Wartende Menschen. Adventsandacht zu Lukas 12,35-36 aus dem KZ Dachau 1944
Von Kurt Walter
„Lasset eure Lenden umgürtet sein und eure Lichter brennen! Und seid gleich den Menschen, die auf ihren Herrn warten, wann er aufbrechen wird von der Hochzeit.“ (Lukas 12,35-36)
Liebe Adventsgemeinde! Wir haben in der Gefangenschaft wohl schon alle gelernt, was das heißt, warten müssen, warten müssen eine Stunde lang oder ein paar Stunden lang auf irgend etwas, was wir nicht wissen, und was sich dann schließlich in Sinnlosigkeit auflöst; oder warten müssen durch die Monate, durch die Jahre auf die Befreiung, von der wir zu keiner Zeit gewußt haben und heute noch nicht wissen, wann sie kommt, ja ob sie jemals so kommen wird, wie wir es für uns wünschen und erhoffen. Wir sind wohl schon alle durch die ganze Tonleiter solchen Wartens hindurchgestiegen und sind allmählich nur zu gut vertraut geworden mit all den Spielarten ungeduldigen, zornigen und ingrimmigen, trotzigen und verzagten, kraft- und mutlosen, halt- und hoffnungslosen und trostlosen Wartens, eines Wartens aufs Ungewisse, ohne Ziel, ohne Sinn, nur auf das Ende. So ist der Menschen Warten, wenn ihm kein Ende und kein Ziel gesetzt ist, das Warten gleichsam in den leeren, weiten Raum.
„Seid gleich den Menschen, die da warten“, gebietet Jesus im Blick auf seine Wiederkunft denen, die seine Jünger sein wollen. „Seid gleich den Menschen, die da warten“, aber nun eben nicht ohne Ziel aufs Ungewisse, sondern seid gleich den Menschen, die ganz genau wissen, auf wen und worauf sie zu warten haben, „seid gleich den Menschen, die auf ihren Herrn warten, wann er aufbrechen wird von der Hochzeit“, wann er uns, die Wartenden, abholen und vor uns hergehen und uns hineinführen wird in den Himmelssaal. —
Christenmenschen sind immerdar wartende Menschen. Seitdem der, der vom Himmel in die Welt kam, wieder gen Himmel gefahren ist, steht die Gemeinde gleichsam auf dem Himmelfahrtsberge mit erhobenen Häuptern und wartet, aber nicht so, daß sie sinnlos in den leeren Raum starrt, aus dem doch niemals etwas werden oder kommen kann, sondern als Menschen, die die gewisse Verheißung haben: „Dieser Jesus, welcher von euch ist aufgenommen gen Himmel, wird kommen, wie ihr ihn gesehen habt gen Himmel fahren.“
Christus kommt gewiß! Die Wiederkunft des Herrn ist nicht ein Gedankengebilde, eine Fata morgana, welche, niemals greifbar und niemals erreichbar, sich uns am Ende des Raumes trügerisch vorgaukelt; sondern sie ist Wirklichkeit, die eigentliche zukünftige Wirklichkeit. „Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich; was aber unsichtbar ist, das ist ewig.“ Dieser Äon ist nur Schein; das andere, das Gott bereitet hat denen, die ihn lieben, das andere, das ist die Wirklichkeit, in der der Herr erscheinen wird. An diese Wirklichkeit, die die Wirklichkeit des lebendigen Gottes ist, glauben wir.
Dem Volke Gottes war das Kommen Christi von Gott verheißen; und Christus kam, „das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns“. Der aber, dessen Kommen am Ende der Tage verheißen ist, ist ja nicht ein Fremder, nicht irgendeine gemachte oder erdachte Erscheinung, sondern ist ja derselbe, der schon in die Welt am, am Kreuze starb, von den Toten auferstand und zum Vater in den Himmel ging, ist ja derselbe, von dem geschrieben steht: „Wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.“ Der wird wiederkommen; der Kommende ist der Gekommene. Der, der den Himmel zerrissen hat und herabgestiegen ist auf die Erde in seinem Sohne in der Fülle der Zeiten, der wird am Ende der Zeiten wieder den Himmel zerreißen und wieder zu uns herabfahren in seinem Sohne. Dessen warten wir, die Gemeinde; die Gemeinde wartet auf ihren Herrn.
Und darum ist das Warten der Gemeinde niemals ungeduldig, mutlos und verzagt, sondern das Warten der Gemeinde auf ihren Herrn ist voller Kraft und Geduld und voller Freude. Denn er kommt gewiß.
Liebe Freunde! Wenn wir wirklich Gemeinde Jesu Christi sind, wenn das wirklich wahr ist, daß wir warten auf den Tag, da der Herr kommt, dann wollen wir doch all das andere Warten unserer trüben Tage, das Warten auf das Ende unserer Gefangenschaft, auf unsere Heimkehr, das Warten auf eine bessere Zeit, all unser Warten, das mit soviel Ungeduld und Mutlosigkeit und Haltlosigkeit, auch manchmal schon mit soviel mürrischer Verhärtung geschieht, — dann wollen wir doch dieses unser menschliches Warten auf alle diese Dinge, die im letzten ja nur Schein sind, doch klein werden lassen vor dem Warten auf die große Wirklichkeit unseres Gottes, und wollen unsere Herzen erfüllen lassen mit der Freude derer, die auf ihren Herrn warten! Das wäre Adventsfreude! —
Aber bei denen, die im Gleichnis auf ihren Herrn warten, wann er aufbrechen wird von der Hochzeit, ist noch etwas anderes als bloß Freude. Sie werden ja abgeholt zu einem großen Festtage; und dort wird große Herrlichkeit sein, und große Ehre wird es sein, dorthin zu dür-fen. Dort wird man unter lauter hochgestimmten, festlichen Menschen sein, und unter denen wird man sich nicht gehen lassen dürfen, wie man sich (vielleicht!) gehen läßt, wenn man im Alltag oder wenn man allein ist; da wird man die Lenden gegürtet haben und die Lichter bren-nen lassen müssen.
