Christoph Blumhardt, Brief über eine Palästinareise im Jahre 1906 (an Richard Wilhelm): „Zur Probe wie sich’s reiten lässt in Palästina, ritten wir nach Bethlehem in zwei guten Stunden und freuten uns der lieblichen Lage und gedachten der Hirten auf dem Felde, d. h. auf den vor Bethlehem sich lagern­den Hügeln. Dort in der Geburtskirche dann, die eine der ältesten Kirchen ist, hatten wir die Freude, einem jauchzenden Herzen zu begegnen. Wir standen in der Kirche, an welche ein Kloster an­gebaut ist, und warteten auf einen Bruder aus dem Kloster, der uns herumführen sollte. Die Türe ging auf und mit einem Freudenruf eilte uns der Mönch, der erschienen war, entgegen mit den Worten: «Ach, mein Herr, dass ich Sie wiedersehe!» — Es war ein Mönch, mit dem ich das Jahr vorher auf einem österreichischen Schiff an einem Sonntagmorgen über das Himmelreich sprach und ihm eine innige Gemeinschaft zuwandte. Ist’s nicht, wie ein Gesang der Engel: «Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden in Men­schen des Wohlgefallens», wenn wir aus so verschiedenen Lagern uns begegnen und alles vergessen, was die Geschichte uns auf­gebunden hat von wunderlicher Natur und Herz zu Herzen kom­men darf? Es ist uns in Bethlehem doch ein Sternlein auf gegangen, das wir nicht vergessen werden.“

Brief über eine Palästinareise im Jahre 1906 (an Richard Wilhelm)

Von Christoph Blumhardt

Bad Boll, den 15. Dezember 1906

MEIN LIEBER!

