Singender und gesungener Glaube. Das Kirchenlied im christlichen Leben[1]
Von Jürgen Henkys
In der Themaformulierung wird das Kirchenlied auf den Glauben bezogen. Als eine Weise, den christlichen Glauben auszusagen, hat das Kirchenlied teil an dessen Strittigkeit. Daran erinnert einleitend Abschnitt I. Dem für das Kirchenlied bezeichnenden Miteinander von Glaubensakt und Glaubensinhalt, von „credo“ und „Credo“, gelten die Abschnitte II bis IV. Das Kirchenlied im christlichen Leben, in einem Leben also, das auf Glauben aus und vom Glauben her ist, behandeln die Abschnitte V und VI. Die Darstellung schließt im Abschnitt VII mit wenigen Sätzen über die Hymnologie als Fach.
I.
Im Lutherjahr 1983 erschienen in der „Neuen Deutschen Literatur“, dem Organ des Schriftstellerverbandes der DDR, „Auszüge aus dem evangelischen Kirchengesangbuch“.[2] Es handelt sich um vier Kirchenliedparodien. Zugrunde liegen „Eine feste Burg“, „Nun freut euch, lieben Christen gmein“, „Nun ruhen alle Wälder“ und „Nun bitten wir den Heiligen Geist“. Der Autor, Hans-Jörg Rother, erläutert seinen mehrdeutigen Titel „Auszüge“ nicht. Die Leser können an Exzerpt denken oder an Extrakt, werden vielleicht aber Exodus als noch passender ansehen. Wer in den genannten Kirchenliedern den Platz Gottes konsequent mit dem Menschen besetzt („Nun bitten wir den eigenen Geist, / Daß wir gut handeln allermeist, / Daß wir etwas ändern auf der Erde, / Damit heimisch wir auf ihr werden. / Das werde wahr“), zieht aus dem Kirchengesangbuch aus, auch wenn er Erbgut daraus beansprucht und als Legitimation dafür religionskritisch extrahierte Liedessenzen vorzeigt.
Genau 50 Jahre zuvor hatte Bertolt Brecht seine sechs „Hitler- Choräle“ geschrieben.[3] Verglichen mit diesen Parodien sind die von Hans-Jörg Rother eine täppische Harmlosigkeit. Nicht die Erbe-Diskussion fuhrt Brecht die Feder, sondern der Kampf gegen den Nationalsozialismus. Die Gefolgsleute Hitlers und ihr Idol werden durch Texte politischer Devotion und Selbstaufgabe bloßgestellt, die entlarvender kaum gedacht werden können. Die „Choräle“, von denen Brecht ausgeht, sind vermöge der Volkstümlichkeit ihrer Melodien, Strophenmuster und Textanwendungen zum Medium ätzender Agitation geworden.
Ob nun aber so oder so — der uneigentliche Gebrauch von Kirchenliedern durch beide Autoren hat die gleiche doppelte Voraussetzung: 1. Der kulturhistorische Rang und die religiöse Durchschlagskraft der Lieder werden anerkannt. 2. Die Wahrheit, der sie ursprünglich dienten, gilt als schädlich, jedenfalls überholt.
Wie steht es da mit der Kirchenliedkritik, sofern sie nicht von außen, sondern von innen kommt, also den eigentlichen Liedgebrauch, das Singen des Glaubens, begleitete? Ein extremes Beispiel liegt in einer Liedpredigt vor, die Klaus Eulenberger über Paul Gerhardts „Die güldne Sonne“ gehalten und veröffentlicht hat.[4] Dieses Lied steht ihm als Beispiel für alle anderen aus Vergangenheit und Gegenwart, die gegen den offensichtlich schrecklichen Weltlauf, gegen Dreißigjährigen Krieg und Auschwitz, an der Rede vom allmächtigen und gütigen Gott festhalten. Die Aversion gegen einen als Beschwichtigung und Verschleierung wirkenden Glauben treibt den Autor in groteske Fehlexegesen des Textes und zur Wiederauflage plattester Vorurteile gegen die lutherische Orthodoxie. Seine Predigt hat keine Botschaft. Sie will des Predigers Verlegenheit darüber weitergeben, daß es so wenige Lieder gibt, „die mit dem Inhalt und der Sprache gegenwärtigen Glaubens vereinbar sind oder ihm doch wenigstens nicht widersprechen“. Also: Der approbierte Liedbestand der Kirche hat sich vor dem Forum gegenwärtigen Glaubens zu rechtfertigen, nicht umgekehrt. Das Ergebnis für „Die güldne Sonne“ lautet: „Dieses Lied kann und darf nicht mehr gesungen werden.“ „Wenn die Lieder der Christen zuviel wissen … dann taugen sie nichts und sind nicht zu gebrauchen.“ „Der allmächtige Gott ist tot, und er mag es bleiben in Ewigkeit.“
Bleibt nur noch anzumerken, daß der Verzicht auf theologische Interpretation unseres Liedes auch den Verzicht auf eine musikalische und poetische Annäherung einschließt. Der Autor nimmt Abschied ohne Trauer. Er verliert nichts. Er verliert also auch kein heute noch anrührendes barockes Kunstwerk. Das unterscheidet ihn von dem ehemaligen Christen Tilmann Moser, dessen tiefenpsychologisch begründete Abrechnung mit den Liedern seiner Kinder- und Jugendfrömmigkeit, mit dem Medium seiner „Gottesvergiftung“, zwar noch radikaler, aber doch menschlich größer ist.[5] Noch im emphatisch Gott gegenüber erklärten Unglauben weiß er etwas von der „Macht deiner Lieder“[6] und daß der Gewinn der neuen Freiheit mit der Hinnahme von Verlusten zu bezahlen war.
