Hanns Liljes schwülstige Kriegstheologie „Der Weg der Kirche Jesu Christi im Kriege“ (1939): „Wenn je, dann ist heute eine Stunde großer Verantwortung für unsere Kirche da. Lasst uns in aller Treue darum ringen, diese Aufgabe, die uns bis zum letzten Blutstropfen heute erfüllen kann, um unseres Volkes, um des Führers und seiner Räte, um des Heeres zu Wasser, zu Lande und in der Luft willen mit Vollmacht und Kraft zu tun. ‚Sei getrost, spricht der Herr, und lass uns stark sein für unser Volk und für die Städte unseres Gottes. Der Herr aber tue, was ihm gefällt!'“

Nicht erst mit der 1941 veröffentlichten Schrift „Der Krieg als geistige Leistung“ hatte Hanns Lilje (1899-1977), der spätere Landesbischof der hannoverschen Landeskirche, eine höchst fragwürdige Kriegstheologie vertreten. Hier Liljes Vortrag vom Ewigkeitssonntag 1939:

Der Weg der Kirche Jesu Christi im Kriege

Von Hanns Lilje

Römer 14, 8: „Unser keiner lebt ihm selber, und unser keiner stirbt ihm selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum, wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn.

Liebe Brüder und Schwestern!

Wenn wir in dieser stillen, dem Abend sich zuneigenden Stunde über den Weg der Kirche Jesu Christi im Kriege nachdenken, dann möchte doch eine schwere Gefahr von dieser Stunde ferngehalten sein: die Gefahr, daß nur Worte gemacht werden und nur Geschwätz übrig bleibt. Die Frage, um die es uns heute Nachmittag geht, verträgt nichts so wenig wie das bloße Geschwätz. Wenn Krieg ist, wenn ein Volk zu den Waffen greift, wenn die Männer das tun, was zum Edelsten im Mannestum seit uralten Zeiten gehört hat – und kämpfen, dann wird man gegen die Worte mißtrauisch. Ich darf hier vielleicht eine persönliche Erinnerung aussprechen. Die einzige Zeit in meinem eigenen Werden, wo ich nicht daran gedacht habe, Pastor zu werden, war die Zeit im Kriege. Ich habe, als ich draußen war, das Gefühl gehabt: man muß etwas tun und nicht bloß reden. Stehen wir auch heute vor dieser Frage? Hat die Kirche nur etwas zu reden und muß im übrigen beiseite stehen in der großen Entscheidungsstunde unseres Volkes, wo nur die Tat gilt? Es ist gut, wenn wir diese Sorge kennen; aber es ist nicht gut, wenn wir dieser Sorge nachgeben. Denn wenn die Kirche im Kriege nichts zu sagen und zu reden weiß, dann hat sie auch im Frieden kein Recht zu reden. Wenn die Kirche Jesu Christi jetzt verstummen müßte, dann wäre es auch eine Unverschämtheit, wenn sie in friedlichen Zeiten zum Volke reden wollte. Es ist auch nicht so, als ob nun ein Augenblick über uns hereingebrochen wäre, wo etwas völlig anderes geschehen müßte, als was die Kirche sonst tut. Man kann sogar so sagen: Wahrscheinlich ist der Krieg überhaupt nichts Neues, sondern nur eine große weltgeschichtliche Prüfungsstunde. Immer wenn Krieg ist, wird aufgedeckt, welches die Fundamente sind, auf denen wir leben. Und das gilt für den Einzelnen, für das Volk, für die Kirche. Ich denke an eine solche edle Gestalt des letzten Krieges wie Walter Flex. Ich kann es aus meinem eigenen Werdegang gar nicht tilgen, was für einen Eindruck es auf mich gemacht hat, mit welcher Behutsamkeit, Treue, bohrenden Sorgfalt hier ein deutscher Offizier des Weltkrieges den letzten Fragen standzuhalten versucht hat, die der Krieg einem Mannesleben aufgibt. Was für eine Kraft, solcher Prüfung standzuhalten! Und was für ein läppisches Beginnen, wenn man solch einer Prüfung ausbiegt! „Laß mich vom Brot des Todes nicht feige und unwürdig essen“, betete er in einem seiner unvergeßlichen Gedichte, „laß mich vom Brot des Todes nicht feige und unwürdig essen, laß, wenn die Stunde der Bewährung kommt, mich nicht leben müssen von dem Niedrigen, sondern leben dürfen von dem Großen, das du, Gott, der Herr des Lebens, schenkst.“ Genau so ist es mit der Gemeinde. Es ist schon eine ganz entscheidende Frage, ob wir die Kraft besitzen, in einer Stunde der Prüfung den Fragen standzuhalten, die an uns gerichtet sind. Denn darüber tauscht sich ja niemand unter uns, der sein Volk mit einem heißen Herzen liebt, daß die Probe auf das, was unser Volk geistig leisten kann, noch immer mehr kommt und noch immer mehr zunehmen wird. Je länger die Tage und Wochen des Krieges sich hinspinnen, umso ernster wird die Frage, aus welchen Kraftquellen wir leben wollen. Und indem wir die Frage erheben, die diesen Nachmittag bestimmt, tun wir einen ganz entscheidenden Dienst an unserem Volke, bezeugen wir, daß wir mit dem Besten, das wir haben und wissen, diesem Volke dienen wollen; beweisen wir, was uns selbstverständlich ist, daß wir die große Schicksalsgemeinschaft, die heute alle Deutschen miteinander bilden, so ernst verstehen, wie wir es nur eben können. Und darum entfalte ich die Frage dieses Nachmittags in drei Gedankenkreisen.

