Schauspielmetaphern – theatrum mundi (Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 1948)
Von Ernst Robert Curtius
In Platons Alterswerk, den «Gesetzen», lesen wir: «Jeder von uns Vertretern lebender Geschöpfe werde von uns betrachtet als eine Marionette göttlichen Ursprungs, sei es, daß sie von den Göttern bloß zu ihrem Spielzeug angefertigt worden ist oder in irgendwelcher ernsthaften Absicht» (Buch I 644 de). Ebendort an späterer Stelle: «Der Mensch ist nur ein Spielzeug in der Hand Gottes, und das eben ist in Wahrheit gerade das Beste an ihm» (Buch VII 803 c). Im Philebos (50 b) spricht Platon von der «Tragödie und Komödie des Lebens». In diesen tiefsinnigen Gedanken, die bei Platon noch den Schmelz der ersten Schöpfung haben, liegen die Keime für die Vorstellung von der Welt als einem Theater, auf dem die Menschen, durch Gott bewegt, ihre Rollen spielen. In den populär-philosophischen Vorträgen («Diatriben») der Kyniker wird dann der Vergleich des Menschen mit einem Schauspieler ein häufig gebrauchtes Klischee. Horaz (Sat. II 7, 82) sieht im Menschen eine Marionette. Der Begriff mimus vitae ist sprichwörtlich geworden. So schreibt Seneca (Ep. 80, 7): hic humanae vitae mimus, qui nobis partes, quas male agamus, adsignat. Ähnliche Vorstellungen finden sich nun auch im Urchristentum. Paulus (1. Kor. 4, 9) sagt von den Aposteln, sie seien von Gott zum Tode bestimmt als Schauspiel (θέατρον) für Welt, Engel und Menschen. Hier ist nicht an die Schaubühne, sondern an den römischen Zirkus gedacht. Eine verwandte Vorstellung finden wir bei Clemens Alexandrinus: «Denn von Sion wird ausgehen das Gesetz und das Wort des Herrn von Jerusalem, das himmlische Wort, der wahre Streiter im Wettkampf, der auf dem Theater der ganzen Welt den Siegeskranz erhält» (Mahnrede an die Heiden I 1, 3 = Clemens-Schriften, übersetzt von STÄHLIN, I, 1934, 73). Hier wird der Kosmos als Bühne gesehen. Bei Augustinus (Enarr. ad ps. 127) lesen wir: «Es ist hier auf Erden so, als ob die Kinder zu ihren Eltern sprächen: Wohlan, denkt an euren Aufbruch von hier; auch wir wollen unsere Komödie spielen! Denn nichts anderes als eine Komödie des Menschengeschlechtes ist dieses ganze, von Versuchung zu Versuchung führende Leben.» Augustins heidnischer Zeitgenosse, der Ägypter Palladas, bringt denselben Gedanken mit anderer ethischer Zuspitzung in ein schön geformtes Epigramm (A. P. X 72):
Σκηνή πας ὁ βίος καί παίγνιον· ἢ μάθε παίζειν
Τὴν ὁποῦδὴν μεταθείς, ἢ φέρε τάς ὀδύνας.
Ganz ist das Leben Bühne und Spiel; so lerne denn spielen
Und entsage dem Ernst — oder erdulde das Leid.
Wir sehen: die Metapher «Welttheater» ist dem Mittelalter, wie so viele andere, sowohl aus der heidnischen Antike wie aus der christlichen Schriftstellerei zugeflossen. Beide Quellen haben sich in der Spätantike vermischt. Wenn Boethius haec vitae scena sagt, so klingt darin Seneca, aber auch Cicero mit (cum in vita, tum in scaena; Cato maior 18, 63). Das tönt dann in lateinischer Dichtung des frühen Mittelalters nach: secli huius in scena (Carm. Cant., S. 97, V. 19). Doch ist der Vergleich in dieser Zeit selten. Im 12. Jahrhundert jedoch wird er wirkungsvoll erneuert von einem der führenden Geister der Zeit: Johannes von Salisbury. In seinem unveröffentlichten Hauptwerk Policraticus WEBB I 190 zitiert er aus Petron (§ 80):
Grex agit in scena mimum, pater ille vocatur,
Filius hic, nomen divitis ille tenet;
Mox ubi ridendas inclusit pagina partes,
Vera redit facies, dissimulata perit.
