Von Kornelis Heiko Miskotte
Die Kunst ist es, die uns sozusagen ante festum einlädt, unter dem Lebensbaum zu sitzen, dessen Zweige sich in einem Umkreis von fünfhundert Wegjahren über die Völker und über die Welt ausbreiten. Die Kunst ist es, die — wie seinerzeit, und mit Recht, die Weisheit (Spr. 9) – gegen die irreligiöse und religiöse Torheit der Menschen hat „schreien“ müssen, und die nun ihre Stimme erhebt als „eine Stimme verschwebenden Schweigens“ (1. Kön. 19,12) – nicht so sehr, um uns vom Tode abzumahnen, als vielmehr um uns, ohne Vermittlung und Zwischenweg, das Leben zu zeigen. Gewiß besiegelt die Chokma das Leben, das Leben des Geistes, d. h. der Wahl, der Richtung und der Treue; aber auch der Geist (in diesem biblischen Sinne) ist nicht „alles, was in mir ist“ (Ps. 103, 1). Die Kunst als sprechende Repräsentanz des Eschaton, als ausgesprochenes Vorzeichen, muß es sich gefallen lassen, als Spiel an den Rand gedrängt zu werden, an den Rand der Gesellschaft, des Gebotes und der Politik, des Leides und der Sorge, des Chaos und des Kummers um Gottes Verborgenheit.
Darum darf es uns nicht verwundern, „daß der Künstler bei den andern schon an ihre Offenheit für das Allerletzte appellieren muß, um mit seiner höchst sonderlichen Sprache auf Gehör und Verständnis rechnen zu können“[1]. Wenn die Prophetie Poesie wird (und wenn umgekehrt alle Poesie einen futuristischen Gehalt hat), so wird sie befremden, weil sie das gegenwärtige Sein der „Welt“ und das gegenwärtige So-Sein der „Sünde“ in letzter Instanz nicht mehr ernst nimmt.
Vielleicht ist die ästhetische Entfremdung und Erhebung des Menschenherzens niemals so gut getroffen worden wie in einigen Zeilen aus Wordsworths „Tintern Abbey“, wenn er spricht von
that blessed mood,
In whith the burden of the mystery
In whith the heavy and the weary weight
Of all this unintelligible world,
Is lightened: – that serene and blessed mood,
In which the affections gently lead us on, –
Until the breath of this corporeal frame
And even the notion of our human blood
Almost suspended, we are laid asleep
In body, and become a living soul:
While with an eye made quiet by the power
Of harmony, and the deep power of joy
We see into the life of things …
Allein von dem NAMEN aus ist (ob wir es wissen und bekennen oder nicht) die Kunst gerechtfertigt, wenn sie mit der „Wirklichkeit“ spielt. Denn durch das Wort der Verheißung wird die sprechende Repräsentanz des Eschaton getrieben, beflügelt und ermächtigt, es — scheinbar eigensinnig und hochfahrend – besser zu wissen als die Erfahrung und höher zu greifen als zu den Zweigen des (eines) Lebensbaumes: der Chokma. Nur als fahrender Spielmann, der den Gang von Prophetie und Geschichte begleitet und, je und je an einem Abend, mit dem Morgen den Morgen ruft, geht die Kunst, wehrlos und einsam, ihren Weg, vollführt sie die Prozession des Allerheiligsten, stellt sie dar, in Umzug und Reigen, den schimmernden Anbruch der Seligkeit.
Sie wagt es, die menschliche Sprache, die Sprache zwischen Ich und Du, zu überbieten mit dem Gedicht, in dem die Sprache auf eine unerhörte Weise wieder selbstgenügsam und heimlich hymnisch wird (denn was sie auf Erden, heute, löst, wird im Himmel, in der Zukunft, gelöst sein), — in dem die Sprache für nichts mehr Beweise führt und doch alles beweist.
Sie wagt es in der Malerei, die wirklich gegebene Welt mit anderen Augen zu sehen; stets ist sie damit befaßt, im Traume („Wahn“ sagen die Bürger), das Letzte einer tragischen Situation, das Tiefste eines bekümmerten Herzens, das Verborgenste des Hoffens, auf Hoffnung gegen Hoffnung, ans Licht zu holen. Gleich dem Humor wagt sie es, das Leben funkeln zu sehen in dem Jenseits des todtraurigen Reimens und Leimens, der einander widerstreitenden Versuche des Menschen, endlich in vollem Sinne zu leben, einmal man selbst zu sein. Sie wagt es, im Drama und im Roman, (ob sie es weiß oder nicht) die justificatio impii zu verkündigen, auf Hoffnung. Sie greift allen vergeblichen Nachdruck der Stimmen der Erde, die einander entmächtigen, zusammen, um sie zu verklären in der eschatologischen Möglichkeit der, von der menschlichen Stimme und allem Cantabile prinzipiell abgelösten, „absoluten“ Instrumentalmusik. Zur gegebenen Zeit ist es am Platze, auf die Gefahr eines „ästhetischen Lebens“ hinzuweisen (selbst der Künstler kann nicht ästhetisch leben!)und uns das weise Wort Goethes in Erinnerung zu rufen, „daß die Muse zu geleiten, doch zu leiten nicht versteht“ — der Zuschauerstandpunkt ist kein möglicher Standpunkt –, aber hier geht es um das Werk, in welchem, während des Ganges der zielgerichteten Geschichte, ein Vorzeichen der ewigen Freude aufgerichtet wird.