I.

Wir denken einen Augenblick zuerst nach über die geistige und geistliche Lage, die der Krieg schafft. Einer der großen Geschichtsphilosophen der neuen Zeit hat gesagt, daß wir nach seiner Meinung einem „Zeitalter der großen Kriege“ entgegengingen. Wie das auch sein mag, jedenfalls haben die meisten unter uns Gelegenheit gehabt, jetzt schon zum zweiten Male mit einer Generation zu erfahren, was Krieg ist. So wie wir damals hier auf dem Möhringsberg verladen sind und gen Westen rollten, so sind heute wieder junge Menschen aus dieser unserer Stadt und unserem Lande nach Osten und Westen gezogen. Und wir stehen zum zweiten Male vor der Frage, wie unser Volk das aufnehmen will. Ein Unterschied ist unverkennbar. Damals kam der Krieg über ein Volk, das innerlich völlig unvorbereitet auf den Krieg war. Wir lebten in tiefem Frieden und dachten nicht an den Krieg. Wir wußten auch nichts vom Kriege. Heute leben wir in einem Volke, das weiß, was Krieg bedeutet. Obwohl wir alle bis zum letzten den Frieden geliebt und gewollt haben, täuschen wir uns doch nicht darüber, was es heißt, daß nun wieder Krieg ist. Und daraus stammt das, was manchmal ausländische Beurteiler falsch verstanden haben: Diese erstaunliche Ruhe im Volk, der Ernst, die Sammlung, die Konzentration.

Die geistige Lage des Krieges wirkt verschieden auf den Mann draußen und auf die, die darinnen geblieben sind.

Zunächst auf den Mann da draußen. Jeder, der im Kriege gewesen ist, weiß, daß das Fronterlebnis eine der eigentümlichsten und einzigartigsten Erfahrungen war, die man überhaupt machen konnte. Nicht umsonst hat Walter Flex das Erlebnis mit der Wendung beschrieben vom „Wanderer zwischen beiden Welten“. Die alte Welt bürgerlicher Ordnung versank immer mehr und mehr hinter uns, irgendwo vor uns im Dunkel der Zukunft schien eine neue Ordnung der Dinge aufzutauchen. Und keiner, der das nicht einmal erlebt, weiß, wie es ihn beeinflußt hat, daß er allmählich immer mehr und mehr die Fäden löste, die ihn mit der Vergangenheit und mit dem bürgerlichen Leben zu Hause verbanden. Wenn wir heute Feldberichte lesen oder hören, dann taucht vor uns jene Welt wieder auf: Die Nacht, hie und da eine Leuchtkugel, irgendwo am anderen Geländeabschnitt das Mündungsfeuer feuernder Batterien, der Stacheldraht und die Sandaufschüttung oben am Grabenrand, diese unwiederholbare Atmosphäre des Feldes, vor der die bisherige Welt geistig völlig versank. Und ich sage noch einmal: Das war eine Situation der Bewährung, wie sie einem Mannesleben ganz selten zuteil wird. „Im Felde, da ist der Mann noch was wert“; jawohl, da kam heraus, wer er ist, wovon man leben will, wer sich bewähren kann.

