Johannes Chrysostomus, Vom Trug des Vergänglichen: „Solange die Zuschauer da­sitzen und die Aufführung dauert, so lange sind auch die Masken in Geltung; kommt aber der Abend, dann ist das Spiel zu Ende und alle gehen nach Hause. Dann werden die Masken beiseite gelegt, und der bei der Darstellung ein König war, entpuppt sich jetzt vielleicht als ein Kupfer­schmied. Die Masken sind abgelegt, die Täuschung ist vor­über, die Wahrheit tritt zutage. Der im Schauspiel ein freier Mann war, den findet man draußen als Sklaven wieder; denn dort galt die Täuschung, hier gilt die Wahrheit. Der Abend kam, das Schauspiel war zu Ende, die Wahrheit trat zutage.“

Vom Trug des Vergänglichen

Von Johannes Chrysostomus

Hier auf Erden geht es zu wie in einem Schauspiel. Ihr seht im Theater am hellen Tage lauter täuschende Darstellun­gen. Viele Schauspieler treten ein und führen ein Stück auf. Sie haben ihr Gesicht mit einer Maske verhüllt, und so er­zählen sie die alten Sagen und melden von alten Geschich­ten. Da wird der eine Schauspieler zum Gelehrten, und er ist es doch nicht. Ein anderer wird zum König, und ist es nicht; er hat vom König nur den Schein, er stellt den König dar. Ein anderer wird zum Arzt und versteht doch nicht einmal ein Stück Holz richtig zu behandeln: er ist eben nur wie ein Arzt gekleidet. Ein anderer wird zum Sklaven, obgleich er zu den Freien gehört; ein anderer zum Lehrer, obgleich er nicht einmal die Buchstaben kennt. Sie alle sind nichts von dem, was sie scheinen; und was sie sind, das scheinen sie nicht. Jener erscheint als Arzt und ist es doch nicht; der zweite scheint ein Gelehrter, weil er Haar und Bart nach Art der Gelehrten trägt; der dritte erscheint als Soldat, indem er äußerlich einem Soldaten ähnlich sieht. Das Maskengesicht täuscht, aber es kann den Charakter und die Stellung des Menschen, deren Wirklichkeit es ent­spricht, nicht zur Lüge machen. Solange die Zuschauer da­sitzen und die Aufführung dauert, so lange sind auch die Masken in Geltung; kommt aber der Abend, dann ist das Spiel zu Ende und alle gehen nach Hause. Dann werden die Masken beiseite gelegt, und der bei der Darstellung ein König war, entpuppt sich jetzt vielleicht als ein Kupfer­schmied. Die Masken sind abgelegt, die Täuschung ist vor­über, die Wahrheit tritt zutage. Der im Schauspiel ein freier Mann war, den findet man draußen als Sklaven wieder; denn dort galt die Täuschung, hier gilt die Wahrheit. Der Abend kam, das Schauspiel war zu Ende, die Wahrheit trat zutage.

So geht es auch am Ende dieses Lebens. Das gegenwärtige Leben ist wie ein Theater. Armut und Reichtum, Herrschaft und Dienstbarkeit und dergleichen, überhaupt die Schick­sale dieses Lebens sind nur Schein. Einst aber wird dieser Tag vorüber sein, und kommen wird jene furchtbare Nacht oder vielmehr jener Tag; denn eine Nacht ist es für die Sünder, ein Tag für die Gerechten! Dann ist das Spiel zu Ende, die Masken sind abgelegt, und geprüft wird dann ein jeder und seine Werke: nicht ein jeder und seine Reich­tümer, oder ein jeder und sein Amt, oder ein jeder und seine Ehre, oder ein jeder und seine Gewalt; sondern ein jeder und seine Werke. Geprüft werden also Fürsten und Könige, Frauen und Männer. Dann wird nach dem Lebens­wandel und nach den guten Werken gefragt, nicht, ob man hohe Würden bekleidet, ob man in Armut und niedrigem Stande gelebt, ob man eine verächtliche und tyrannische Behandlung erfahren hat. Zeige mir Werke vor! heißt es dann: auch wenn du ein Sklave bist, sollen sie edler sein als beim Freien; auch wenn du ein Weib bist, sollen sie mannhafter sein als beim Manne. Wenn einst die Masken abgelegt sind, dann stellt sich heraus, wer arm und wer reich ist. Und wie man bei uns manchmal nach dem Schluß des Theaters, wenn man draußen von einem erhöhten Platz herab den Gelehrten im Schauspiel jetzt als Kupferschmied wiedersieht, seine Verwunderung äußert und sagt: »Ei, war der da im Theater nicht ein Gelehrter, und hier sehe ich jetzt, daß er ein Kupferschmied ist! War jener im Theater nicht ein König, und nun sehe ich, daß er ein ganz geringer Mann ist!« – so wird es auch einst in der anderen Welt gehen.

Quelle: Johannes Chrysostomus, Predigt über das Erdbeben 5.

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