II.
Nun einige Erläuterungen, die der deutlicheren Auffassung unseres Gegenstandes dienlich sind. Zunächst: Wenn es den Glauben als gesungenen und als singenden gibt — was ist „singen“? Singen ist eine dem kulturellen Wandel unterworfene Intensivform des Sagens, in der der Sagende vermittels seiner Stimme sich selbst zum Instrument für worthaft gelautetes und melodisch bewegtes Klingen hergibt, so daß er, in der Sprache verbleibend, über das Sprechen hinauskommt. Die in dieser Definition angebotene Formulierung „vermittels seiner Stimme sich selbst zum Instrument hergeben“ legt Wert auf die Anwesenheit der Ganzperson in der Stimme. Therapeuten und Pädagogen, die mit ihren Partnern stimmlich arbeiten, wissen über diesen Zusammenhang viel zu sagen. Singend geben wir uns selbst und eben nicht nur unseren Kehlkopf zum Instrument her für etwas, was in Erwartung unseres Einstimmens durch uns hindurchgehen möchte. Die heute so hoch gewordene Peinlichkeitsschwelle beim gemeinsamen Gesang zeigt an, daß Singen es mit Verbundenheit zu tun hat, ja deren Band bejaht. Nicht mitzusingen ist nicht nur in Ungeübtheit begründet. Bezeichnender ist, daß die somatische Zurückhaltung einer reservatio mentalis Ausdruck gibt und eben dadurch die Tendenz des Singens auf Verbundenheit bestätigt. Andererseits — und das ist für das Singen in der Gemeinde wichtig — kommen wir singend zwar über das Sprechen hinaus, verbleiben aber in der Sprache und also dort, wo das Urteilsvermögen nicht dispensiert ist, sondern in Bereitschaft bleibt (vgl. 1.Kor 14,7-9.18f.).[7]
Nicht alles, was sich singen läßt, ist ein Lied. Lied nennen wir eine kleinere, aber in sich selbständige sangliche Einheit aus meist strophisch gegliederten Wort-Ton-Folgen. Sie lädt durch ihre textlich-musikalische Eigenart zur Aneignung und Wiederholung ein und ist darin in besonders hohem Maße überlieferungsfähig. Was nicht bei einer nächsten Gelegenheit und auch an anderem Ort wiederholt werden kann, was also unverpflanzbar einmalig ist, gilt in der Regel nicht als Lied. Die strophische Gliederung vorausgesetzt, spielt Wiederholung aber auch noch in anderem Sinn eine Rolle: Die gleiche, die wiederholte Melodie trägt auch die nächste und die weiteren Textstrophen. Das Neue immer gleich gefaßt (so vom Text aus gesehen), das Gleiche immer neu gefüllt (so von der Melodie aus gesehen) — diese Spannung von Varianz und Konstanz, erhöht durch die Vorgänge des Wiedererkennens und Neuentdeckens in geänderten Situationen, macht den Reiz des Strophenliedes aus. Damit hängt auch seine Eignung zusammen, im Rahmen gleichbleibender oder vergleichbarer Lebensformen mündlich überliefert zu werden.