In dem Werk muß das Spiel ernstgenommen werden. Sonst ist es kein echtes Spiel, sonst verliert es seinen Hinweischarakter. Darum sind die, die das Wort hören, auch mit innerer Notwendigkeit an diesem Spiel des höchsten Ernstes, diesem tiefsten Spiel des Ernstes, beteiligt. Der junge Barth sagt überraschend, ja kraß, aber u. E. zwingend zutreffend: „Das wäre eine schlottrige Auffassung, nach der Kunst ein Fakultativum für solche, denen es zufällig Spaß macht, wäre. Das Wort und Gebot Gottes fordert Kunst, so gewiß es ist, daß wir unter das Wort vom neuen Himmel und der neuen Erde gestellt sind. Ein Mensch, der sich dem vorwegnehmenden Schaffen der Aisthesis grundsätzlich oder aus Faulheit entziehen wollte, wäre sicher kein guter Mensch.“[2] Beim Antizipieren des Lebensbaumes, des Paradieses, der neuen Himmel und der neuen Erde geht es um eine Bewegung der Seele und alles dessen, „was in mir ist“, in der Richtung auf die Zeit, da JHWH einer ist und sein Name einer (Sach. 14, 9), auf die Welt, von der es heißt: „Und Gott wird sein alles in allen“ (1. Kor. 15, 28).
Diese Bewegung der Seele erweist sich immer wieder als herrlich in ihrer Notwendigkeit, denn „das Leben ist erschienen, und wir verkündigen euch das ewige Leben, das bei dem Vater war und uns erschienen ist“ (1. Joh. 1, 2), obgleich „noch nicht erschienen ist, was wir sein werden“ (1. Joh. 3, 2). Am Rande alles Werkes des Interpreten und Zeugen erhebt sich die Kunst – und wäre es nur in einer Psalmmelodie oder einer klassisch-liturgischen Formel oder in einem Laienspiel; „aber dieser Rand gehört auch zur Sache, und es kann durchaus auch an diesem Rande ums Ganze gehen. Grundsätzliche Unästhetik würde ja bedeuten, daß man sich die über die Gegenwart hinausweisenden Zeichen, die höchst unpraktischen, aber ebenso höchst bedeutsamen Zeichen, die die Kunst aufrichtet, nicht gefallen lassen will. Und das geht eben nicht, so wenig es geht, in diesen Zeichen mehr als Zeichen sehen zu wollen.“[3] Innerhalb dieser Grenzen und unter diesem Vorbehalt bleibt der Ausruf von Francis Thompson gültig:
O world invisible, we view thee
O world intangible, we touch thee
O world inknowable, we know thee
Inapprehensible, we clutch thee.[4]
Quelle: Kornelis Heiko Miskotte, Wenn die Götter schweigen. Vom Sinn des Alten Testa-ments, aus dem Holländischen übersetzt von Hinrich Stoevesandt, München: Chr. Kaiser, 1963, S. 369-372.
[1] Karl Barth, Ethik (Kollegnachschrift), 1928, II, S. 290. Bei vielen Thomisten steht viel mehr das Umgekehrte im Vordergrund: die Interpretation von der Schöpfung, von der Ordnung, vom homo faber aus; vgl. Jacques Maritain, Art et Scolastique, 1927; Frontières de la Poésie, 1929.
[2] Karl Barth, Ethik II, S. 292 f.
[3] Karl Barth, aaO, S. 293. Vgl. Ernst Bloch, Geist der Utopie, S. 126 ff. (über Bruckner); Heinrich Vogel, Die Krisis des Schönen (Schlußkapitel); F. K. Schumann, Das Schöne als Frage des christlichen Glaubens, in: Wort und Gestalt, S. 258 ff.; Gerhard Nebel, Das Ereignis des Schönen, S. 135 ff., 160 f., 173 f.; Ernst Bloch, Prinzip Hoffnung II, S. 844 ff.
[4] Francis Thompson, Collected Poems, 1913, S. 214.