Als wir vorgestern von unserer Reise nach Palästina zurückgekehrt waren, fanden wir von Eurer Kolonie verschiedene Briefe vor, welche uns willkommene Botschaft brachten über Euer Ergehen. Es ist mir zum grossen Dank täglich vor Gott, unserem wirklichen Vater, dass Ihr Euch dort zu einem harmonischen Ganzen zusammenschliessen durftet und wie ein Leib geworden seid mit Glie­dern. die sich gegenseitig unterstützen. Meine tägliche Bitte ist, dass diese Gemeinschaft immer mehr vom Geist Gottes gekräftigt und geleitet werden möge, um stark zu sein und weise, den kommenden Veränderungen und Stürmen in der Welt zu widerstehen. Dass Du, lieber Sohn, so treu besorgt sein darfst für jedes Einzelne persön­lich und für die Arbeit, die jedem zugeteilt ist, ist uns eine so grosse Wohltat, dass wir davon eine Kraft empfinden, die uns Gottes Füh­rung zuteil werden lässt, in der einzigartigen Stellung, die wir in der W7elt einnehmen und in dem Berufe, den wir zu Ende zu füh­ren haben. Einerseits immer isolierter von allem, was Christentum sonst heisst und anderseits immer reicher an Beziehungen zu aller­hand Menschen, die Gottes Eigentum sind in allen Ländern und Sprachen, das ist das Bezeichnende unserer heutigen Lage. So schwimmen wir wie auf einer Barke durch das brausende Meer der Menschenwelt, deren Völker wider einander sind und deren Stre­ben immer neue gefährliche Kampfesgebilde hervorbringt, wir schwimmen wohlbehütet durch alle Wogen und werden geführt, so dass auch die Übel der Welt, die uns begegnen, uns nur dienen müssen zur Erfüllung des Willens Gottes. Wir erlebten auf unserer Reise ein grosses, gewaltiges Bild unseres Lebens in den wild brau­senden Wogen des Sees Genezareth. Um von Tiberias nach Damas­kus zu kommen, mussten wir entweder mit einem Nachen den See in drei Stunden durchqueren oder den Jordan durchschreiten an der Stelle, wo er aus dem See herausfliesst. Verschiedene Umstände bewogen uns. da die Schiffer bereit waren, den Weg auf einem Nachen zu versuchen, obwohl der Wind widrig war. Schon das Einschiffen bei den starken Wellen war schwierig; aber als wir eine halbe Stunde hinausgerudert waren, kamen die Wellen immer höher und höher, wie ich sie kaum auf dem Mittelländischen Meere bei Sturm gesehen hatte. Wenn solche wohl fünf Meter hohe Wogen daherkamen, da war es immer ein Augenblick der höchsten Spannung, ob die Ruderer die Hohe der Welle erreichen konnten oder nicht. Ein ungeschickter Griff hätte uns in den See geworfen. So ruderten wir drei Viertel des Sees und überwanden diese Strecke in zweieinhalb Stunden. Dann aber kamen die Winde von allen Seiten, die erste Sturzwelle überdeckte uns mit Wasser und bald sahen wir, dass alle Mühe vergebens war und wir umkehren muss­ten. Nun trieben uns die Wellen blitzschnell vorwärts, aber da sie oft schneller waren, als wir rudern konnten, überdeckten sie uns mehrfach, dass das Schiff viel Wasser bekam und wir durch und durch voll Wasser wurden. Das Landen war auch schwierig; aber gegen zwölf nackte Männer, die unseren Kampf beobachtet hatten, stellten sich in das Meer, und als das Schifflein über einen Felsen geflogen war. ergriffen sie dasselbe, mit allen ihren Kräften es hal­tend, und trugen uns auf ihren triefenden Schultern ans Land. Wir waren gerettet und hatten jetzt drei Tage tiefen Frieden an den Ge­staden des wundersam umleuchteten Sees, dessen Farbenpracht uns an die Tage Jesu erinnerte, der die Stürme und Drangsale jener Welt getragen hat, um uns zu seinem Frieden zu führen. Nach drei Tagen fuhren wir getrost mit einem hohen Wagen durch den Jor­dan. wo er nur einen Meter tief war, um auf einer kürzlich er­stellten primitiven Eisenbahn in zwölf Stunden Damaskus zu er­reichen. Durch wie viel Not hat nicht der gnädige Gott über uns Flügel gebreitet. Uns steht dieses Erlebnis vor Augen wie ein Bild voller Verheissung. Den Not- und Drangsalswellen können wir nicht ausweichen. Wir müssen durch; denn unser Weg führt hin­ein, aber wir kommen durch an der Hand des Höchsten und er­leben dann grossen Frieden. Es war übrigens die ganze Reise voll Schwierigkeiten, keine lustige Reise, sondern voll Ungemach, und es war mir stets wie eine schwere Arbeit, in dieses Land zu kom­men und es zu durchqueren. Da Alessandria, von wo aus wir Jaffa zu erreichen gedachten, unter Quarantäne stand, hatten wir grossen Aufenthalt, zuerst in Ägypten, und dann in Beirut, wo unser Schiff auf offener See zwei Tage sich aufhalten musste, ehe wir es verlassen durften, um dann auf einem russischen Warenschiffe mit Schafen und allerlei Getier und mit einigen hundert Pilgern nach Jaffa zurückzufahren, wo wir zum guten Glück ruhiges Meer hatten und das Land Palästina betreten konnten. Die Fahrt mit den vielen Pilgern hatte übrigens etwas Wohltuendes, Ergreifendes, fast Heili­ges an sich. Die fromme Begierde, das Heilige Land zu sehen und dort anzubeten, schuf eine stille Verbindung zwischen uns und die­sen Leuten, die sich in malerischen Gruppen auf dem Deck und unter dem Deck des Schiffes vor unseren Augen gruppierten, und für die Nacht sich Lager verschafften. Es schwebte über diesen Leu­ten eine Wolke des Wohlwollens, welche in dem Gewirre der vielen und vielerlei Gestalten und bei den verschiedenartigen Be­dürfnissen derselben einen Frieden und ein Behagen verbreitete, so dass ich stets des Wortes gedenken musst: «Und den Menschen ein Wohlgefallen». In Jaffa betraten wir das Land voll Freude, endlich auf den Boden unserer eigentlichen Reise gekommen zu sein. Nur wenige Stunden hatten wir Zeit, die ich benützte, einige Leute ken­nen zu lernen und die von Dekan Braun gestiftete Kirche zu sehen; dann ging die Eisenbahn ab nach Jerusalem. Nicht leicht war der Geist, der uns dort begegnete. In einem Hotel, das ein früherer Templer innehat, spürten wir sofort einen sonderbaren Ton. Wir fühlten uns zunächst nicht aufgenommen; es wurde dann allmäh­lich besser; aber es blieb auch sonst in deutschen Kreisen mit weni­gen Ausnahmen dasselbe. Wenig Freudiges und Lebendiges in der Hoffnung, sondern etwas von Stillstand und Unbefriedigtem be­gegnete uns viel, auch später in den Herbergen durch Samaria und Galiläa. Man musste meist erst eine Mauer durchbrechen, ehe man die Herzen spürte. Zu einer freudigen Gemeinschaft in der Erwar­tung des Reiches Gottes kam es nicht. So legte sich in Jerusalem ein Druck auf die erwartungsvolle Seele, den die Betrachtung der christlichen Missions- und Liebestätigkeit nicht aufzuheben ver­mochte. In diesen Gebilden spielt auch eine ganz hervorragende deutsch-nationale Gesinnung eine grosse Rolle, so dass ich den Eindruck hatte, dass weniger die Liebe Christi als das deutsch­-nationale Bewusstsein die sonst üblichen Streitereien in Glaubens­sachen überdecken hilft. Es ist eben auch hier so: Die Missionen sind ein Fremdkörper und werden es bleiben in der asiatischen Menschenwelt. Sie schaffen nichts im Geist Einigendes unter den Menschen. Was natürlich fremd einander gegenübersteht, das bleibt fremd, auch wenn äussere Wohltaten in Almosen und Unterricht äusserliche Verbindungen hervorbringen, welche aber mehr Scha­den als Nutzen für die Eingeborenen bringen. Namentlich in Jeru­salem gewöhnen sich die Leute, seien’s Juden oder ärmere Araber, an das Versorgtwerden durch europäische Geldbeutel.