Spielt auf der Bühne das Völkchen, so agiert der eine den Vater
Und der andre den Sohn; der den begüterten Mann.
Ist die Komödie vorbei, so fallen die Masken; es zeigt sich
Jetzt das wahre Gesicht, und das geschminkte vergeht.
Dieser Text enthält die Nutzanwendung: «Nimm dir am Schauspieler die Lehre, daß der äußere Prunk nur leerer Schein ist und daß nach Schluß des Stückes die Personen ihr wahres Aussehen erhalten.» Aber was macht der mittelalterliche Philosoph und Humanist aus diesen Versen? Er schließt an sie unmittelbar ein Kapitel an, das er De mundana comedia vel tragedia betitelt. Der alte abgenützte Schauspielervergleich wird hier zum begrifflichen Gerüst für eine umfassende Zeitkritik. Hiob, so führt unser Autor aus, nannte das Leben einen Kriegsdienst. Hätte er die Gegenwart vorausgesehen, so würde er gesagt haben: comedia est vita hominis super terram. Denn ein jeder vergißt seine Rolle und spielt eine fremde. Johannes will es unentschieden lassen, ob das Leben eine Komödie oder eine Tragödie zu nennen ist, wenn man ihm nur zugibt, quod fere totus mundus iuxta Petronium exerceat histrionem. Der Schauplatz dieser unermeßlichen Tragödie oder Komödie ist der Erdkreis. Im folgenden Kapitel werden die Tugendhelden gepriesen. Sie schauen aus der Ewigkeit auf das tragisch-komische Treiben der Weltbühne hinunter, mit Gott und den Engeln. Johannes hat die alte Metapher durch ausführliche Behandlung (sie erstreckt sich über zwei Kapitel) erneuert. Er hat ferner ihre einzelnen, meist getrennt vorkommenden Sinnelemente in einer Gesamtanschauung vereinigt. Den Ausgangspunkt bietet ihm die von Petron nachgeredete moralisierende Trivialität. Durch konfrontierende Beiziehung des Hiobswortes wird die erste Erweiterung des Horizontes gewonnen. Die Anschauung wird sodann vertieft durch die erwägende Frage: Tragödie oder Komödie? Sie erweitert sich nochmals durch die Ausdehnung des Schauplatzes auf den gesamten Erdkreis. Endlich eine neue — die letzte — Ausweitung: von der Erde zum Himmel. Dort sitzen die Zuschauer des irdischen Bühnenspiels: Gott und die Tugendhelden. Aus der scena vitae ist damit ein theatrum mundi geworden. Der Gedanke, daß Gott die tugendhaften Männer um sich versammelt, dürfte aus Ciceros Somnium Scipionis stammen, an welches Werk die Ausführungen des Johannes in Kapitel 9 auch sonst manchmal erinnern, nur daß die Vorstellung des Welttheaters dort ganz fehlt. Aber die Harmonisierung christlicher Lehre und ciceronischer Weisheit liegt im Zuge jenes christlichen Humanismus, den der europäische Norden im 12. Jahrhundert zur Blüte entwickelte.
Der Policraticus war während des ganzen Mittelalters sehr weit verbreitet, wie die Bibliothekskataloge bezeugen. Aber auch in späterer Zeit wurde er viel gelesen. Wir kennen Drucke von 1476, 1513 (einmal in Paris, einmal in Lyon), 1595, 1622, 1639, 1664, 1677. Wenn die Metapher theatrum mundi im 16. und 17. Jahrhundert wieder häufig auftritt, dürfte die Beliebtheit des Policraticus wesentlichen Anteil daran haben.
Sehen wir uns im Europa des 16. Jahrhunderts um. Wir beginnen in Deutschland und stoßen auf — Luther. Wie ERICH SEEBERG (Grundzüge der Theologie Luthers, 1940, 179) darlegt, braucht Luther den «unerhört kühnen» Ausdruck «Spiel Gottes» für das, was in der Rechtfertigung geschieht. Für Luther ist die ganze profane Geschichte ein «Puppenspiel Gottes». Wir sehen in der Geschichte nur Gottes «Larven» am Werk, das heißt die Heroen wie Alexander oder Hannibal. SEEBERG möchte diese Formulierungen aus Meister Eckhart ableiten. Sie gehören aber dem Gemeingut der Tradition an.
