Von Eberhard Jüngel
Da aber Johannes im Gefängnis von den Werken Christi hörte, sandte er zwei seiner Jünger und liess ihm sagen: Bist du, der da kommen soll? Oder sollen wir eines anderen warten? Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Gehet hin und sagt Johannes, was ihr seht und hört: Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf und den Armen wird gute Nachricht zuteil. Und Heil dem, der sich nicht an mir ärgert. Amen.
Liebe Kommilitonen,
Gott kommt anders. Aber er kommt.
Es war die Axt den Bäumen schon an die Wurzel gelegt. Der Tod wartete schon auf seine rechtmässige Beute. Doch siehe: nun wird frohe Nachricht verkündet, und Tote gehören dem Leben.
In unserer Geschichte treffen zwei verschiedene Richtungen, zwei verschiedene Bewegungen aufeinander, die so verschieden sind wie Ebbe und Flut. In dieser Adventsgeschichte begegnen sich ja nicht nur zwei Menschen. Die Hauptpersonen sind vielmehr merkwürdig indirekt nur zur Stelle. Der eine sitzt im Gefängnis seines Tyrannen und muss sich durch getreue Boten vertreten lassen, um zu erfahren, was es mit dem Anderen auf sich hat. Und der Andere antwortet auf die Frage nach seiner Person, indem er von sich selbst weg weist: auf das, was um ihn her geschieht. Seine Antwort ist eine anspruchslose Gebärde. Und doch drückt sich in dieser anspruchsloser. Gebärde ein einmaliger Anspruch aus: Heil dem, der sich nicht an mir ärgert!
In dieser Geschichte wird eine Frage laut, in der Hoffnung, Sehnsucht und Verzweiflung von Jahrtausenden zusammenklingen: die Frage nach dem, der da kommen soll. Mit einer Information kann diese Frage nicht beantwortet werden. Dazu wird viel zuviel in ihr laut. Antwort geben kann nur das Ereignis der Ankunft selbst. Der lauten Frage begegnet eine leise Antwort: die Antwort des Gekommenen.
Auf weite Entfernungen muss man sich laut verständigen. Doch die Gegenwart des Gekommenen spricht für sich selbst. Auf weite Entfernungen nimmt man nur wenig wahr von dem, der da kommt. Man muss sich einige Vorstellungen machen. Aus der Nähe sieht es dann anders aus. Und die eigenen Vorstellungen taugen nichts mehr. Die Gegenwart des Gekommenen spricht nicht nur für sich selbst. Sie spricht auch anders, als man es erwartete. Das ist ja bekannt: Was wir aus der Feme begierig erwarten, erregt in der Nähe oft heftigen Widerspruch. Sympathische Menschen werden oft unerträglich, wenn sie uns zu nahe kommen. Interessante politische Ideen berühren oft peinlich oder auch schmerzlich (je nachdem, wo man lebt), wenn sie plötzlich verwirklicht werden. An all das darf man denken, wenn man die Begegnung verstehen will, von der unsere Adventsgeschichte erzählt.
Es war die Axt den Bäumen schon an die Wurzel gelegt. Es war der Weizen von der Spreu schon geschieden. Es galt nur noch zu warten auf den, der die Axt schwingen, der seine Tenne fegen wird, um die fallenden Bäume ins Feuer zu werfen und wie die Spreu zu verbrennen. Es galt nur noch zu warten auf den, der da kommen soll, um einer alt gewordenen Welt ein Ende zu setzen.
Auf Dinge und Menschen zu warten, das ist uns vertraut. Wir warten mit Freude oder mit Bangen auf das, was kommt: das Kind auf den kommenden Weihnachtstag, der Student vielleicht auf das kommende Examen. Und wer wirklich studiert, der kennt das Warten im endlosen Spiel der Gedanken auf den einen Gedanken, der weiter führt. Wir erinnern uns wohl auch mit leiser Wehmut der merkwürdigen Wartezeit, die den jungen Menschen aus der vertrauten Umgebung in die Einsamkeit lockt, nur um dort zu warten auf irgendeinen unbekannten Menschen, der anders sein sollte als die uns bekannten. Und es gibt manche Menschen, die warten ihr Leben lang auf den kommenden Menschen.
Im Gefängnis des Herodes Antipas sass ein Mann und wartete nicht auf Dinge und Menschen, sondern auf Gott, auf seinen Messias. Das Leben Johannes des Täufers war ein kompromissloses Warten auf Gott. Nicht erst jetzt in der Zelle, schon in der Wüste und am Wasser des Jordans wartete er kompromisslos auf Gott. Warten – das war für ihn harte Arbeit. Sein Warten war Wirken. Nicht in besinnlichem Schweigen, sondern mit harten Worten zur Busse rufend; die Hände nicht müssig im Schoss, sondern mit Wasser taufend, um menschliche Herzen von dem Schmutz zu säubern, der ihr Leben vergiftet hat – so wartete der Täufer in harter Arbeit auf den, der da kommen soll. Am Ende dieser Arbeit wartete dann auf ihn das Gefängnis.