Es ist schwer, in Jerusalem einen Überblick zu gewinnen über das Gemengsel von verschiedenen Rassen und Bevölkerungsteilen und über das Gemengsel von Religions- und Anbetungsgestaltungen. Juden, Lateiner, Griechen, Armenier, Kopten, mit vielen Klöstern und Kapellen, mit ihrem Fanatismus, der eben das Eigene sucht, nicht das, was Jesu Christi ist, alles braust uns um Kopf und Herz und man fragt vergebens: Wo ist das wahre Jerusalem, das wahre Zion? Es sind ja natürlich einzelne Menschen gewiss lieb und wer weiss, was in ihnen oft lebt, aber das Ganze ist kein Offenbar­werden des Heilandes und der Kraft Gottes, sondern man hat Men­schen und menschliche Werke vor sich in gleicher Art, wie sie überall zu sehen sind und Interesse erwecken, aber nichts vom Leben Christi bezeugen, es sei denn, dass man das hoch bewerten wollte, dass immerhin eine gewisse Erinnerung an Christi Namen sich gegenüberstellt dem anderen Namen Muhamed.

Am dritten Tage unseres Aufenthaltes in Jerusalem erfasste mich die Malaria und ich hatte im Fieber keine guten Tage; war aber nicht beunruhigt, wusste ich doch vorher, dass uns viel Widriges auf dieser Reise begegnen werde. Das Fieber verliess mich wieder am dritten Tag, und wir konnten bei verlängertem Aufenthalt in Jerusalem die verschiedenen Orte besuchen, auf welche sich die Tradition legte und welche die Anbetungsorte einer Menge Pilger sind, die namentlich scharenweise aus Russland Kommen; Juden, Muhamedaner, die auch ihr zweitgrösstes Heiligtum, den Felsen Morija auf dem alten Tempelplatz in Jerusalem sehen, und latei­nische und namentlich russisch-griechische Christen. Die Russen tragen eine Masse Geld nach Jerusalem, Bethlehem, besonders jetzt um Weihnachten und an andere Orte. An manchen Orten war es uns unerwartet warm ums Herz, und es war. wie wenn in unsere Erinnerung sich etwas Lebendiges mischte, das uns bewegte, ab­gesehen davon, ob die Tradition richtig ist oder nicht. So nament­lich in Bethanien und besonders am Jordan bei Jericho, wohin wir mit vier Diakonissinnen mit Wagen fuhren. Man fährt von der Höhe Bethaniens, eine halbe Stunde von Jerusalem, gegen 800 m tief und tiefer hinab, durch Täler hindurch, bis man am Toten Meer 400 m unter dem Meeresspiegel angekommen ist und sich in einem fast tropischen Klima befindet. Unterwegs rasteten wir in dem Wirtshaus des barmherzigen Samariters und tranken den übli­chen Kaffee. Dort am Jordan, wo man sagt, dass die Taufstelle Johannis gewesen sei, umgab uns etwas ungemein Warmes, und als wir auf einem Nachen den grün umwachsenen Fluss ein wenig hin­auffuhren, da war’s wie eine heilige Stille, die uns erfasste. Am anderen Tage ging’s wieder hinauf, ja hoch hinauf in sieben bis acht Stunden nach Jerusalem durch die schluchtig-bergige Wüste Judas, wo heute noch die wilden Tiere hausen, vorbei an den in Höhlen eingezimmerten Aufenthaltsorten von Eremiten, wieder über Be­thanien in die «heilige» Stadt. Ihre Heiligkeit bekundet sich auch darin, dass, wer innerhalb der Mauern wohnt, keine Steuern bezahlt. Ein merkwürdiges Gewirr ist die Grabeskirche, in die das heute hier geglaubte Golgatha and das Grab Jesu verlegt ist, lateinische und griechische und armenische Kapellen enthaltend. Es ist kalt und tot in diesen Räumen der vielen christlichen Streitigkeiten. Und doch, tut man dieses Äusserliche, Ärgerliche und Heidnische ein wenig von seinen Augen weg, so tritt einem doch die merkwürdige Tat­sache beweglich entgegen, dass hier an dem Orte, wo man glaubt, dass Jesus gestritten und gelitten hat, wo sein Blut geflossen ist und den Samen des Evangeliums in den Acker der Welt gelegt hat, alle christlichen Völker in ihren religiösen Vertretungen sich wie ein­graben, krampfhaft jede Scholle und jeden Stein behüten und sich’s zum Eigentum machen wollen, als ob’s etwas von Gott wäre. Wer alles sehen will, was von verschiedenen Kirchen und geschichtlich gewordenen Gemeinschaften existiert, der muss nach Jerusalem. Die Trümmer des Christentums von der ältesten Zeit her, die Trüm­mer eines menschlichen Ringens, Jesum und sein Evangelium zu verstehen., sie liegen vor mir in Jerusalem. Wie ein Sterben des Evangeliums auf Erden. Aber es geht noch weiter, wenn wir die Juden an der Klagemauer sehen und die ganze jüdische Einwande­rung, sie machen zwei Drittel der Stadt aus, ferner wenn wir auch die Muhamedaner in Tausenden von Pilgern zum Felsen Morija strömen sehen, so taucht an diesem Leben der Völker vor mir auf die ganze Geistesarbeit um den wahrhaftigen Gott und um den Gottes­dienst von Abraham bis auf Christus und bis in unsere Tage. So taucht doch ganz aus der Tiefe und aus dem Schutt der Jahrtausende etwas Wundersames auf, von dem die Menschen nicht loskommen können und an welches sich eine Sehnsucht knüpft, eine Verbin­dung mit Gott zu finden. So bleibt Jerusalem mit Bethlehem eine ganz eigenartige Stätte, mit nichts anderem zu vergleichen, und wenn einerseits eine tiefe Trauer sich unserer bemächtigt und wenigstens auf mich sich eine schwere Last legte, die mich nur auf Augenblicke verliess auf der ganzen Reise, so taucht doch gewaltig auf aus den Trümmern die hohe, gewaltige Persönlichkeit Jesu, welche auf diesen steinigen Bergen und in den Schluchten des Ge­birges, wo die vereinsamten Dörfer sich finden, so gewaltigen Ein­druck machte, dass wir heute noch von seinem Geiste leben können.