Dasselbe gilt für ein Volk im ganzen, diese auf die ganze Breite des Volkes ausgedehnte weltgeschichtliche Bewährung. Und diese Bewährung hatte ja ein Kennzeichen: Die ständige Nähe zum Tode. Uns trennte nur eine Handbreit vom Tode. Jeden Tag, jede Stunde. Der, der neben dir stand, konnte, durch einen verirrten Splitter getroffen, im nächsten Augenblick nicht mehr neben dir stehen. Diese unvergeßliche Tatsache bedeutete: Wir erfuhren Dinge, die Geheimnisse des Lebens, die man sonst nie erfährt; es sei denn, daß man einmal ganz an den Rand seiner Existenz treten muß. Das weiß vielleicht noch jemand, der wider alle Vorhersage der Ärzte nach einer schweren Operation doch noch wieder ins Leben zurückgekehrt ist. Das weiß vielleicht jemand, der nach einem unheimlichen Sturm auf dem Meer doch wieder einen Morgen erlebt, wo die Sonne scheint und die Wogen glatt sind und das Leben wieder beginnt. Mit dieser merkwürdigen Todeserfahrung des Feldes ist, was jeder von uns weiß, auch viel Unsinn getrieben. Manche haben sie glorifiziert, ohne ein Recht dazu zu haben. Daß man in der Nähe des Todes lebt, hat allein noch keine läuternde Kraft. Das ist etwas von dem Merkwürdigsten. Auch die ständige Todesnähe deckt nur auf, ob ein Mensch im Grunde seines Herzens oberflächlich ist, oder ob er aus ewigen Fundamenten gegründet ist.

Und doch, obwohl wir wissen, an wie vielen diese einzigartige Erfahrung scheinbar völlig vergeblich vorübergegangen ist, wollen wir in dieser Stunde auch an das andere denken; an etwas, das zu dem kostbarsten geistigen Schatz unserer Nation gehört: Wir wollen denken an die vielen, die in der Blüte ihrer Jahre für’s Vaterland gefallen sind. Ein wahrhaftes Ver sacrum, ein heiliger Frühling, eine geheiligte Erinnerung, ein unvergeßliches Erbteil unserer geistigen Geschichte, alle diese liebenswerten Gestalten, die wir nie vergessen, die in der Blüte ihrer jungen Jahre, da, wo sonst das Leben erst anfangen soll, scheinbar alle Tage, die ein Mann zu leben hat, in eine einzige Stunde zusammenfaßten, als sie für das Vaterland ihr Leben hingegeben haben!

Und daneben das Kriegserlebnis der Heimat. Dieser Krieg unterscheidet sich von dem vorhergehenden dadurch, daß er ein totaler Krieg ist, daß wir alle viel unmittelbarer noch als sonst teilnehmen. Und wir spüren das auch. Der moderne Krieg, so sagt man, ist ein Nervenkrieg. Es kommt also darauf an, welches Fundament in ein Volk gelegt ist, auf das es eine solche Probe aushalte. Und damit sind wir mitten in der Frage: Hat die Kirche Jesu Christi eine Aufgabe in der Gegenwart oder hat sie es nicht? Ich möchte heute Nachmittag einen einzigen Gedanken deutlich machen: Der hat nichts verstanden von der Aufgabe der Kirche in dieser Welt, der auch nur für eine Sekunde auf den Gedanken kommen könnte, jetzt hätte die Kirche keine Aufgabe. Und alles, was ich bezeugen will, lautet: Möchte Gott es uns schenken, die entscheidende große Aufgabe der Kirche, die größer ist als in allen Monaten und Jahren zuvor, wirklich mit vom heiligen Geist erleuchteten Augen zu begreifen!

II.

