Gerhard Jacobis Tagebuch eines Großstadtpfarrers, das auf dessen Pfarrdienst an der Hallenser Pauluskirche (1923-1927) Bezug nimmt, wird von Klaus Scholder im ersten Band seines Werkes „Die Kirchen und das Dritte Reich (Berlini: Ullstein, 1977, S. 152f) mit folgenden Worten vorgestellt:
„1929 erschien, zunächst anonym, das Tagebuch eines Großstadtpfarrers, eine ebenso kluge und kritische wie engagierte Darstellung des kirchlichen Lebens der 20er Jahre in Briefen an einen Freund. Es war nicht nur eines der besten sondern auch eines der meistgelesenen kirchlich-theologischen Bücher in dieser Zeit. Der Verfasser war der damals 38jährige Magde¬burger Pfarrer Gerhard Jacobi, wenige Jahre später einer der entschiedensten Vertreter der Bekennenden Kirche in Berlin und nach dem Kriege als Nachfolger Stählins Bischof von Oldenburg. Jacobi war theologisch von Karl Barth beeinflußt – zumindest was sein kritisches Verhältnis zu allem Bindestrich-Christentum betraf. So findet man in seinen Auf¬zeichnungen immer wieder lebhaften Widerspruch gegen die »Stahlhelm-Pastoren« und die »gottferne Kriegstheologie«. Obwohl Jacobis politische Sympathien zweifellos der Linken gehörten, kritisierte er die »S.P.D.-Pastoren« nicht weniger als die Stahlhelm-Leute.
Was diesen Großstadtpfarrer wirklich bewegte, beschäftigte und erschütterte, waren ganz andere Probleme. Es war die Fülle der Sorgen, Nöte, Freuden, Hoffnungen und Hoffnungslosigkeiten, mit denen er täglich bis zur Erschöpfung zu tun hatte; und es war die Unfähigkeit der Kirche und seiner selbst, dazu das richtige Wort, das Wort Gottes zu finden. An diesem Buch beeindruckte nicht nur die Realität, die es beschrieb, sondern auch die Ehrlichkeit, mit der sich dieser Pfarrer zu seiner Ohnmacht und zu seinem Glauben bekannte. »Was ist es doch für ein Ding um die Predigt:« schrieb Jacobi, »man muß reden von Dingen, von denen man genau weiß: die Gemeinde versteht, erfaßt sie nicht; sie liegen ihr ganz fern; die Gemeinde wird aus der Kirche gehen und denken: damit kann ich nichts anfangen. Das weiß man als Prediger und muß doch so sprechen. Wir haben uns ja nicht nach dem zu richten, was die Gemeinde versteht und was sie hören will. Wir haben Gottes Kommen hineinzurufen.« Hier lag die Frage, die Jacobi am meisten bedrückte, nämlich ob diese Kirche in ihrer bürgerlichen Selbstzufriedenheit überhaupt noch imstande sei, von Gottes Kommen zu zeugen. »Weißt du,« so schrieb er deshalb seinem Freund, »man hat in dem bürgerlichen Kir-chenchristentum doch so manches einzureißen. Das ist ja heute die Lage. Der Kampf für Gott geht den Weg der Kritik, Kritik an der kirchlichen Frömmigkeit und an der Kirche, an der bürgerlichen Gerechtigkeit und an der Wirtschaft …«“
Tagebuch eines Großstadtpfarrers
Briefe an einen Freund
von
***
Dritte Auflage
Furche-Verlag G.m.b.H., Berlin Druck von Edmund Pillardy in Kassel
Vorwort.
Diese Tagebuch-Briefe sind kein literarisches Erzeugnis. Sie sind Briefe, wirkliche, mit der Post abgesandte Briefe, heiß im Drange des Erlebens hingeschrieben, mit allen Schwächen des Augenblicks versehen, mit allem Zorn und aller Leidenschaft des Tages behaftet, nicht für den Druck berechnet.
Und doch sollen sie jetzt gedruckt werden. Warum? Damit ein wenig mehr gesehen wird, was uns Großstadtpfarrern auf Leib und Seele liegt. Damit ein wenig mehr Verständnis wach wird für das Amt des Pfarrers. So ist es der Gedanke des Freundes und Empfängers dieser Briefe.
Der Freund schreibt aber selber ein Bedenken zu dem Druck, das ich von vornherein beseitigen möchte. Er schreibt: „Bei mancher Kritik, die Du in den Briefen aussprichst, könnten Leser, die Dich persönlich nicht kennen, denken, Du dünktest Dich etwas erhaben über die mancherlei Irrwege von Kirche und Welt“. Zu diesem Bedenken möchte ich den Lesern sagen: Kritik ist für mich immer ein schmerzliches Sehen eines Irrweges, einer Not, einer Gottwidrigkeit – bei der der Kritisierende sich aber sofort sagt: wer weiß, wie ich in diesem Fall gehandelt hätte. Kritik ist mir also lediglich ein Suchen, ein Suchen nach Neuem, ein Suchen – letztlich nach Gottes Forderung an Kirche und Welt. Bei derartiger Kritik kann ich ja gar nicht vergessen, daß ich selber Teil der Welt und Teil der Kirche bin, also auch teilhabe an ihrer Schuld – wenn ich von einer Schuld der Welt oder von einer Schuld der Kirche spreche.
Ich gebe das Tagebuch anonym heraus. Einzig aus diesem Grunde: Es steht manches darin, was in das Kämmerlein meiner Gemeindeglieder gehört, und es steht zuviel darin, was in mein Kämmerlein gehört. Man soll aber die Tür seines Kämmerleins hinter sich abschließen.