Von „singen“ und „Lied“ noch kurz zu „Kirchengesang“ und „Kirchenlied“. Zum Kirchengesang gehört jegliches Singen, das im christlichen Gottesdienst Platz findet, gleich ob es von allen, vom Liturgen, vom Vorsänger, vom Chor oder von Solisten übernommen wird. Kirchenlied [8] i.e.S. meint innerhalb des Kirchengesangs die sprachlich und stilistisch im Mittelalter verwurzelte Form[9] des metrisch und strophisch meist regelhaft gestalteten volkssprachlichen Liedgesangs, dessen liturgisches Subjekt in erster Hinsicht die versammelte Gemeinde als ganze ist. Wie aber das Kirchenlied über die gottesdienstliche Versammlung hinausdrängt (Gemeindegruppen, Singkreise, Familien, Konzertsaal, Medien), so drängt das sog. geistliche Lied längst in den Gottesdienst hinein und gehört insofern zum Kirchenlied i.w.S.[10]
III.
In diesem Abschnitt geht es um „singen“ als Kirchenliedtopos. Heutige Hilfen zu Deutung und Praxis des Kirchenliedes sollten sich nicht über die ihm seit je immanente Selbstdeutung hinwegsetzen. Das Kirchenlied selbst macht typische Aussagen über Richtung, Art und Quelle des geistlichen Singens. Es handelt sich dabei um einen Liedtopos, dessen Tradition letztlich in den Psalmen wurzelt und der immer neu variiert wird.[11] Im folgenden einige Züge.
1. Bezeichnend ist die ständige Aufforderung zum Singen. Aber sie geschieht in der 2. Person des Singulars fast nur als Selbstaufforderung: „Du meine Seele, singe“ (EKG 197,1).[12] Sonst wird eine Mehrzahl aufgefordert: „Ermuntert euch und singt mit Schall“ (231,2), wobei gerade dieses Beispiel auch zeigt, daß die Selbstaufforderung impliziert bleibt („Ermuntert euch^. Das bedeutet zweierlei: a) Geistliches Singen ist Sache freier Entschließung und Teilnahme, es kann nicht angeordnet werden (Ps 137,3 steht für die Unmöglichkeit befohlenen Singens). Darum die ständige Selbstaufforderung, b) Geistliches Singen führt in eine Gemeinschaft, deren Eigenart es nicht zuläßt, das Singen einfach ins Belieben zu stellen. Darum die Aufforderung an alle oder an bestimmte andere. Auf beides kommt es an, auf das innere (a) und das äußere (b) Dabeisein.
2. Geistliches Singen geschieht für Gott und vor den Menschen. In beiden Richtungen prägt es seinen Inhalt aus, in der einen als acclamatio bzw. adoratio, in der anderen als proclamatio: „Ich singe dir mit Herz und Mund, / Herr, meines Herzens Lust; / ich sing und mach auf Erden kund, / was mir von dir bewußt“ (230,1). Wenn Paul Gerhardt das letzte Wort der zitierten Strophe „bewußt“ am Beginn der nächsten weiterführt mit „Ich weiß, daß du …“, so wird unüberhörbar, daß die huldigende Prädizierung ebenso wie die bekennende Bezeugung Gottes das helle Bewußtsein in Dienst nimmt. Verinnerlichung („mit Herz und Mund“) und Überschwang („meines Herzens Lust“) bedeuten nicht Unvernünftigkeit.
3. Geistliches Singen ist ein freudiges Tun und soll es je neu werden. „Nun freut euch, lieben Christen gmein, / und laßt uns fröhlich springen, / daß wir getrost und all in ein / mit Lust und Liebe singen …“ (239,1). Dafür lassen sich leicht weitere Belege in großer Zahl beibringen.
4. Zu den vielfältigen Aussagen über das Wie des Singens vor Gott und den Menschen (vgl. noch einmal die eben zitierte Luther-Strophe) gehören auch solche, die den geistlichen Gesang einer Ästhetik des Gotteslobes unterstellen: „… wohlauf und singe schön“ (197,1). Oder: „Ach könnt ich dich nur besser ehren, / welch edles Loblied stimmt ich an“ (276,11). Im gleichen Lied („Geht hin, ihr gläubigen Gedanken“) heißt es in der Schlußstrophe: „Doch nur Geduld, es kommt die Stunde, / da mein durch dich erhöhter Geist / im höhern Chor mit frohem Munde / dich, schönste Liebe, schöner preist“ (276,12).