Bad Boll, den 22. Februar 1907 (diktiert)

Die vorausgehenden Zeilen datieren noch von der Zeit vor und nach Weihnachten. Es war eine Flut von geistigem Leben in den Festtagen; über hundert Gäste waren versammelt, fröhlich und voll lebendiger Teilnahme an allem, was wir erlebt haben. Ich konnte in voller Kraft des Geistes, aber körperlich doch nur mühsam den vielen Anforderungen nachkommen, welche an mich gestellt wur­den in der Zeit von Weihnachten bis zum Erscheinungsfest. Aber ein Jube) durfte doch durch alles hindurchgehen, denn unsere Freunde waren doch Teilnehmer gewesen an unsrer beschwer­lichen Reise, die auch Lebensgefahren mit sieb gebracht hatte. Nun konnten sie alle mit uns rühmen: Durch wieviel Not hat nicht der gnädige Gott über uns Flügel gebreitet. — Und das war gut, denn es war nicht äusserlich, was wir so empfanden mit vielen, sondern es legte sich eine grosse Kraft des Geistes Gottes in aller Herzen, wel­che uns tüchtig machte für die nun folgenden Wochen. — Noch waren viele Gaste am 7. Januar hier, als bei mir sich der in Palä­stina auf mich gelegte Druck m einem neuen Ausbruch der hefti­gen Malaria Luft machte: es war, als ob die letzte Kraft meines Kör­pers sollte ausgeschüttet werden, und es dauerte nicht lange, da lag ich mit abgemattetem Körper an der Grenze des ewigen Lebens. Ich musste mich auch innerlich ergeben, denn ich hatte kein Ge­fühl mehr zu einer Möglichkeit, aus solcher nur durch Kampfer-Einspritzung ein wenig unschädlich gemachten Schwäche wieder herauskommen zu können. — Und doch! Welch ein Friede, welch eine Erlösung umgab mich und alle, die an meiner Krankheit teil­nahmen! «Ich leide nicht», liess ich den Freunden schreiben, «son­dern ich gehe den Weg Gottes und das ist Freudigkeit, denn er ist Wahrheit und führt zum Leben.» So lag ich im Leben mitten in den Stürmen des Todes; und dieses Leben flutete mir zu aus Hunderten von Herzen, die mit unentwegter Kraft der Hoffnung und mit wirk­licher Freudigkeit meiner gedachten. Es ist wie ein neues Licht auch damit aufgegangen, dass auch einmal in solchen Zeiten, in welchen meine Person ganz zurücktreten musste, freudiges Leben in unsrem Hause wie neu erstand mitten in einer sogenannten Trübsal, die aber in Wahrheit nur die Aussenseite einer inneren tiefgehenden Entwicklung sein durfte. — Auch ich erhoffe für meine Person neue Lebenskraft, aber auch neue Freiheit, die notwendig ist, dass Bad Boll, aus einem gewissen Schematismus heraus­gehoben, den Besuchern mehr selbständiges Leben zuführen darf.

Heute ist nun der erste Tag, da ich wieder in richtigen Kleidern auf der Chaiselongue liege in dem Gefühl: Es ist, wenn nicht ganz, so doch soweit überstanden, dass ich bei gehöriger Vorsicht in mässiger Weise daran denken kann, mich wieder sehen zu lassen unter den Lebendigen. — So, nun wisset Ihr, warum Ihr so lange keinen Brief bekommen habt! Euch mitten in der Krankheit schrei­ben lassen, wollte ich nicht, Ihr hättet heute den Brief, der bei sei­nem Abgang hätte sehr schmerzlich lauten müssen — und nun bin ich ja soweit wieder hergestellt, dass Ihr keine beängstigenden Zei­len mehr bekommen dürftet.

Ich will nun nur in kurzem doch noch einige Erinnerungen an unsere Palästinareise hier niederlegen.