Es gibt, so wie ich zuerst vom Fronterlebnis sprach, eine Frontgemeinde. Laßt uns einmal daran denken, daß all die Männer, die jetzt wieder den grauen Rock der Ehre tragen, auch eine Gemeinde sind. Eine Gemeinde von Männern, nichts als Männern, lauter Männern. Eine Gemeinde, im Grunde genau so, losgelöst von den bisherigen Bindungen der Tradition bürgerlicher Art, wie das beim Frontsoldaten von 1914-1918 der Fall war; eine Gemeinde von Männern, der man daher dringend wünschen muß, daß sie das Wort Jesu Christi erreicht. Und nun muß man ja ganz offen sagen, daß die Feldseelsorge zwar eine ganz einzigartige große Aufgabe hat, aber daß es um sie auch eine schwierige Frage ist. Die Feldseelsorge, darüber muß man sich klar sein, hat auch spürbare äußere Grenzen. In meiner eigenen Feldzeit habe ich auch nicht ein halbes Dutzend Feldgottesdienste mitmachen können. Es gibt da äußere Hemmungen. Die Heeresseelsorge, so offen sie gerade in diesen Monaten ausgenommen ist, erstaunlich offen, reicht doch immer nur bis zu einem gewissen Grade. Oft ist viel ernster und wirksamer die kameradschaftliche Seelsorge untereinander, die nicht mit großen Worten kommt und die sich zuerst bewähren muß im kameradschaftlichen Alltag, im Kriegsalltag, im Heeresalltag, und der dann doch manches Wort vergönnt ist, was vielleicht die offizielle Verkündigung so niemals an den Mann bringen kann. Wie wichtig, daß es unter den Soldaten Jünger Jesu gibt! Wie entscheidend, daß es unter ihnen Menschen gibt, die gelernt haben, aus dem Neuen Testament zu leben; Menschen, die die einfachen, großen Voraussetzungen begriffen haben, aus denen heraus ein Christ lebt: den Hunger nach dem Worte Gottes, das Bewußtsein, daß man ohne Gottes Wort nicht leben kann, daß man weiß zu beten. Es ist im letzten Kriege mehr als einmal vorgekommen, daß über einen Mann mitten in einer ganz akuten Gefahr plötzlich die Erinnerungen an seine eigene religiöse Vergangenheit wie eine Sturmflut hereinbrachen. Heiliges Schweigen überdecke solche Erinnerungen, wenn friedliche Zeiten sind! Aber die Lehre, die sich daraus ergibt, ist eine sehr ernste und klare Lehre, und an ihr liegt mir heute Nachmittag ganz außerordentlich viel: Der Grund für ein Glaubensleben muß nach alter Regel vorher gelegt sein. Es kommt je und dann auch vor, daß draußen ein Mann unter all den Erfahrungen des Feldes dem lebendigen Gott begegnet. Aber die Regel ist es nicht. Die Regel lautet auch hier: Bewährung. Wenn einmal scharf geschossen werden soll mit einem Gewehr oder der Kanone, dann ist es zu spät, die notwendigen Griffe zu lernen. Die müssen vorher im Schlaf festsitzen. Ich frage, ob es im Glaubensleben anders sein kann. Unzählige Männer in Deutschland stehen heute plötzlich vor der Frage, was es eigentlich um ihr Glaubensleben ist. Gepriesen die Mütter, die diese Männer beizeiten beten gelehrt haben! Gesegnet die Lehrer des Evangeliums, die diesen Männern beizeiten den Weg zu Jesus Christus gezeigt haben! Gesegnet die Heimatgemeinde, die darum ihre Aufgaben begreift! Man wird es nicht falsch verstehen, wenn ich sage: wahrscheinlich hat in diesem Kriege die Heimatgemeinde die noch größere Verantwortung als die Frontgemeinde. Und wieder stehen wir vor der Erkenntnis: wie kann man nur denken, heute hätte die Kirche nichts zu tun und nichts zu sagen?!