5. Zum rechten geistlichen Gesang muß Gott selbst uns helfen: „Dir will ich meine Lieder bringen; / ach gib mir deines Geistes Kraft dazu, / daß ich es tu im Namen Jesu Christ, / so wie es dir durch ihn gefällig ist“ (237,1). Oder in der Schlußstrophe eines Liedes von Fred Pratt Green (geb. 1903) über das Singen und Musizieren in der Kirche: „Let every Instrument be tuned for praise! / Let all rejoice who have a voice to raise! / And may God give us faith to sing always: / Alleluja.“[13]
6. Geistliches Singen hat teil an der allgemeinen Erfahrung der lösenden Wirkung des Gesangs. Die Singenden nehmen sie als Gabe an: „Man kann den Kummer sich / vom Herzen singen. / Nur Jesus freuet mich. / Dort wird es klingen“ (304,4). Oder sie bitten darum: „… auf daß erklinge diese Weis / zu Gutem uns und dir zum Preis“ (337,8). Noch deutlicher und manchem vielleicht befremdlich der Niederländer A. Wapenaar (1883-1967) gleich am Anfang eines Liedes: „Geef mij, Herr, mij los te zingen / van de wereld en haar strijd“.[14] Das Singen bedeutet auch für die Singenden etwas: sanatio. Es ist ein Weg zur eigenen Genesung. Hier hat es seine dritte Sinnrichtung.[15]
7. Das Kirchenlied ist ein Glaubenslied: „O du meine Seele, / singe fröhlich, singe, / singe deine Glaubenslieder“ (235,3). Glaube ist dabei zu verstehen als Inhalt (fides quae canitur) und als Antrieb (fides qua canitur). Singen, „was Gott an uns gewendet hat und seine süße Wundertat“ (239,1), heißt ein Lied-Credo vernehmen lassen. Der Glaube als Inhalt kann aber singend nicht recht geltend gemacht werden ohne den Glauben des Herzens und dessen Gebärde: „O gläubig Herz, gebenedei / und gib Lob deinem Herren“ (226,1).
8. Diese Unterscheidung von gesungenem und singendem Glauben hebt sich aber auf, wo Gott selbst wie als Inhalt so auch als Quelle des Singens bekannt wird. „Gott ist mein Lied!“ Die so beginnende Strophe Gellerts haftet am Psalm des Mose nach dem Durchzug durch das Schilfmeer (Ex 15,1: zimrati jah, laus mea Dominus, vgl. Ps 118,4; Jes 12,1). Ich singe Ihm, ich singe Ihn, und ich singe durch Ihn! Eine französische Antiphon pointiert so: „Dieu tu es un chant / et tu nous fais chanter“. In diesem Sinne auch die Bitte bei A. Wapenaar im genannten Lied: „Zij mijn zingen: doortocht (!) geven / aan uw overzijdse stem, / onweerstandelijk gedreven / tot de jubel: ’k ben van Hem“.[16]
IV.
Selber zu singen, statt sich nur den Gesang anderer gefallen zu lassen, ist für die meisten Zeitgenossen eine kaum noch einleuchtende Zumutung. Die Gründe für diese Reserve liegen in dem sozialen Wandel, durch den das Volkslied seinen Boden verlor und in die „Volkskunst“ überführt wurde; in der anlaßlosen Überschwemmung auch des Alltags mit Musik; in der akustischen Verwöhnung durch die perfekten Tonaufnahme- und Wiedergabetechniken; in der Lockerung der Verbundenheit mit Gemeinschaften, die ihr Wesen in hergebrachtem und verbindlich anmutendem Ritual darstellen. Singen ist eine Weise, sich selbst herzugeben. Bei innerem Vorbehalt gelingt es nur schlecht.
Wie soll man kirchlich auf dieses Symptom des Traditionsabbruchs reagieren? Gewiß mit eigenständigem Verstehen und mit selbstkritischer Bereitschaft zur Überprüfung hindernden Brauchs. Andererseits: Kein anderes Tun der Gemeinde leistet, was beim Singen der Kirchenlieder geschieht oder geschehen könnte, daß nämlich die Versammelten ihr Schweigen über Gott brechen und dankbar und erwartungsvoll seinen Namen nennen, um dessen Heiligung sie im Vaterunser beten; daß sie alle gemeinsam und doch in thematischer Breite der Freude an Gott sinnenhafte Gestalt geben; daß sie ihr vielfältig unterschiedenes Glauben und Hoffen in Wortgebärden und Wortgestalten einbringen, die sich schon für viele andere Christen vor und neben ihnen durch die Kraft ausrichtender Wahrheit bewährt haben; daß sie damit sich selbst und einander stärken und eine Zusammengehörigkeit erfahren, die ihrer gemeinsamen Zugehörigkeit zu Gott entspricht. Das sind die Gründe, die es nicht geraten sein lassen, den Liedgesang der Gemeinde mehr und mehr ins Belieben zu stellen.