Von Jerusalem habt Ihr gehört, diesem Museum aller Religionsreste von Abraham bis heute und wisset auch, wie dort sozusagen eine Art Trübsal für uns begonnen hat. Aber wunderbar, dass wir die Reise vollenden konnten: ich hatte doch das Gift im Leibe, schleppte mich in Jerusalem mühsam da und dort herum; und doch (!) «mein Pferdchen muss gesattelt sein» — zur Probe wie sich’s reiten lässt in Palästina, ritten wir nach Bethlehem in zwei guten Stunden und freuten uns der lieblichen Lage und gedachten der Hirten auf dem Felde, d. h. auf den vor Bethlehem sich lagern­den Hügeln. Dort in der Geburtskirche dann, die eine der ältesten Kirchen ist, hatten wir die Freude, einem jauchzenden Herzen zu begegnen. Wir standen in der Kirche, an welche ein Kloster an­gebaut ist, und warteten auf einen Bruder aus dem Kloster, der uns herumführen sollte. Die Türe ging auf und mit einem Freudenruf eilte uns der Mönch, der erschienen war, entgegen mit den Worten: «Ach, mein Herr, dass ich Sie wiedersehe!» — Es war ein Mönch, mit dem ich das Jahr vorher auf einem österreichischen Schiff an einem Sonntagmorgen über das Himmelreich sprach und ihm eine innige Gemeinschaft zuwandte. Ist’s nicht, wie ein Gesang der Engel: «Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden in Men­schen des Wohlgefallens», wenn wir aus so verschiedenen Lagern uns begegnen und alles vergessen, was die Geschichte uns auf­gebunden hat von wunderlicher Natur und Herz zu Herzen kom­men darf? Es ist uns in Bethlehem doch ein Sternlein auf gegangen, das wir nicht vergessen werden. — Aber auch sonst erlebten wir es bei mancher Gelegenheit, wie unsre Herzen zu andern Herzen kommen konnten, und das geschah bei Griechen wie bei Lateinern und auch bei Muhamedanern. Auch im evangelischen Pfarrhaus in Bethlehem war’s lieblich, und wir schieden auf unsern Rösslein recht befriedigt von diesem sehr belebten und volkreichen Städt­chen, dessen Bevölkerung sich auch durch Kunsthandwerk, nament­lich in Steinhauerei und in Olivenholz-Schnitzereien Ansehen er­wirbt. Nun rückte der Tag heran, an dem wir Jerusalem verliessen.

In Samaria ist eine aus dem 11. Jahrhundert stammende Johannis­kirche zu sehen. — Uns wäre es beinahe übel ergangen, als wir den steilen Berg hinaufritten durch viele Olivenbäume hindurch. Schwe­ster Anna blieb mit ihrem Schleier hängen und wäre ums Haar ein Absalom geworden; doch hatte der Schleier ein Einsehen und liess sich zerreissen! — Wir setzten unsre Reise dann fort an mehreren Dörfern vorbei, zuletzt durch ein enges Tal und kamen, als es schon Nacht war, in Dschenin, dem alten Engannim (Gartenquelle) sehr müde an. Es war eine achtstündige, zum Teil sehr gefährliche Reittour, aber wir kamen doch glücklich an und waren froh, auf­genommen zu werden in einem deutschen Wirtshaus, wenn auch in nicht besonderer Freundlichkeit. Gegenüber dem Wirtshaus sprudelt die gewaltige Quelle, aus welcher wohl alle Könige Israels getrunken haben, wenn sie von ihren Kriegszügen abends sich er­holten, denn Dschenin liegt am Rande der schon zu Galiläa ge­hörenden Ebene Jesreel, wo die vielen Schlachten geschlagen sind bis in die neueste Zeit hinein.     

Haifa ist jetzt eine Stadt von 12000 Einwohnern, hat einen guten Hafen und bekommt als Handelsstadt mit dem benachbarten Akko immer grössere Bedeutung. Hier ist auch eine Niederlassung der Templer, bekanntlich lauter Schwaben; viele von ihnen in Jaffa und Jerusalem unn auch hier in Haifa sind seiner Zeit in engster Verbindung mit meinem Vater gewesen. Sie wollten ja, nachdem sie sich in die Führung von Christoph Hoffmann begeben hatten, die Zukunft Christi in Palästina erwarten. In religiöser Begeiste­rung, zugleich aber auch auf praktische Ziele gerichtet, haben sie Staunenswertes geleistet. Die Orte ihrer Niederlassungen sind rei­zende Kulturstätten; steriles, scheinbar unfruchtbares Land wussten sie in einer Weise zu bebauen, dass sie heute überall die Vorbilder für Ackerbau in Palästina geworden sind. Viele Muhamedaner fan­gen deswegen auch an, sich ansehnlich Mühe zu geben, um das Land mehr auszunutzen. — In religiöser Hinsicht ist freilich die alte Begeisterung nicht mehr zu finden; sehr viele stellen sich auf einen sehr kritischen Standpunkt, stark beeinflusst von der libera­len Theologie, etwa eines Harnack. Ich wurde selbstverständlich mit Interesse angeschaut, es ging mir das Gerede voraus, dass ich kommen werde, aber es war ein Glück, dass ich unvermutet eintraf, so dass man nichts vorher bestimmen konnte. In Jaffa und in Haifa wollten sie einen Vortrag von mir haben, wozu mir aber die Zeit fehlte, und das war gut so, denn die An und Weise, wie man mich ansah, konnte mir nicht den Eindruck geben, dass ich irgend­welches Verständnis gefunden hätte.

