkeit bewusst, sondern nur unweislich über Dinge abgesprochen zu haben, die ihm zu hoch sind, und die er nicht versteht, Gott das Verdammungsurteil wider seine Freunde fällt, weil sie nicht so gut (der Gewissenhaftigkeit nach) von Gott geredet hätten als sein Knecht Hiob. Betrachtet man nun die Theorie, die jede von beiden Seiten behauptete: so möchte die seiner Freunde eher den Anschein mehrerer spekulativen Vernunft und frommer Demut bei sich führen; und Hiob würde wahrscheinlicherweise vor einem jeden Gerichte dogmatischer Theologen, vor einer Synode, einer Inquisition, einer ehrwürdigen Classis, oder einem jeden Oberkonsistorium unserer Zeit (ein einziges ausgenommen), ein schlimmes Schicksal erfahren haben. Also nur die Aufrichtigkeit des Herzens, nicht der Vorzug der Einsicht, die Redlichkeit, seine Zweifel unverhohlen zu gestehen, und der Abscheu, Überzeugung zu heucheln, wo man sie doch nicht fühlt, vornehmlich nicht vor Gott (wo diese List ohnehin ungereimt ist): diese Eigenschaften sind es, welche den Vorzug des redlichen Mannes in der Person Hiobs vor dem religiösen Schmeichler im göttlichen Richterausspruch entschieden haben.
Der Glauben aber, der ihm durch eine so befremdliche Auflösung seiner Zweifel, nämlich bloß die Überführung von seiner Unwissenheit, entsprang, konnte auch nur in die Seele eines Mannes kommen, der mitten unter seinen lebhaftesten Zweifeln sagen konnte (Ijob 27,5.6): „Bis dass mein Ende kommt, will ich nicht weichen von meiner Frömmigkeit“ usw. Denn mit dieser Gesinnung bewies er, dass er nicht seine Moralität auf den Glauben, sondern den Glauben auf die Moralität gründete: in welchem Falle dieser, so schwach er auch sein mag, doch allein lauter und echter Art, d. i. von derjenigen Art ist, welche eine Religion nicht der Gunstbewerbung, sondern des guten Lebenswandels gründet.
Quelle: Berliner Monatsschrift, Band 2, Heft 18 (1791), S. 213-217.
[1] Ijob 23,13.
[2] Ijob 13,7 bis 11.16.