Natürlich wäre beim Verstummen unserer Lieder auch der kulturelle Verlust außerordentlich. Er könnte durch Chöre und durch technische Reproduktion nicht aufgewogen werden. Aber „heilsnotwendig“ ist unser Singen in der dafür überkommenen Form gewiß nicht.[17] Will man also dennoch daran festhalten, so darf man sich nicht scheuen, für ein christliches Sonderverhalten einzutreten.[18] Der Gottesdienst wird auf absehbare Zeit so etwas wie eine Insel sein – übrigens schon des Bibelwortes, der Taufe und des Abendmahls wegen. Problematisch an der Verteilung von Land und Wasser ist aber nicht die Existenz von Inseln überhaupt, sondern, falls gegeben, deren Unerreichbarkeit oder die Unzuträglichkeit ihrer Lebensverhältnisse. Und hier käme es auf unseren Gegenbeweis an angesichts einer Kultur, die ohnehin längst begonnen hat, weniger einer Festlandsmasse als einem Archipel zu gleichen.
Doch verlassen wir das vielleicht doch zu mißverständliche Bild und formulieren Aufgaben. Es darf kein Verantwortlicher auf der Notwendigkeit des Kirchenliedes bestehen, der nicht auch bereit ist, mit seinen eigenen Gaben das Singen zu beleben und das Gesungene zu erschließen, also in beiden Hinsichten glaubensrelevante erfrischende Entdeckungen zu ermöglichen. Für diese Aufgaben gelten zwei Grundsätze: a) Die pastorale und die kantorale Verantwortung sind so weit als jeweils möglich zu verknüpfen. So ist also dem Pastor auch für die musikalische und dem Kantor auch für die textliche Seite ein bestimmtes Maß an Zuständigkeit zuzumuten (und zuvor durch Ausbildung zu vermitteln). Auf dem Felde des Gemeindesingens sollten sie — u.U. bis hin zu gegenseitiger Vertretung — eng Zusammenarbeiten können, b) Die poetisch-musikalische Eigenart eines Kirchenliedes und die in ihm Gestalt gewordene Glaubenserfahrung sollten zusammen ins Spiel gebracht werden. Die Brücke zwischen Liedkultur und Liedfrömmigkeit will in beiden Richtungen begangen werden.
Die Amerikaner Eskew und McElrath besprechen im praktischen Teil ihrer Hymnologie[19] die Bedeutung des Liedes für die Evangelisation (proclamation), für den Gottesdienst (worship), für Lehre und Unterricht einschließlich der Kinder- und Jugendarbeit (education) und für den sozialen Dienst (ministry). Das Schema spiegelt freikirchliche Tradition wider. Aber auch unabhängig davon gilt: Für den Dienst des Kirchenliedes, die Erschließung des Liedverständnisses und die Beseelung des Liedgesangs gibt es zahlreiche Gelegenheiten. Einige sind mehr beiläufig zu nutzen. Andere verbinden sich mit Schwerpunktvorhaben, die ihre eigene Geschichte haben (Liedpredigt und Liedkatechese, Gemeindesingstunde, offenes Singen bei Gemeinde- und Kirchentagen, „Hymn Festivals“). Im folgenden nur einige Überlegungen zu den Liedern im Gottesdienst und im Leben des einzelnen.
V.
Der Gottesdienst war der „Sitz im Leben“ des Kirchenliedes und ist noch heute die Probe auf seine Qualität. Das Lied gilt im Protestantismus und inzwischen auch im Katholizismus als eine der Grundformen, in denen die ganze versammelte Gemeinde gottesdienstlich handelt. Dennoch kann ein Gottesdienst mit Liedern übersättigt sein. „Die Zukunft unseres Kirchengesanges liegt im sparsamen Gebrauch des Kirchenliedes.“[20]
Hintergrund dieser These ist gerade die Hochschätzung des Liedes. Aber es will im Bewußtsein seiner liturgischen Funktion eingesetzt werden, und es sollte auch den nicht-liedmäßigen Gesängen Raum lassen.[21] Unbedachte oder nicht durchschaubare Liedauswahl wirkt sich gegen den Liedgesang aus. Wie die Gelegenheit noch heute ihr Lied braucht – zahlreiche Kirchenlieder verdanken ihre Entstehung einer einmaligen Situation -, so braucht auch das Lied seine Gelegenheit. Die Gemeinde sollte erleben können, daß es gerade in diesem Gottesdienst und gerade an dieser Stelle zeigt, was in ihm ist oder aus ihm werden kann. Diese Selbstevidenz des Liedes wird zusätzlich instrumental durch Präludium oder Intonation, sprecherisch durch (gelegentliche) Moderation unterstützt. Dabei wirkt die Neubegegnung mit Vertrautem oft stärker als die Erstbegegnung mit Neuem.