Die Gemeinde der Daheimgebliebenen muß das vorbereiten und leisten, was der Mensch an der Front braucht. Es ist ja eine Erfahrung des vorigen Krieges, daß die Belastungen, die eine Nation ihren Gliedern auferlegen muß, wenn Krieg ist, schwer zu tragen sind – wenn sie nur äußerer Zwang sind –, und daß sie eigentlich nur getragen werden können, wenn sie freudig und bewußt bejaht und aufgenommen werden. Schon daraus würde sich eine riesige Aufgabe für die Gemeinde Jesu Christi in Deutschland ergeben. Und nun die andere, vorzubereiten und zu leisten, was die an der Front draußen brauchen. Wir senden ihnen je und dann Päckchen als Zeichen unserer Liebe mit Dingen, von denen wir denken, sie können sie gut gebrauchen. Muß nicht genau so fortgesetzt von hier daheim nach draußen gehen ein geistliches Gut nach dem anderen, das die da draußen brauchen? Ich denke zum Beispiel so oft an die Menschen, die auf Urlaub kommen. Wer weiß, was die Führung Gottes in solch einem Mann angefangen haben mag! Und nun kommt er nach Haus, und es kann alles daran liegen, ob er zu Hause die Seinen trifft und an ihnen begreift, warum die aushalten und durchhalten, und warum und wie sie an ihn denken in fortgesetzter Glaubenszuversicht und Treue. Es ist oft ja gespottet darüber, daß in der Kirche die alten Frauen solch eine große Rolle spielen. Das mag falsch oder richtig sein – äußerlich ist es sicherlich falsch –, aber es soll keiner die alten Frauen in der Kirche verhöhnen. Diese alten Frauen sind Großmütter, Mütter, Tanten, die alle irgendeinen mit Namen kennen, die draußen sind. Und das, was nun von diesen alten Frauen nach draußen geht oder dem Urlauber daheim widerfährt, soll auch ein kleines Zeugnis sein, wovon die hier Daheimgebliebenen leben und durchhalten wollen im Kampf unseres Volkes. Und das wird keiner, der ernsthaft ist, mit leichtem Spott abtun. Daraus aber ergibt sich, daß die Heimatgemeinde wirkliche Gemeinde sein muß. Laßt uns wirklich Kirche Jesu Christi sein; eine Kirche, in der es persönlichen Glauben und persönliche Frömmigkeit und persönliche Verbundenheit mit dem Meister und Heiland Jesus Christus gibt! Eine Kirche, in der Menschen sind, die nicht mal bei irgendeiner Gelegenheit sagen: „Ja, meine persönliche Religion ist aber folgende“, sondern Menschen, die glaubhaft sagen können, daß sie an Jesus Christus als ihren lebendigen und gegenwärtigen Heiland glauben; die das sagen können und die auch den Mund auftun und es wirklich sagen! Ich habe vor kurzem noch einmal die feine kleine Schrift von dem Berliner Stadtmissions-Inspektor Schnepel gelesen „Als Christ und Kompanieführer im Weltkrieg“. Eindrucksvoll ist die Stelle, wo er davon spricht, wie bei den langen Märschen damals im Russisch-Polen eigentlich alles Denken langsam aufhörte, seine Universitätsbildung und all die Finessen der abendländischen Bildungswelt langsam von ihm abfielen und nur die Realität des nächsten Tages noch übrig blieb. Und da sagt er: „Unter all den Dingen, die da in wesenlosem Schein versanken, war das Neue Testament nicht, sondern unter den Realitäten, die uns umgaben, war Jesus Christus auch.“ Und er schildert, wie ihm damals unter diesen mühseligen Märschen zum ersten Mal aufgegangen ist, daß unser Glauben nicht an ein paar dogmatischen Gedanken hängt, sondern an Jesus Christus selbst, an dem Herrn und Heiland, der neben uns steht und mit uns und bei uns ist. Und von dieser Gnadengewalt Jesu Christi lebt die Gemeinde daheim. Davon soll sie zeugen. Sie soll klar machen: Das ist Quell und Mittelpunkt unserer Kraft. Und außer ihm wissen wir nichts, haben wir nichts, können wir nichts und wollen wir auch nichts wissen, haben oder können.