Wir gehen nach Frankreich. Man schreibt 1564. Der Hof feiert in Fontainebleau den Karneval. Soeben ist eine Komödie aufgeführt worden. Da erklingt ein von Ronsard verfaßter Epilog. Er beginnt:
Là la Comédie apparaît un exemple
Où chacun de son fait les actions contemple:
Le monde est un théâtre, et les hommes acteurs.
La Fortune, qui est maîtresse de la scène,
Apprête les habits, und de la vie humaine
Les cieux et les destins en sont les spectateurs.
Also ein theatrum mundi mit den Menschen als Schauspielern, Fortuna als Regisseur, dem Himmel als Zuschauer.
Wir gehen nach England. 1599: In London ist soeben das Globe Theatre eröffnet worden. Man hat in dem neuen Bau den Denkspruch angebracht Totus mundus agit histrionem. Eins der ersten Werke, die hier ihre Uraufführung erleben, ist Shakespeares As you like it. In diesem Werk findet sich (II, 7) die berühmte Rede des Jaques, welche die Welt mit einer Bühne (All the world’s a stage) und die sieben Lebensalter mit den sieben Akten des Menschenlebens vergleicht. Ein neuerer Herausgeber, G. B. HARRIS (in The Penguin Shakespeare 1937), bemerkt dazu: This is Shakespeare’s little essay on the motto of the new Globe Theatre which the Company had just occupied. Und woher stammt dieses Motto? Nicht aus Petron, wie man lesen kann, sondern aus dem Policraticus, nur daß das dort stehende exerceat durch agit ersetzt ist. Wer diesen Denkspruch anbrachte, kannte also den Policraticus, der ja 1595 neu erschienen war. Das Globe Theatre stand also im Zeichen des mittelalterlichen englischen Humanisten.
Wir gehen nach Spanien und ins 17. Jahrhundert. Don Quijote (12. Kapitel des II. Teiles) erläutert seinem Knappen die Ähnlichkeit des Schauspiels mit dem Menschenleben. Wenn das Stück aus ist und die Bühnentrachten abgelegt sind, so sind die Schauspieler wieder alle gleich. Ebenso die Menschen im Tode. «Ein prächtiger Vergleich», versetzt Sancho, «allerdings nicht so neu, daß ich ihn nicht schon viele und verschiedene Male gehört hätte». So macht sich Cervantes über ein literarisches Klischee lustig. Geistreiche — indirekte — Verspottung eines modischen Redeschmucks: das ist die erste Gestalt, in der die Schauspielmetapher uns im Spanien des 17. Jahrhunderts entgegentritt; in dem Lande, in der Zeit, da Calderóns Genius seine strahlende Bahn durchlaufen wird. Mit Recht hat VOSSLER darauf aufmerksam gemacht, daß der Vergleich des Menschenlebens mit einem Bühnenspiel im Spanien der Blütezeit ein Gemeinplatz war.
Im Criticón (1647 ff.) des Baltasar Gracián heißt gleich das 2. Kapitel El gran teatro del Universo. Doch handelt es sich hier nicht um Theater, sondern um die Natur als Schauplatz des Lebens (Kosmos als Schaustellung). Vor allem aber ist Calderón zu nennen. Auch er ist ein Geist feinster Kultur und umfassendster literarischer Bildung. Ein Virtuose, wenn man will; aber einer, der zugleich ein Kind und ein Genius war; ein tief gläubiger Künstler. Das theatrum mundi gehört zum festen Bestande seiner Begriffswelt, freilich mit mannigfach schillernder Bedeutung. In Calderóns bekanntestem Stück La vida es sueño spricht der gefangene Prinz Sigismund vom Theater der Welt, spricht es im Traum und meint damit — er, der Gefangene — die weite Welt der Wirklichkeit:
Salga a la anchurosa plaza
Del gran teatro del mundo
Este valor sin segundo …
Lauter Jubel soll begrüßen
Auf dem weiten Erdenrund
Diesen Mut … (A. W. SCHLEGEL)
Das gesamte Werk Calderóns hat die Dimension eines Welttheaters, insofern die Personen ihre Rollen vor kosmischem Hintergrund agieren (KEIL I 19a):
El dosel de la jura, reducido
A segunda intención, a horror segundo,
Teatro funesto es, donde importune
Representa tragedias la fortuna.