Dennoch können neue Lieder auch im Gottesdienst selbst oder unmittelbar davor eingeführt werden. Unerläßlich dafür ist, daß man sich auf die Methode vorbereitet hat und die jeweilige Versammlungssituation einfühlend aufzunehmen und weiterzuführen weiß.[22] Zur Liedeinführung kann auch das überlegt eingesetzte Lesen gehören: „If a hymn ist worth singing, it is probably worth reading, and hearing read.“[23] Über den orgelbegleiteten einstimmigen Gesang hinaus bieten sich offene Singformen an und leisten Überraschendes.[24] Das Predigtlied[25] hat insofern eine Sonderstellung, als seine Situation durch die freie Wortverkündigung des Gottesdienstes insgesamt geschaffen wird. Zudem kann in den letzten Sätzen der Predigt auch ausdrücklich darauf hingeführt werden.
Ihre größte Kraft zeigen Kirchenlieder heute vielleicht dort, wo sie von sonst getrennten Christen gesungen werden. Die Bemühungen um gemeinsame Liedfassungen und Gesangbücher[26] dauern an. Der singende Glaube hat sich noch nie auf die konfessionsspezifische Lehrentwicklung festlegen lassen. Und im gesungenen Glauben kommt Gemeinsames zum Vorschein, das darauf wartet, im Bewußtsein der getrennten Christen weiter wirksam werden zu können.
Was können Lieder im Leben des einzelnen bedeuten? Die Kirchenlieddichtung ist voll von Sprachgestalten mit überführender und bestätigender, erleuchtender und belehrender, tröstender und weisender Kraft. Der Unausschöpflichkeit vieler Melodien, auch ganz kurzer, entspricht die Tragfähigkeit von Bekenntnis-, Gebets- und Hoffnungsworten des Glaubens, die die Form eines Liedanfangs, eines Verses oder einer Strophe gefunden haben.
Die Vorliebe des 17. Jahrhunderts für die Emblematik beförderte den Brauch, daß Lebenslosungen hochgestellter Persönlichkeiten zu Kirchenliedern weitergeschrieben wurden.[27] So hängt der anonyme Text des Berliner Liedes „Jesus, meine Zuversicht“ mit der Kurfürstin Luise Henriette von Oranien zusammen, die denn auch lange Zeit als die Verfasserin galt. Umgekehrt haben ungezählte Christen der Vergangenheit ihren geistlichen Leitspruch aus den Liedern des Gesangbuchs gewählt und ihre Lebenserfahrung von dorther befragt und gedeutet.
Im Orgelchoral wirken für den Kenner die Worte mit, auch wenn niemand sie singt. So im gelesenen oder erinnerten Lied die Töne, auch wenn sie nicht erklingen. Und selbst wer mit den Melodien gar nicht vertraut ist, kann Umgang mit Liedern haben. Sie sind auch geistliche Gedichte, und einige von ihnen stellen Literaturdenkmale von unverlierbarem Wert dar. Nicht zufällig hat es bei der Erarbeitung des norwegischen Gesangbuchs von 1985 und des schwedischen Gesangbuchs von 1986 jeweils auch eine Abteilung mit „Leseliedern“ gegeben. Bei der Beschlußfassung sind sie allerdings in beiden Kirchen fallengelassen worden. Bevor Kleppers Texte und Bonhoeffers „Von guten Mächten“ gesungen wurden, sind sie von vielen immer wieder gelesen worden. Dichtung solcher Art verschafft sich Widerhall in den einzelnen, die sich durch sie rufen und rühren lassen. Wer Menschen zur Empfänglichkeit für geprägtes Wort hilft, bahnt ihnen Wege zu Lebensquellen.
Die Segensgeschichte von Kirchenliedern ist unabsehbar. Daß sie sich auch in Legenden und erbaulichen Anekdoten kundgibt, spricht nicht gegen sie, sondern ist bestätigendes Symptom. Offen bleibt aber, ob und wie sie sich zur Jahrhundertwende hin fortsetzen vermag. Seelsorge durch Kirchenlieder, besonders bei Kranken und Sterbenden, konnte vormals mit der Wirkung rechnen, die von der Wiederbegegnung mit Vertrautem ausgeht. Wo es diese Voraussetzung nicht mehr gibt, stehen die Gesangbuchtexte – ebenso wie die Bibelsprüche! — vor einer neuen Bewährungsprobe. Zugleich nimmt allerdings auch die Gefahr regressiver Verführung ab.