Und dann das andere, das zweite, das in der Heimatgemeinde so wichtig ist: Das ist die Fürbitte. Wir würden als eine Kirche Jesu Christi diese Wochen umsonst erleben, wenn wir nicht voll neuer Zuversicht das Amt der Fürbitte üben würden. Es muß für die da draußen gebetet werden. In Berlin sind in den meisten Kirchen heute täglich Kriegsbetstunden. Jeden Tag findet sich eine Gemeinde zusammen. Jeden Tag wird nach kurzer Schriftbetrachtung das Amt der Fürbitte geübt. Jeden Tag spricht der Pfarrer am Altar das Gebet und dann kommt die Pause, wo das eindrucksvolle Schweigen herrscht und wo in der Stille jeder, der da ist, die Namen derer, für die er Fürbitte tun muß, vor den Thron Gottes trägt. Das soll die Gemeinde heute tun. Sie soll erfahren, daß die Fürbitte eine Wirklichkeit ist. Ich weiß noch wie heute, wie mir zum ersten Mal als achtzehnjährigem Soldaten aufgegangen ist, daß unter den Gefahren und Anfechtungen und Versuchungen, die das Leben da draußen für den blutjungen Feld soldaten bot, die Fürbitte meiner Eltern daheim eine feurige Mauer um mich gezogen hat. Und diese Macht sollen wir üben. Es hat gar keinen Sinn, sich in mühevollen theoretischen Diskussionen einzulassen, ob Gebete erhört werden. Das ist genau so töricht, als wenn ich mit einem, der nie einen Tropfen Wasser gesehen hat, lange darüber diskutiere, ob Menschen schwimmen können. Man muß hinein ins Wasser. Und man muß das Gebet wirklich ausüben, wenn man wissen will, ob und wie Gott unsere Gebete erhört.

III.

Und das dritte, das eine rechte Gemeinde kennzeichnet, ist das bewußte und klare Glaubenszeugnis. Sagen wir ruhig: Lehre. Sagen wir: Das, was im Katechismus steht. Ich habe mehr als einmal davon gesprochen, was es für mich selber bedeutet hat, wenn ich draußen auf Wache gestanden habe und habe Zeit gehabt und habe aus dem, was ich auswendig wußte, für mich aufgesagt, zum Beispiel irgendeine von den köstlichen Erklärungen Luthers zu den 7 Bitten des Vaterunsers oder irgendetwas anderes aus dem Katechismus oder dem Gesangbuch. Ich habe damals gar nicht gewußt, was für ein gewaltiger Schatz das war.

Kirchlich gesehen, kirchengeschichtlich miterlebt, vom christlichen Denken aus miterlebt, hat der letzte Krieg bei allen Völkern mit einer erschütternden Tatsache geendet, nämlich der Tatsache, daß bei Abschluß des letzten Krieges unendlich viele Menschen am Glauben gescheitert sind. Gerade am Schluß und nach Schluß des damaligen Krieges. Woher kommt das? Ich sage wieder das eine Wort: Bewährung. Ein Krieg hält auch auf das, was wir denken. Und auch das, was wir denken, muß fest fundamentiert sein, oder es hält die Stürme der Geschichte nicht aus. Und darum muß eine bewußte Kirche das Amt der heilsamen Lehre verwalten. Wir müssen wissen, was Gott von dieser Welt und mit dieser Welt gewollt hat und was der Mensch in dieser Welt nach Gottes Willen soll. Man muß zum Beispiel einmal wirklich darüber mit sich ins Reine gekommen sein, was unser letztes Stündlein für uns bedeuten soll. Wenn ich nie darüber nachgedacht habe, wie ich recht sterben kann, dann kann ich auch nicht recht leben. Und dieses kostbare Gut unseres Glaubenslebens und unserer Glaubenslehre laßt uns recht verwalten!

Und darum sage ich zuletzt: Das Zeugnis der Gemeinde im Kriege sei so, daß es dieser Bewährung standhalten kann. Zunächst darf ich hier eine kleine praktische Sache einschalten. Das Zeugnis der Gemeinde wird im Kriege vielfach im gedruckten Zeugnis bestehen müssen. Ich möchte es jedem von uns zur Pflicht machen, daß er an den oder die, die er draußen kennt, doch in regelmäßigen Abständen ein gedrucktes Zeugnis der Kirche Jesu Christi schickt. Es gibt schöne, sehr geeignete, kleine anspruchslose Heftchen, die für die da draußen das Richtige sind: Kurz, packend, klar. Laßt uns diese Pflicht auf unser Herz und Gewissen nehmen.