Der alte Thron, auf Eid und Pflicht gegründet,
muss neuer Absicht, neuem Grausal frönen,
ein Frevelschauplatz, wo, uns zur Bedrängnis,
mit Trauerspielen schrecket das Verhängnis.
Hier und auch sonst gelegentlich übernimmt das Schicksal die Rolle des Regisseurs. Calderón hat den traditionellen Verwendungen der Metapher durch seine funkelnde Diktion neuen Glanz verliehen.
Wesentlicher aber ist ein anderes: Calderón ist der erste Dichter, der das von Gott gelenkte theatrum mundi zum Gegenstand eines sakralen Dramas macht. Der tiefsinnige Gedanke, den Platon einmal hinwarf und der in der ungeheuren Fülle seines Werkes wie verloren ruht, der dann aus dem Theologischen ins Anthropologische gewendet und moralisch trivialisiert wurde, erfährt eine leuchtende Palingenesie im katholischen Spanien des 17. Jahrhunderts. Die Schauspielmetapher, gespeist von antiker und mittelalterlicher Tradition, kehrt in ein lebendiges Theater zurück und wird Ausdrucksform für eine theozentrische Auffassung des Menschenlebens, die weder das englische noch das französische Schauspiel kennt.
Verfolgen wir diesen Zusammenhang, so eröffnen sich weitere europäische Perspektiven.
Die Form einer Dichtung, die das Menschendasein in seinen Bezügen zum Weltganzen darstellen will, kann nur das Drama sein — aber freilich nicht das klassizistische Trauerspiel der Franzosen oder der Deutschen. Diese klassische Dramenform, geboren aus Renaissance und Humanismus, ist anthropozentrisch. Sie löst den Menschen vom Kosmos und von den religiösen Mächten; sie sperrt ihn in die erhabene Einsamkeit des sittlichen Raumes. Die tragischen Gestalten Racines und Goethes werden vor Entscheidungen gestellt. Die Wirklichkeit, mit der sie es zu tun haben, ist das Spiel der menschlichen Seelenkräfte. Die Größe und die Grenze der klassischen Tragödie ist ihr Beschlossensein in der Sphäre des Psychologischen. Der Kreis dieser strengen Gesetzlichkeit wird nie durchbrochen. Der tragische Held kann an diesen Gesetzen nur zerbrechen. Er kann sich mit dem Geschick nicht aussöhnen.
Aber diese Tragödie ist künstliche Züchtung auf dem Erdreich der europäischen Tradition. Sie erwuchs aus missverstandener Schulweisheit der Humanisten. Ihr unmöglicher Ehrgeiz war es, die Jahrtausende zu überbrücken, die zwischen Perikles und Ludwig XIV. liegen: Goethe selbst hatte diese Form zerbrechen müssen, als er sein Weltgedicht, den Faust, schuf.
Das theozentrische Drama des Mittelalters und der spanischen Blüte hat in unserer Zeit Hofmannsthal wieder erneuert. An eine englische Moralität des 15. Jahrhunderts knüpft sein »Jedermann« (1911) an, ein »Spiel vom Sterben des reichen Mannes«. Hier treten Gott, Engel und Teufel auf. Allegorische Figuren wie der Tod und der Glaube mischen sich ein. Und die Gestalt, um die das ganze Spiel sich dreht, ist nicht ein benannter Held, sondern der namenlose Jedermann: der Mensch, verstrickt ins Irdische und nun vor Gottes Richterstuhl gestellt. In Salzburg, auf dem Domplatz, wurde das geistliche Spiel aufgeführt. Mit dem »Jedermann« hatte Hofmannsthal ein zeitloses Mittelalter vergegenwärtigt und den Weg zum metaphysischen Drama beschritten. Wenn er ihn weiter verfolgte, musste er Calderón begegnen. Aus dieser Begegnung entstand 1921 das »Große Salzburger Welttheater«. Ihm folgten, ebenfalls von Calderón angeregt, »Der Turm« (1925) und »Semiramis« (1933 als Fragment aus dem Nachlass veröffentlicht). Diese Werke sind nicht etwa »Bearbeitungen« Calderónscher Dramen, sondern Neuschöpfungen der »integrierenden Phantasie«. Zeugende Kraft war die seelische Nötigung, die durch Katastrophen verstörte geistige Tradition Europas im Dichtwerk zu erneuern. Die Konzeption geschah durch Berührung mit wahlverwandtem Stoff dieser Tradition. Das war möglich durch die Einsicht, dass alle geformten Gehalte des Geistes wieder Stoff für eine neue Gestaltung werden können: »Mit den geistigen Hervorbringungen einer Epoche ist eigentlich noch nichts getan, es müsste erst etwas getan werden.