Nachdem wir unseren Rasttag in Haifa in dieser ausgiebigen Weise benutzt hatten, brachen wir den anderen Morgen in einem höchst originellen Fuhrwerk, ähnlich unsern hiesigen Kälberwagen, nach Nazareth auf. Auf diesem Wege war es eine Erquickung, durch einen richti­gen Eichenwald zu kommen, in dem Viehherden wei­deten. Der einzige wirkliche Wald in Palästina, den wir gesehen. Sonst bot die Gegend nichts Besonderes, nur bekamen wir auch hier den Eindruck, dass noch viel zu bebauendes Land übrig ist, und es will einem oft leid tun, dass doch so vieles Land teils brach liegt, teils sehr unvollkommen bebaut wird. Man lernt in diesen Verhältnissen besonders schätzen, wenn in einem Lande ein Volk im wahren Sinne des Wortes eingewurzelt lebt. Man wird sagen können, das hat Palästina im ganzen nie gehabt; denn auch die Stämme Israels waren zu sehr getrennt und wider einander, so dass auch in der alten Zeit eine wirkliche Bearbeitung des Landes nicht möglich wurde; dieselben unwegsamen Hügel und Berge, die wir heute bei einer solchen Landreise mit Gefahr überklettern müssen, waren offenbar auch in der alten Zeit ebenso wie heute. Man findet keine Spur an vielen Orten von einem Weg, Tier und Menschen müssen über die Felsblöcke klettern in Richtungen, die offenbar seit der ältesten Zeit die Wege waren. Da bekommt man erst einen Eindruck, welch ungemeine Mühe es gewesen ist für Jesus und seine Jünger, das Land zu durchschreiten und des öfteren in der kurzen Zeit, z. B. nur den Weg vom See Genezareth nach Jerusalem zu machen. Wir bedurften zu Pferd und zu Wagen sechs Tage, bei Tagereisen von 10 Stunden und mehr. Welche Anstrengung war es da für Jesus, der auch in die unwegsamen Seitentäler und in die auf den Bergen liegenden Dörfer zog, um den Keim einer neuen Entwicklung der Menschheit in die Erde zu legen, und zwar in einem Lande, welches felsiger und unwirtlicher kaum gedacht wer­den kann, denn den Eindruck bekommt man, dass eine viel grössere Kultur als heute früher kaum gewesen sein kann Es müssten mehr Spuren vorhanden sein, und wie schon bemerkt: die ewigen Kriege unter den Israeliten selbst und die kriegerischen Einfälle von allen Seiten machten es fast unmöglich, dass sich ein wirkliches kulturel­les Volksleben in kraftvoller Weise geltend machen konnte. — Noch eine Bemerkung sei mir hier gestattet: sobald man aus Judäa her­auskommt, nach Samaria und vollends dann nach Galiläa, wird es einem sofort klar, dass für Babylon oder Ägypten diese Gegenden des Kampfpreises viel mehr wert waren. Eine Landschaft wie die Ebene Jesreel, aber auch sonst manche Gebiete in Samaria machen einem das Herz lachen, und manchmal sprach ich es aus: Hier müssten statt der schwarzen Beduinenzelte (die Beduinen, die das Weiderecht seit ältester Zeit haben, sind ganz unseren Zigeunern ähnlich, nur dass sie Reichtümer in Viehherden haben) — es müss­ten Bauerndörfer in diesen Gegenden sein. Dann könnte unendlich viel mehr das ganze l and zu einer Freude gemacht werden. — Aber wie gesagt, heute vollends fehlt es an einem Volk. Da sind die Araber, und zwar fast in allen Dörfern in zwei feindselige Lager getrennt, die Schiiten und Suniten, die sich auch oft verprügeln. Dann sind die alten Christen teils in denselben Orten, teils in be­sonderen Ortschaften verbreitet und dazwischen hinein an man­chen Orten machen sich recht kräftig die Juden geltend, die viel einwandern, Ackerbaukolonien haben und neben den anderen Stämmen eine Rolle spielen.

Nun fuhren wir weiter nach Nazareth; wir hatten noch einen kur­zen Blick auf den Berg Tabor, der uns beim Ritt durch die Ebene Jesreel stets zur Rechten wie ein Wahrzeichen Galiläas erschienen ist. Leider erlaubte es uns Zeit und Kraft nicht, da hinauf zu reiten, wo auf der Spitze des Berges ein intelligenter, fideler deutscher Mönch die Fremden mit Freuden beherbergt. — Wir kamen am frü­hen Nachmittag in Nazareth an und hatten gleich beim Anblick dieses Städtchens ein freudiges Empfinden im Herzen. Zunächst aber wollte es wie unangenehm erscheinen, so dass wir im deut­schen Hotel keinen Raum finden konnten. Das war unser Glück, denn nun kamen wir in die Lage, unsre Zuflucht zum Franziskaner­kloster zu nehmen, dessen Insassen zum Behuf der Aufnahmen von Gästen eine grosse, geräumige «casa nuova» gebaut hatten. Es wäre schade gewesen, wenn wir die Klosterfreundlichkeit gar nie zu geniessen gehabt hätten, weil unser Führer, Dr. Benzinger, an die Hamburg-Amerika-Wirtshäuser sich gebunden fühlte. Es war ein­fach köstlich, welch schöne Unterkunft in grossen Räumen und welch reiche Gastfreundschaft wir dort genossen haben. Man be­kommt die Mönche lieb im gelobten Lande! Was sie machen und einrichten, ist solid und gastfreundlich; allen Wünschen soweit möglich kommen diese Leute entgegen …