In frühen Jahrhunderten evangelischen Christentums waren Katechismus und Gesangbuch den Laien oft viel vertrauter als die Bibel selbst. Dieses Verhältnis ist längst überholt. Der Pluralismus der neuen Bibelübersetzungen und -paraphrasen hat die Rolle der Bibel für das Sprachefinden des Glaubens zwar literarisch stark unterstrichen, aber praktisch doch wohl auch behindert. Jedenfalls brauchen wir auch im Ausgang des zweiten christlichen Jahrtausends neben den biblischen Texten Sprachprägungen gleichsam zweiter Ordnung – nicht nur um des gemeinsamen Gottesdienstes willen, sondern auch wegen der Glaubensvergewisserung der einzelnen und wegen ihres persönlichen Sprechens zu Gott und von Gott. Insofern schaut ebenso wie der Gottesdienst auch die Seelsorge nach gegenwärtiger geistlicher Lieddichtung aus, die noch vom Reichtum ihrer Gattung weiß, die gleichwohl zur Armut des Zeitalters steht und die es zwischen dieser Armut und jenem Reichtum auf das Doppelkriterium ankommen läßt, das bei Paulus, freilich in anderem Zusammenhang, „Lauterkeit und Wahrheit“ heißt.[28]
Die Hymnologie ist die Wissenschaft vom Kirchengesang und von den Kirchengesängen. Zum Arbeitsfeld hat sie den einstigen und heutigen Bestand sowie die einstige und heutige Praxis kirchlichen Singens. Forschen auf diesem Feld kann sie nicht ohne die Mitarbeit verschiedenster nicht-theologischer Disziplinen. Das ist immer wieder dargestellt worden.[29] Die Ausfächerung und Spezialisierung dieser Forschungen stellt längst die Einheit des Faches in Frage. Das aufzuweisen wäre die Aufgabe einer anderen Vorlesung.
Inwiefern ist die Hymnologie dennoch ein genuin theologisches Fach? Für ihren Gegenstand ist ja doch das gleichsam Gemischte kennzeichnend, das Bei- und Ineinander von seelisch-geistigen und somatischen Vollzügen, von Lehre und Frömmigkeit, von christlicher Aussage und künstlerischer Verwirklichung, von Literatur und Musik, von Kult und Kultur. Theologische Verantwortung hat es nun aber nicht nur mit einzelnen Elementen oder Aspekten einer solchen Aufzählung zu tun, sondern mit der gemischten Gesamterscheinung — und zwar unter der Frage, ob das, was damit zur Wirkung kommt, „dem Glauben gemäß“ sei (vgl. Röm 12,7). In Gottes irdischer Welt singt die vom Geist geschaffene Gemeinde Jesu Christi, weil sie glaubt und was sie glaubt. Dieser Satz ist keine empirische Feststellung, sondern Ausdruck des Dankes, der Hoffnung und der Selbstprüfung. Sofern die Hymnologie ihre Aufgabe auf diesen Horizont bezieht, ist sie theologische Wissenschaft.
Quelle: Jürgen Seim/Lothar Steiger (Hrsg.), Lobet Gott. Beiträge zur theologischen Ästhetik. Festschrift Rudolf Bohren zum 70. Geburtstag, Zürich: TVZ, 1990, S. 124-134.
[1] Ich grüße Rudolf Bohren mit dem Text meiner Probevorlesung, gehalten am 17.12.1988 im Rahmen der (sehr verspäteten) kirchlichen „Prüfung, die die Befähigung zu theologisch-wissenschaftlicher Lehrtätigkeit nachweist“. Die Teile II—VI sind eine Erweiterung der allzu knappen Abschnitte 1-4 und 6 des damals als Manuskript abgeschlossenen Artikels „Kirchenlied III“, geschrieben für die „Theologische Realenzyklopädie“.
[2] H.-J. Rother, Auszüge aus dem evangelischen Kirchengesangbuch, NDL 31 (1983), H. 11,76-80.
[3] Text und Kommentar jetzt in: Bertolt Brecht Werke 11, Berlin und Weimar – Frankfurt/M. 1988, 216-224.378-379.
[4] In: Aus dem Gesangbuch gepredigt, hg. von H. Nitschke, Gütersloh 1981, 110-116.
[5] T. Moser, Gottesvergiftung, st 533, 1980.
[6] Ebd., 51-98.
[7] Zur anthropologischen und theologischen Deutung ausführlich Ph. Harnoncourt, „So sie’s nicht singen, so gleuben sie’s nicht“. Singen im Gottesdienst – Ausdruck des Glaubens oder liturgische Zumutung?, in: Liturgie und Dichtung II, hg. von H. Becker und R. Kaczynski, St. Ottilien 1983, 139-172.