Und dann das andere: Das wirklich verkündete Zeugnis. Wir haben dabei eine nicht ganz eindeutige Erinnerung zu überwinden. Das ist die Erinnerung an die sogenannten „Kriegspredig­ten“. Es gibt keinen Menschen, soweit die Sonne scheint, der die Kriegspredigten verteidigt. Hier herrscht eine ganz auffällige Einmütigkeit des Urteils. Sie geht soweit, daß selbst die Leute die „Kriegspredigten“ verurteilt haben, die später gesagt haben, die Kirche habe dem Volk gegenüber ihre Schuldigkeit nicht getan. Woran liegt es, daß diese Kriegspredigten Mißfallen und Enttäuschungen hinterlassen haben? Ich sehe die Gründe in einem Doppelten. Einmal hat sich in den sog. Kriegspredigten des Jahres 1914 und der folgenden Jahre eine Krise angemeldet, die uns allen damals noch nicht deutlich bewußt war. Das war die Krise der Volkskirche. Wir sind alle noch von der Voraussetzung ausgegangen, daß es sich wirklich um ein im vollen Sinne christliches Volk handle oder um eine Kirche, die wirklich noch im großen und ganzen das gesamte Volk tatsächlich umfaßt. Und es hat der mühseligen Schule des Krieges und der Kriegserfahrung bedurft, um aufzudecken, daß das so nicht stimmte. Es war vieles scheinbar christlicher Glaube, was es gar nicht mehr war. Und so fiel damals das, was in diesen Predigten gesagt wurde, durchaus nicht mehr zusammen mit dem Glaubensbesitz der Einzelnen.

Aber daneben sehe ich einen anderen Grund, der eigentlich unser Volk hoch ehrt: In der Ablehnung der Kriegspredigten hat sich auch eine Erinnerung des christlichen Gewissens gemeldet, die da sagte: Dazu ist es eigentlich die Kirche doch nicht da. Ich erinnere mich an eine Szene, wo ein junger Feldprediger seine Predigt schloß: „Die Herzen zu Gott und die Fauste auf den Feind!“ Und nachher sagte der kommandierende General: „Die Leute an den Feind zu führen ist unsere Aufgabe, Herr Pfarrer. Ihre Aufgabe ist, die Leute zu Gott zu führen“. Und ich denke, das ist eine ganz klare, soldatisch saubere Rede. Und darum gibt es ein Mittel, wie die Kirche die tatsächlichen oder verbogenen Gefahren von 1914 vermeiden kann. Das ist die Erkenntnis, dass die Kirche auch im Kriege kein anderes Evangelium zu verkünden hat als sonst. Und gerade wenn sie sich an diese Regel hält, handelt sie sauber und in ihrer Vollmacht. Es ist ganz selbstverständlich, daß wir dies Evangelium sagen wollen in unserer Zeit und in unserem Volk und zu allen denen, die mit uns gleichen Blutes und gleichen Schicksals sind. Aber wir wollen ihnen das Evangelium von Jesus Christus sagen. Wenn wir nur das tun, werden eine Reihe von Enttäuschungen und Mißverständnissen nicht mehr möglich sein. Die größte Enttäuschung, die unser Volk in dieser Hinsicht gehabt hat, hat darin bestanden, daß man oft das Evangelium verwechselt hat mit einer Art Schicksalsglauben; und dann kommt unweigerlich irgendwann die Frage: Wie kann Gott das zulassen? Wie kann er dulden, das Krieg ist? Das Evangelium von Jesus Christus soll sich bewähren. Wenn Menschen dem lebendigen Gott begegnen, lösen sich viele Fragen von selbst, die bis dahin schwer oder unlösbar erschienen sind.