Auf Gott warten, liebe Kommilitonen, ist ein gefährliches Geschäft. Es fordert ganze Männer, ganze Frauen und kompromisslose Arbeit. Die harte Arbeit, auf‘ Gott zu warten, ist erst noch zu lernen. Selbst den Fleissigen und auch den Mutigen unter uns ist sie noch ungewohnt.
Die Evangelien erzählen von Johannes dem Täufer, um uns diese Arbeit des Wartens zu lehren. Mit wenigen sparsamen Strichen zeichnen sie sein Bild: das Bild eines Grossen unter den Wartenden, das Bild des wartenden Menschen. In diesem kargen Bild versammelt sich wartend die Fülle der Zeiten. Der unendliche Reichtum menschlicher Erfahrungen und die grauenhafte Summe menschlicher Schmerzen, die qualvolle Wartezeit entrechteter Völker und die hohe Erwartung eines hoffenden Herzens, die bunte Vielfalt menschlicher Hoffnungen und das wirre Dunkel menschlicher Ahnungen – es ist alles zur Stelle und findet seinen letzten, seinen einfachen Ausdruck in der Frage dieses wartenden Menschen: Bist du, der da kommen soll?
Mit dieser Frage wandert das Bild des Täufers fortan durch die Zeiten. Wer es zu Gesicht bekommt, kommt in Bewegung. Dieses Bild hält den Betrachter nicht fest. Es fasziniert auf eine andere, auf eine ungewohnte Art. Wer dieses Bild zu Gesicht bekommt, fängt an, umher zu blicken. Unruhe und eine besondere Art von Bewegung sind die Begleiter dieses kargen Bildes vom wartenden Menschen. Es beunruhigt, weil man plötzlich entdeckt, dass etwas fehlt.
Wer den Täufer versteht, fängt an zu begreifen, dass die Welt sich betrügt, wenn sie glaubt, dass sie hat, was sie braucht. Wer den Täufer versteht, fängt an zu begreifen, dass wir uns betrügen, wenn wir glauben, wir haben uns selbst in der Hand. *Wir sind. Doch wir haben uns nicht.» Entscheidendes fehlt. Der Entscheidende fehlt. Wer den Täufer versteht, fängt an zu begreifen, dass es Zeit ist, sich für den zu entscheiden, der alles entscheidet; dass es längst an der Zeit ist, mit der harten Arbeit des Wartens auf Gott zu beginnen.
Es ist den Evangelien wichtig, dass wir den Täufer verstehen. Denn es ist ihnen wichtig, dass wir uns selber verstehen. Wer den Täufer versteht, der fängt an, sich selbst zu verstehen. Wichtiger aber ist den Evangelien, dass wir Jesus verstehen. Denn wichtiger ist ihnen, dass wir verstanden werden. Und in Jesus Christus sind wir verstanden. Mit dem Täufer warten wir auf Gottes Entscheidung über uns. Jesus aber gibt Gottes Entscheidung für uns bekannt.
Der sich für uns entscheidet, der kommt uns näher als der, der über uns entscheidet. Liebe Kommilitonen! Gott kommt uns näher, als wir es erwarten. Er bleibt nicht in einiger Entfernung vor uns stehen, um sich uns vorzustellen. Sondern an unserer Seite mutet er uns zu, mit ihm zu gehen, um ihn kennen zu lernen. Wer mit ihm unterwegs ist, der lernt ihn kennen.
Freilich unterwegs mit ihm lernen wir Gott anders kennen, als wir uns Gott vorstellen. Johannes der Täufer steht auch in dieser Hinsicht an unserer Stelle. Seine Erwartungen wurden von Jesus merkwürdig enttäuscht. Es war die Axt den Bäumen schon an die Wurzel gelegt. Es galt nur noch zu warten auf den, der da kommen soll. Und nun ist er da. Doch anstatt die Axt zu schwingen und die Tenne zu fegen, anstatt mit Feuer zu richten und dem Verderben zu überantworten, was verdorben war – siehe, da werden Blinde sehend und Lahme gehen. Da ist kein majestätischer König, der sich die Unreinen vom Leibe hält, sondern die Aussätzigen kommen ihm nahe – und werden rein. Kein ohrenbetäubender apokalyptischer Donner, sondern Taube fangen an zu hören. Und es gibt was zu hören. Es gibt gute Nachricht zu hören für alle, die vom Verderben bedroht sind. Die Vernichtung siegt nicht. Der Tod hat kein Recht. Wer geboren ist, soll auch leben. Das wollen Jesu Wunder sagen.
Mehr nicht? Das soll alles sein? Frohe Nachricht für Arme, ein paar Wunder dazu – das soll die Wirklichkeit dessen sein, dessen Kommen in Herrlichkeit und Macht erwartet wurde? Die Gerechten bleiben – wie der Täufer – gefangen, und die Gewaltigen bleiben auf ihrem Thron. Die ungerechten Kriege gehen weiter. Tyrannen treiben weiter ihren Spott. Die von der Axt bedrohten Bäume fallen nicht.