Liebe Adventsgemeinde! Wo Gott kommt, da wird man sich gewiß freuen im kindlichen Ver-trauen. Aber wo Gott kommt, da wird man sich auch fürchten mit hochgestimmtem Sinn. Wie die Frauen von Jerusalem- „mit Furcht und großer Freude“ vor der Tatsache der Auferstehung ihres Herrn standen, so wird die Gemeinde auch vor der Tatsache der Wiederkunft ihres Herrn stehen: „mit Furcht und großer Freude“. Als auf dem Felde von Bethlehem den Hirten der Engel des Herrn erschien und die Klarheit des Herrn um sie leuchtete, da fürchteten sie sich sehr. — Wenn das wahr ist und wo das wahr ist, daß Christenmenschen nicht bloß stehen in einem Warten auf eine Besserung ihrer Lage oder auch in irgendeinem verschwommenen, sehnsuchtsvollen Warten auf ein besseres Jenseits, sondern wenn das wahr ist, daß Christen-menschen Menschen sind, die auf ihren Herrn warten, da wird in ihrer Freude auf sein Kom-men auch immer zugleich die Furcht des Herrn sein, der da kommt in seiner Herrlichkeit, in die man nicht hineinschauen kann, ohne sich erkannt und gerichtet zu wissen in seiner ganzen Unwürdigkeit. Mit diesem Sinne laßt uns auf das Kommen des Herrn warten: „Mit Furcht und großer Freude!“ Das wäre rechtes, adventliches Warten.
Denn es ist ja das Größte, was je auf Erden geschehen ist: daß Gott der Herr sich geneigt hat zu dieser armen Erde und seinen Sohn gesandt hat, das Werk der Erlösung auf ihr zu vollbrin-gen. Und es ist das Größte, was je auf Erden geschehen wird, ja was geschehen kann, daß Gott am Ende der Tage sich wiederum zu ihr neigen wird und seinen Sohn senden wird in der Herrlichkeit des Himmels.
Liebe Freunde! Bedenken wir immer, worauf wir warten, wenn wir als Christenmenschen wirklich warten? Daß Gott kommt, darauf warten wir! Abgeholt und mitgenommen zu werden in den Hochzeitssaal des Himmels Gottes, darauf warten wir! Und da gibt es ja nun kein müdes, lässiges, müßiges, dumpfes Warten, sondern nur ein höchst waches, ein von heller Gewißheit erfülltes Warten. Da muß jede Stunde unseres Lebens des Wartens voll sein; denn jede Stunde kann ja der Herr kommen. Das Warten auf den Herrn ist ein Warten in steter Bereitschaft, die Lenden gegürtet und die Lichter brennend, jede Stunde gewärtig, daß der Herr kommt und anklopft, uns abzuholen.
Liebe Brüder, ist das nicht einfach zu viel verlangt von einem Menschen? Kann denn der Mensch sich dauernd in einer solchen seelischen Hochspannung halten? Und hat der Christenmensch nicht auch seine Pflichten und Aufgaben in dieser Welt und an dieser Welt?
Ach, das Warten auf den Herrn Christus ist ja nicht Weltflucht, ist nicht Abkehr von dieser Welt, sondern ist Hinkehr zum Herrn, ganzes, volles, entschlossenes Hingewendetsein zu ihm mitten in allen Pflichten und Aufgaben dieses Lebens. Die Liebe zum Herrn hindert uns nicht an der Erfüllung unserer Pflichten. Der Landmann setzt seinen Pflug in das Erdreich ein und pflügt die Furche immer dicht vor seinen Füßen; aber sein Blick geht weit hinaus, bis ans Ende seines Feldes, da will er hin mit seiner Arbeit. Auch unsere Schritte gehen durch die Mühe und Arbeit und Pflichterfüllung dieser Erde; aber wir wissen, daß das Ende nicht kurz vor uns un-ter unseren Füßen liegt, sondern in der Ferne Gottes, die er durch die Sendung seines Sohnes jeden Augenblick zur Nähe, zur Gegenwart machen kann. Und darum erheben wir unsere Häupter von dem Staube dieser Erde, von allem, was niederzieht, was aufhält und beschwert, und schauen nach dem Aufgang aus der Höhe.
Solche Haltung echten Wartens auf den Herrn hat gar nicht etwas Übersteigertes oder Über-spanntes, gar nichts Aufgeregtes an sich. Es ist aber das Wissen dabei, wo wir als Kinder des Vaters letztlich hingehören, das Wissen, daß wir hier keine bleibende Statt haben, und das Suchen, das Warten auf die zukünftige.
Die Lenden gegürtet, die Lichter brennend, keinen Gefallen mehr habend an der Sünde der Welt, Menschen, die aus der Gnade ihres Gottes und von der Vergebung ihrer Sünden leben und die durch Gottes Gnade geheiligte Herzen und geheiligte Hände haben und in solcher Heiligung ihren Weg gehen, den Weg zum Ziel, — so sind die Menschen, die auf Christum, ihren Herrn warten: Adventsmenschen. Laßt uns in dieser Adventszeit den Herrn Christus um die Gnade bitten, daß wir solche Menschen werden! Amen.
Gehalten am 13. Dezember 1944 im Konzentrationslager Dachau.
Quelle: Martin Niemöller (Hrsg.), Das aufgebrochene Tor. Predigten und Andachten gefangener Pfarrer im Konzentrationslager Dachau, München: Neubau-Verlag, 1946, S. 15-20.