« Das Höhere entsteht immer durch Integration. »Zu jedem Höheren ist Zusammensetzung gefordert. Der höhere Mensch ist die Vereinigung mehrerer Menschen, das höhere Dichtwerk verlangt, um hervorgebracht zu werden, mehrere Dichter in einem.« Hofmannsthal empfand sich als Erben der habsburgischen Tradition, deren Brennpunkte im 17. Jahrhundert Madrid und Wien waren. Die Dichtung der spanischen Blütezeit war unberührt von den klassizistischen Literatursystemen Frankreichs und Italiens. Sie schöpfte künstlerisch und weltanschaulich aus der unversiegten Fülle einer Überlieferung, die niemals mit dem Mittelalter gebrochen hatte. Sie bewahrte die Substanz des christlichen Abendlandes. In der Geschichte sah sie ein »Archiv der Zeiten«, in dem die Völker aller Epochen und Räume ihre Erinnerungen verzeichnet hatten. Die Könige und Helden, die Märtyrer und Bauern sind Spieler auf der großen Bühne der Welt. Übersinnliche Mächte greifen in die Geschicke ein. Alles ist überwölbt von der Fügung göttlicher Gnade und Weisheit.
Calderón durfte schalten und gestalten in einer Welt, deren monarchisches und katholisches Gefüge noch fest stand, ja unerschütterlich schien. Der beginnende Verfall von Staat und Nation war verdeckt von dynastischem und kirchlichem Festgepränge. Die geschichtliche Situation Hofmannsthals ist genau umgekehrt. Er fand sich hineingeboren in eine materialistisch und relativistisch zersetzte Welt. Er musste als Mann ihrer Auflösung bis zum katastrophalen Ende beiwohnen. Seine Aufgabe — eine fast übermenschliche Aufgabe — war es, wieder hinabzusteigen zur »beharrenden Wurzel der Dinge«: aus den verschütteten Schätzen der Überlieferung Heilkräfte zu gewinnen; endlich die Bilder einer wiederhergestellten Welt wieder aufzurichten. Es war seine tiefste Einsicht, »dass das Leben lebbar wird nur durch gültige Bindungen«. Diese Bindungen wieder zu reinigen und zu verklären — das war sein Auftrag, seine schmerzliche und mühevolle Mission in der Zeit: Bindung von Mann und Weib in der Ehe; Bindung von Volk und Herrschaft im Staat; Bindung zwischen Mensch und Gott in Zeit und Ewigkeit. Auf diesem Wege konnte die Weisheit Asiens eine Station und ein Sinnbild sein — aber nicht Heimat und Lösung. Sie konnten nur in der Offenbarung gefunden werden, die an Abend- und Morgenland ergangen war: im Christentum. Dahin wiesen Hofmannsthal die Überlieferung von Volk und Boden; dahin seine neuplatonische Geistesform; dahin ein geheimer Ruf, dem er folgen musste. Wenn Hofmannsthal sein christliches Theater an eine große Überlieferung anknüpfen wollte, konnte es nur die Calderóns sein.
Dem Mittelalter und dem spanischen Theater entnahm Hofmannsthal nicht historische Lokalfarben, sondern jene zeitlose europäische Mythologie, die er uns sichtbar gemacht hat: »Es gibt eine gewisse zeitlose europäische Mythologie: Namen, Begriffe, Gestalten, mit denen ein höherer Sinn verbunden wird, personifizierte Kräfte der moralischen oder mythischen Ordnung. Dieser mythologische Sternenhimmel spannt sich über das gesamte ältere Europa.« Der Rückgriff auf dieses ältere Europa aber war in Hofmannsthals Augen ein Vorgang, der weit hinausreichte über Dichtung und Theater. Er war nur ein Bild innerhalb eines ungeheuren geschichtlichen Prozesses, den Hofmannsthal kommen sah: »eine innere Gegenbewegung gegen jene Geistesumwälzung des 16. Jahrhunderts, die wir in ihren zwei Aspekten Renaissance und Reformation zu nennen pflegen …«
Quelle: Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern: A. Francke, 1948, S. 146-152.