Eine nette Episode begab sich noch im Kloster beim Promenieren nach dem Diner. Da war eine junge Frau gekommen mit charakte­ristischem schönem ebenmässigem Gesicht, wie man sich eine Maria vorstellen mag, und bot die berühmten in Nazareth durch Handarbeit gefertigten Spitzen zum Verkauf an. Manche der Gäste liessen sich die Sachen zeigen, hatten aber keine Kauflust. Das er­barmte uns; wir gingen hin und ich kaufte zunächst ein sogenann­tes buntes Schweisskäppchen, setzte es auf den Kopf und spazierte zum grossen Gaudium der englischen Gesellschaft damit auf und ab. Sofort stürzten die jungen Herrn herbei und wollten auch Käppchen haben. Damit war das Eis gebrochen, und die junge Frau verkaufte fast alles. Als die Gesellschaft sich verlaufen und zur Ruhe begeben hatte, wir aber noch auf unsrem Platz blieben, nahte sich die schöne Erscheinung, fiel vor uns nieder, küsste unsre Füsse in echt orientalischer Weise, und ihre schönen Augen erglänzten in Dankestränen. Uns ging dieser kleine Vorgang tief zu Herzen; es war ein biblisches Bild, das vor unsrer Seele aufstieg. Aber wir durften auch sonst gar manchmal erfahren, dass uns gegenüber Herzen aufgingen und eine Sprache mit uns redeten, die weit über das Gewöhnliche hinausging. Es ist von neuem eine grosse Erfah­rung gewesen für uns, dass die Verschiedenheit der Rasse, der Sprache, der Sitten, der Religionen vollständig verschwindet, wenn der Geist Christi zu Worte kommt.

Es war übrigens auch sonst der Aufenthalt in Nazareth für uns sehr anregend. Ganz besonders das «Haus der Maria», jetzt eine kleine Kirche, umgeben von einem terrassenförmigen Garten, bewegte uns wieder in der Weise, wie es uns manchmal begegnete, als sei eine lebendige Wolke von Erinnerungen uns umgebend und in die Zeit der Maria und Jesu versetzend und die Jahrhunderte verschwinden machend. Wir sahen Jesum hier aufwachsen, ringsum die Berge schauen, hinter denen die Welt verborgen liegt; über ihm nur der blaue Himmel, zu dem Er aufschaute, und aus dem Ihn umgeben­den Menschenelend heraus nach dem Vater im Himmel seufzte. Es war dieser Eindruck, der uns durch diesen historischen Boden ge­geben wurde, so gewaltig, dass das übrige in Nazareth, die Syn­agoge, in der Jesus lehrte, der Marienbrunnen usw. uns mehr in den Hintergrund trat. — Sehr befriedigt schieden wir von Nazareth und setzten uns wieder auf unser Gefährt, um an Kana vorüber auf wenig anziehendem Wege dem See Genezareth zuzusteuern. — Es war ein herrlicher, sonniger Tag, und ein unbeschreiblicher Glanz farbenreichsten Lichtes strahlte uns entgegen, als wir nach 8stündi­ger Fahrt an den Rand des Hochplateaus kamen, von wo aus wir in der Tiefe den leuchtend blauen See erblickten. Man wurde stumm über diesen wie heiligen Eindruck, welchen diese Landschaft her­vorbrachte. Steil ging der Weg hinunter, an dem Berg der Selig­preisungen vorüber; immer neue Bilder fielen uns ins Auge bei den grossen Krümmungen, die die Strasse kaum fahrbar machten. Wir kamen wieder in ein fast tropisches Klima, liegt doch hier das Jordantal mit dem See 200 m unter dem Meeresspiegel. Das ist wohl auch mit die Ursache des farbigen Duftes, den die Atmosphäre dort ausströmt. Durch ein altes, halbverfallenes Tor der noch heute als Festung geltenden Stadt Tiberias fuhren wir zu unserm Wirtshaus, das ein Stuttgarter, namens Grossmann, ein grosser Tierfreund, ver­waltet.

Wie unser Versuch, am 19. November über den See Genezareth zu schiffen, durch des Sturmes Toben vereitelt wurde, habe ich schon zu Anfang beschrieben. Am Samstag, den 22., machten wir uns auf, und gelangten glücklich auf einem hohen Wagen durch den Jordan hindurch der beim Ausfluss aus dem See in grösserer Breite eine Furt darbietet, das heisst nur einen Meter tief ist. Wir gelangten im Ostjordanlande an eine Eisenbahnstation Samach, wo morgens um neun Uhr ein Zug nach Damaskus abging. Es ist das eine ganz neue, erst im Spätsommer eröffnete Bahnlinie, von den Türken gebaut; sie mündet vor Damaskus in die grosse Mekka-Linie, die unter den grössten Schwierigkeiten erbaut wird. Der gegenwärtige Sultan Abdul Hamid erwirbt sich durch solche Eisenbahnbauten einen ge­waltigen Ruhmeskranz; die Bevölkerung hängt mit grossem Stolz an diesen ansehnlichen Unternehmungen, und das National­bewusstsein der muhamedanischen Asiaten lodert gewaltig auf, was die Europäer wohl zu spüren haben. Wir hatten zwölf Stunden zu fahren bis Damaskus. Die Bahn schlängelt sich durch gewaltige Felstäler hindurch, welche das Gebirge durchbrechen, das auf der Ostseite des Jordan gegen Süden in starren Felswänden zu sehen ist. Wir staunten über den wunderbaren Bahnbau und die gewal­tigen Arbeiten, die da nötig waren. Man wurde auch ganz müde vom Schauen der eindrucksvollen Gegenden.