Die Wirklichkeit Jesu will nicht passen zur Erwartung des Täufers. Erwartet wurde ein Richter in Macht. Doch der Richter kam als Arzt für die Armen. Die Ankunft des Heiligen stand bevor. Und nun finden wir ihn in unreiner Gesellschaft: der Heilige kam als der Heilende. Ein himmlischer König sollte erscheinen. Und statt dessen: ein Bettlerkönig ist da, der Macht hat über Blinde, doch nicht über die Scharfsichtigen; der den Lahmen befehlen kann, doch nicht den Athleten. Unreine gehören ihm, die aus der Gesellschaft verbannt sind; doch die Reinen im Tempel, die Priester und die Spitzen der Gesellschaft, die gehören ihm nicht. Taube hören auf ihn und nichtssagende Tote; aber die, deren Ohr zu haben viel gilt bei den Menschen, die hören ihn nicht. Darum: Heil dem, der sich nicht an ihm ärgert.
Jawohl, es geht bei aller Kläglichkeit doch um das Heil. In dieser kläglichen Gesellschaft steht Heil, steht aller Welt Heil auf dem Spiel. Der Bettlerkönig in ihrer Mitte, er und nur er allein ist unser Heil. Er kommt zu Menschen, die noch auf sich warten, zu Menschen, die auf sich selber noch warten müssen: die Blinden, dass sie sehen; die Gelähmten, dass sie gehen; die Aussätzigen, dass sie rein werden; die Tauben, dass sie hören; die Verhungernden, dass sie satt werden. Sie alle müssen noch auf sich warten, weil sie sich noch nicht selber haben. Und in einer Reihe mit ihnen werden die Toten genannt, also die, die von sich selbst nichts zu erwarten haben.
In ihre Gesellschaft kommt der, der da kommen soll. Und in ihrer Gesellschaft wartet er nun auf uns. Und an dieser Gesellschaft macht er uns klar, was uns erwartet: Heil – d. h. Gott greift zu. Und sein Griff bringt zusammen, was für Menschen zerfällt: Blinde und Licht, Gelähmte und Bewegung, Unreine und Reinheit, d. h. Kommunikationsfähigkeit mit Menschen und Gott! Taube und das Gehör, Tote und das Leben, kurz: Dich mit Dir selbst. Die arm sind an sich selbst, die sich selbst noch nicht haben, denen wird ein Evangelium zuteil.
Und nun frage jeder sich selbst, ob er reich genug ist, um auf den zu verzichten, der auf uns nicht verzichtet. Ihr seid nun klug genug, um entscheiden zu können, wohin Ihr gehört: in die Gesellschaft des Bettlerkönigs oder in die Reihe der Bäume, die in den Himmel wachsen.
Liebe Kommilitonen: Jesus hat den Täufer sehr wahrscheinlich enttäuscht. Doch desavouiert hat er ihn nicht. Es bleibt die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt. Der Richter wird kommen. Doch er wird uns nicht fremd sein. Der himmlische König wird kommen. Doch er war als der Bettlerkönig schon da. Gott selber wird kommen. Doch er heisst Jesus Christ. Bevor er Euch fordert, gibt er Euch Gnade. Bevor er sich anbeten lässt, lässt er sich bitten. Bevor es zu spät ist, ist er bei uns zur Stelle – nicht um zu Fall zu bringen, sondern um sich zu den Gefallenen herabzubeugen. Die unten am Boden, die richtet er – auf. Denn das ist Gottes Bewegung: Zu uns hinab und mit uns hinauf. Lasst Euch bewegen! Amen.
Herr Gott, himmlischer Vater!
Wir danken Dir, dass Dein Sohn gekommen ist, dass er arm ward, um Arme reich zu machen.
Herr Jesus Christus!
Wir bitten Dich: Geh an uns nicht vorüber. Und vor allem: lass uns an Dir nicht vorüber gehen.
Herr Heiliger Geist!
Lass nicht vergeblich warten:
die Hilflosen auf wirksame Hilfe
die Traurigen auf kräftigen Trost
die Einsamen auf Besuch, der erfreut
die Obdachlosen auf ein Dach und ein Bett
die Fragenden auf beglückende Antwort
die Denkenden auf den wahren Gedanken
die Handelnden auf die nützliche Tat
die Politiker auf die rechte Entscheidung
die Vietnamesen auf Frieden im Land
die hungernden Völker auf das tägliche Brot
die unfreien Völker auf Recht und Freiheit
die christliche Kirche auf den Mut und die Kraft,
dein Wort aller Welt zu verkündigen:
den Schlafenden, dass sie wach werden, um auf Dich zu warten,
und den Wartenden, dass sie sich an Dir freuen.
Amen.
Quelle: Wort und Gemeinde. Probleme und Aufgaben der praktischen Theologie. Eduard Thurneysen zum 80. Geburtstag, Zürich: EVZ, 1968, S. 37-42.