[8] Umfassend dazu W. Blankenburg, Der gottesdienstliche Liedgesang der Gemeinde, Leit. 4, Kassel 1961, 559-660.
[9] Vgl. W. I. Sauer-Geppert, Sprache und Frömmigkeit im deutschen Kirchenlied, Kassel 1984.
[10] Zur Erweiterung des Kirchenliedbegriffs vgl. K. Chr. Thust, Das Kirchen-Lied der Gegenwart, Göttingen 1976, 650-654.
[11] Zu der in diesem Abschnitt verfolgten Fragestellung hat mich die Lektüre eines bisher ungedruckten Paul-Gerhardt-Manuskriptes von Chr. Bunners angeregt.
[12] Eine Ausnahme bildet EKG 298,7: „Sing, bet und geh auf Gottes Wegen“ (G. Neumark).
[13] The Hymns and Ballads of Fred Pratt Green, Carol Stream, Illinois und London 1982, Nr. 39 (When, in our music, God is glorified).
[14] Liedboek voor de kerken, Nr. 475,1. Deutsch: Gib mir, Herr, mich loszusingen von der Welt und ihrem Streit.
[15] Luther greift wie viele Autoren vor und neben ihm auf das Saitenspiel Davids vor dem schwermütigen Saul zurück, um die Musik als Gottesgabe für das seelische Wohl und das rechte Handeln des Menschen herauszustellen, so etwa in seiner gereimten Vorrede auf alle guten Gesangbücher „Fraw Musica“ (WA 35, 483f.). Vgl. jetzt auch Rudolf Bohrens Tersteegen-Interpretation „Singen gegen die Schwermut“, in: Festschrift für Frieder Schulz, hg. von H. Riehm, Heidelberg 1988, 239—248.
[16] Deutsch: (Es) sei mein Singen: Durchzug gewähren deiner jenseitigen Stimme, unwiderstehlich getrieben zu dem Jubel: Ich bin von (aus) Ihm.
[17] Vgl. F. Buchholz, Liturgie und Gemeinde (ThB 45), München 1971,123f.
[18] Vgl. G. Aeschbacher, Was ist ein gutes Kirchenlied? MGD 36 (1982), 93- 105. „Gottesdienstliches Singen der Gemeinde bedarf … einer doppelten Legitimation. Es muß als abweichendes Verhalten formal von der Struktur des Gottesdienstes her gesehen unmittelbar einleuchtend sein, soll es seine kulturelle Gegenläufigkeit durchstehen können. Weiter muß es seine Berechtigung durch seinen Eigenwert immer neu unter Beweis stellen.“ (97).
[19] H. Eskew/H. T. McElrath, Sing With Understanding. An Introduction to Christian Hymnology, Nashville, Tennessee 1980.
[20] M. Jenny, Die Zukunft des evangelischen Kirchengesanges, Zürich 1970, 22.
[21] Ebd., 23-25.
[22] A. Stier, Kirchliches Singen, Berlin 1953; ders., die Arbeit am Kirchenlied mit der Gemeinde, HEKG III/l, Berlin 1970, 89-104; R. Schweizer, Zur Methodik des Gemeindesingens, in: Neues Singen in der Kirche 1 (1986), H. 2, 13-15.
[23] B. Wren, Praising a Mystery, Carol Stream, Illinois, o.J. (1986).
[24] Vgl. außer R. Schweizer (s. Anm. 22) H. Gadsch, Umgang mit dem Kirchenlied, Berlin 1978; H. R. Simoneit, Offenes Gemeindesingen, Gütersloh 1976.
[25] Zum Grundproblem vgl. R. Bohren, Predigt und Kirchenlied — akute Diskrepanz, in: ders., Geist und Gericht, Neukirchen-Vluyn 1979, 75-88.
[26] M. Jenny, „Vocibus unitis“, in: Liturgie und Dichtung II (s. Anm. 7), 173- 205.
[27] Frühe Beispiele der Lieddichtung von fürstlichen Personen oder für sie nach ihren Leitsprüchen in der Schlußabteilung von Auserlesene Psalmen vnd Geistliche Lieder / D. Mart. Ltth. Auch Anderer gottseliger Lherer vnd Menner / Für den Reysenden Man Barth in Pommern 1592.
[28] 1.Kor 5,8. Zu ειλικρίνεια vgl. vor allem 2.Kor 2,17.
[29] Zuletzt im TRE-Artikel „Hymnologie“ von M. Jenny (Bd. 15, 1986).