Abends um neun Uhr, also nach zwölf Stunden, kamen wir in Damaskus an, wo es schwer war, einen Wagen zu bekommen. Aber wir gelangten doch glücklich in unser Hotel und befanden uns nun in der altberühmten Stadt Damaskus. Es wird wohl die einzige Stadt sein, die von der ältesten Zeit bis heute ihren Glanz bewahrt hat. Damaskus liegt in einer wunderbar schönen Oase voller Üppigkeit und hat etwa 200 000 Einwohner. Alles, was man nur nennen mag, enthält die üppige Vegetation dieser Oase. Wir hielten uns einen Tag hier auf, besuchten die berühmten Bazare, die grosse Moschee und sahen das ungemein reichhaltige Treiben der Menschenmassen, die durch diese Stadt hindurch Handel treibend, sich geltend ma­chen. Einzelnes zu beschreiben würde zu weit führen. Ich kann nur sagen, dass, wer einen Eindruck haben will von einer orientali­schen Stadt, sich Damaskus ansehen muss. — Wiederum ging’s jetzt weiter auf der Bahn von Damaskus nach Beirut. Unbeschreiblich ist die Herrlichkeit dieser Bahnlinie über den Antilibanon durch die Ebene Cölesyrien und über die gewaltigen Höhen des Libanon hinweg, endlich steil abfallend in grossen Windungen nach Beirut. Auf den Stationen konnte man am Verkauf vieler Früchte wahr­nehmen, in welch reicher Gegend wir uns befanden. Die Spitzen des Libanon waren mit Schnee bedeckt. Die Bahnlinie windet sich bis ungefähr 1400 m in die Höhe.

In Beirut hatten wir nun eigentlich nichts mehr zu tun, als auf ein Schiff zu warten, das uns nach Port Said bringen sollte. Wieder nahm uns ein russisches Pilger- und Warenschiff auf, und nachdem wir noch einmal in Jaffa Station gehabt, bei welcher Gelegenheit ich die Templer in Sarona besuchte, kamen wir nach Port Said am 29. November. Nun galt es wieder ein Schiff zu finden, das uns an irgend einen italienischen Hafen bringen konnte. Wir entschieden uns für einen Dampfer der Hamburg- Amerika-Linie, welcher an­gemeldet war als in den Suezkanal einlaufend. Aber da galt es zu warten! Statt am Morgen traf der Dampfer erst spät abends um zehn Uhr in Port Said ein und mit ziemlichen Schwierigkeiten ver­bunden, wurden wir schliesslich noch eingeladen. Zum Glück fan­den wir schöne zimmerartige Kabinen und konnten uns bequem einrichten auf die Tage der Überfahrt nach Neapel. Aber ohne Schwierigkeiten sollte es auch da nicht abgehen: einmal brach nachts die Maschine, und das Schiff war vier Stunden lang ein Spiel des ziemlich starken Windes. — Mich überfiel wieder die Malaria und mit knapper Not passierte ich die Passquarantäne im Hafen von Neapel. Der Dampfer hatte sich sehr verspätet und so kamen wir nachts um neun Uhr in Neapel an, wo Sturm und Wetter so wüteten, dass wir selbst im Hafen kaum ausschiffen konnten. Auch die Kapitäne wunderten sich über diesen Sturm, wir aber kamen trotz Lebensgefahr, tief erschütteit unter strömendem Regen im Grand Hotel in Neapel an, wo uns ein guter Friede umgab, den wir mehrere Tage genossen, bis der Expresszug Neapel – München ab­ging und uns in einem Zug heimbrachte. Ich war müde und krän­ker geworden, als man damals annahm Doch wurde ich aufrecht erhalten über die sehr bewegten Festtage, wo gegen 100 Gäste uns besuchten. Alle Reiseeindrücke konnte ich in voller Kraft noch zum Austrag bringen, bis nach dem Erscheinungsfest dieses Jahres aufs neue die heimtückische Malaria mich so darniederwarf, dass ich noch heute nur liegend existieren kann, denn eine Venenentzün­dung entwickelte sich aus den Giftstoffen des Fiebers vor vier Wochen, und es wird noch längere Zeit brauchen, bis ich wieder ganz hergestellt bin. — Über diese Festzeit der Karwoche hat Pfarrer Preiswerk-Sarasin mich vertreten. Das Leben, das unsrem Hause gegeben ist durch Gottes Kraft, hat sich wunderbar bewährt, so dass auch bei meiner völligen Zurückgezogenheit die uns besuchenden Freunde voller Dank sind.

So nun wäre endlich am 3. April 1907 diese Epistel beendet. Ich denke, es macht Euch noch Freude, wenn ich Euch diese Erinne­rungen schicke, obwohl mir ja durch die vielen Unterbrechungen die Erzählung nicht so gelungen ist, wie ich’s im Sinne hatte.

Wir gedenken Eurer mit vielen Anliegen in all den Schwierig­keiten, in denen auch Ihr stehet. Aber behalten wir Mut — es wird immer wieder heissen: Durch wieviel Not hat nicht der gnädige Gott über uns Flügel gebreitet!

In treuer Liebe Euch grüssend

Euer Vater
Christoph Blumhardt

Quelle: Christoph Blumhardt, Brief über eine Palästinareise im Jahre 1906 (an Richard Wilhelm), Zürich: Zwingli Verlag, 1964.

Hier der Text als pdf.

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