Und wenn dieses Zeugnis entfaltet wird, welchen Reichtum hat dann die Kirche zu verwalten, gerade jetzt! Ich greife nur wenige Punkte ganz flüchtig heraus. Was kann das Wort Gottes lehren über die heilige Furchtlosigkeit! „Siehe, ich habe dir geboten, daß du getrost und freudig seist!“ Mit welcher Kraft und Vollmacht kann das Evangelium bezeugen, daß Gott uns verboten hat die Furcht und geboten hat die Furchtlosigkeit. Wie ist die Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments voll von diesem göttlichen Befehl „Furchtet euch nicht!“ Und was müßte es um eine Kirche sein, die solch ein Zeugnis in Vollmacht ausrufen kann gerade jetzt und gerade heute. „Fürchte dich nicht; fürchtet euch nicht!“

Oder man denke an eine vielleicht noch ernstere Bewährungsprobe. Am allerschwersten im Felde und im Kriege daheim sind die Zeiten der Ungewißheit, der Spannung und der Sorge. Welche Ströme geistlicher Wohltat kann eine Kirche ins Volk lenken, wenn sie zu lehren weiß, wie wir mit unseren Sorgen, mit unserer Spannung, mit unserer Ungewißheit fertig werden! Was für einen höchst realen Dienst tut eine Kirche am Volk, wenn sie Menschen ruhig macht in dem Frieden Gottes, der höher ist als alle Vernunft!

Oder was kann heute eine Kirche lehren über das Geheimnis göttlicher Führung! Wie arbeitet Gott heute an unserer Nation als ganzer und an den Einzelnen! Und es wäre zum Weinen, wenn man denken müßte, daß Gott so sichtbar arbeitet, und die Zeit könnte spurlos an unseren Herzen vorübergehen. Oder aber es ist wirklich eine Gemeinde da, die dafür den Blick öffnen darf, was es um das Geheimnis von Gottes Führung ist; daß er mich führt nach einem heiligen Plan, daß mein Leben nicht vertan wird in Zufall und Planlosigkeit; daß jeder der Männer, den er nun an irgendeinen ganz bestimmten Punkt geführt hat, sich nicht zu verzehren braucht mit der Frage, ob das nicht alles sinnlos ist, sondern die heilige männliche Ruhe gewinnen kann in der Gewißheit, daß Gott ihn führt. Und wie können die daheim ruhig werden und Kraft sammeln in solch einem Gedanken!

Und endlich das schönste Amt der Gemeinde: Das Amt zu trösten. Es sollte eine Kirche Jesu Christi heute nicht wissen, was sie zu tun hat, wo sie trösten darf? Wo sie die ganze Güte und Barmherzigkeit des Herrn verkündigen darf, der Tag für Tag unser Leben erhält, seine Sonne aufgehen läßt, uns durchs dunkle Tal der Todesschatten führt und unsere Seele erquickt – und was immer sonst unsere Psalmen davon zu singen wissen. Was wäre es um eine Gemeinde, um eine Kirche Jesu Christi, in der es viele Menschen gibt, die von den großen Trostliedern unserer Kirche, die alle aus schwerer Kriegs- oder Nachkriegszeit stammen, möglichst viele Verse auswendig wüßten und auch den Mut haben, diese Verse an den Mann zu bringen; den Mut und die Vollmacht haben, auch einmal einem anderen gedrückten Menschen solchen Trost wirklich zu sagen! Was für eine Aufgabe für die Kirche Jesu Christi in unserem Volk: „Tröstet, tröstet mein Volk“ spricht der Herr!

Wenn je, dann ist heute eine Stunde großer Verantwortung für unsere Kirche da. Laßt uns in aller Treue darum ringen, diese Aufgabe, die uns bis zum letzten Blutstropfen heute erfüllen kann, um unseres Volkes, um des Führers und seiner Räte, um des Heeres zu Wasser, zu Lande und in der Luft willen mit Vollmacht und Kraft zu tun. „Sei getrost, spricht der Herr, und laß uns stark sein für unser Volk und für die Städte unseres Gottes. Der Herr aber tue, was ihm gefällt!“

Vortrag von Dr. Hanns Lilje, gehalten am Ewigkeitssonntag, 19. November 1939 in der Markuskirche zu Hannover. Als Separatdruck (Hannover: Schindelhauer 1939) veröffentlicht.

Hier der Text als pdf.

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