Wirkliches Beichtgeheimnis wurde natürlich auch dem Freunde nicht mitgeteilt – oder in ganz neutraler Form, wie der Inhalt dieser Blätter dem Leser zeigen wird. Aber ich betone noch ausdrücklich: Für bestimmte abgedruckte Briefe und für manche Gespräche habe ich um Druckerlaubnis gebeten. Außerdem habe ich einzelne Fälle der Zeit nach verschoben und die vorkommenden Orte verändert. Sonst sind die Briefe gedruckt, wie sie vor ein paar Jahren geschrieben sind.
Die Seiten-Überschriften und die Inhaltsübersicht sind vom Verlag hinzugefügt worden.
Mitteilungen an mich bitte ich dem Furche-Verlag zu übersenden; dieser gibt sie mir weiter.
Im Sommer 1929.
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Vorwort zur dritten Auflage.
In dieser Auflage ist auf Seite 132 ein Satz und auf Seite 134 ein Abschnitt geändert – nicht dem Inhalt nach, nur der Form nach, da die ursprüngliche Fassung mißverstanden wurde und bei oberflächlichem Lesen auch mißverstanden werden konnte.
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Inhaltsübersicht.
Ein schwarzer Tag 9. Ein Pastor für 10000 Seelen 10. Sozialist gegen Kirche 11. „Wie werde ich mit dem Leben fertig?“ 12. Eine Schwerkranke 13. Wir müssen unsozial wirken 14. Christus und die Arbeit 15. Mitten durch die Parteien 16. Wirkungen sozialer Gewissensschärfung 17. Stefan Zweigs Jeremias 18.
Gefängnispredigt. Zank bei Beerdigungen 19. Auf Urlaub 20. Prophetisches Müssen und Religionsbetrieb 21. Nachhall der Großstadt 22. Jeremias und das Gericht über unsere Zeit 23. Das Kreuz am Badestrand 24. Schwarz-Weiß-Rot und Schwarz-Rot- Gold 25. Benard Shaw als Theologe 26. Die Last der Predigt 27. Eine Predigt in den Dünen 28. Das Meer 29. Dank an Joseph Wittig 30. Die Gesetzesreligion im Christentum 31.
Vervollkommnungsstreben und Ichwille 32. Die Krankheit 33. Gewollte und ungewollte Evangelisation 34-35. Untergehende Sonne 36. Jugend und Kriegsspiele 37. Großstadtkinder 38. Wer darf predigen? 39. Strandgedanken 40. Unendlichkeit des Meeres 41. Zeitungswichtigkeiten und private Wichtigkeiten 42-43. Besuch im Kino 44. Kinoschwindel 45. Steigerung der sozialen Zerklüftung 46. Warum Pfarrer? 47. In der Kunsthalle 48.
Zurück zur Gemeinde. – Vom Grüßen 49. Der erste Tag wieder in der Gemeinde 50. Besuche. – Eine Trauerfeier 51. Gott oder der Tod 52. Situationen im Gemeindekirchenrat 53. Der Kirchensteuerzettel. – Gesichter 54. Vor der Predigt 55. Die Predigt von der Kraft 56. Die Ehelosigkeit des Priesters 57. Evangelische Beichte 58. Von „Gebildeten“ und „Ungebildeten“ 59.
Ungeheuerliches von Generaldirektoren 60. Besuch bei einem Blinden 61. Ethik des Gewissens und Ethik der Gnade 62. Pfarrwahl 63. Ein Schicksal. – Flucht ins Freie 64. Das Christusbild. – Gottes Souveränität 65. Grausamkeit der Großstadt 66. Kirchenaustritte 67. Frömmigkeit 68. Das Erlebnis des Krieges 69. Konfirmandinnen 70. Eindrücke von einer Hochzeit 71. Ein Brief 72. Christlicher Klatsch 73. Allzumal Sünder 74. Der Bischofstitel 75. Vom Pfarramt 76. Fromme Unkirchlichkeit 77. Der Instinkt gegen den Bischofstitel. – Heimarbeiterinnen 78. Jude und Christ. – Gerechtigkeit Gottes 79. „Vergeßt euch selbst!“ 80. Vorträge 81. Sonntagsvergnügen und Heilsarmee 82. Soziale Fürsorge. – Ein Landpfarrer 83. Abendmahlsgemeinschaft 84. Zwischen Sattheit und Trägheit 85. Zwei Trauungen 86. Fremdes Schicksal 87. Vom Fragen junger Menschen 88. Behörden 89. Nachmittagspredigt 90. Taufe der Unehelichen 91. Vom Tischgebet. – Die Frauenkirche 92. Engländer, Kommunist, Jude 93. Eine Grabrede vom Zorn Gottes 94.Gedanken eines jungen Mädchens von Gott 95. Ein Krankenabendmahl 96. Wichtigkeiten – Nichtigkeiten 97.
Begräbnis und Hochzeit 98. Kin Stehenbleiben! 99. Seelsorgetag 100.
Sachlich-nehmen 101. Das Amt der Pfarrgehilfin 102. Verwaltungsbeamter und Prediger 103. Das lebendige Wort 104. Fragen an einen Probeprediger 105. Die Agende bei der Beerdigung 106. Lehrstelle und Konfirmationsschein 107. Vom „Widerhacken“ und „Widertreten“ 108. Sexuelle Erziehung 109. Der sozialistische Ministerialdirektor 110. Die Stahlhelmidee und die Botschaft Jesu 111. Neue Fragen an einen Probeprediger 112. Dingliches Denken 113. Vom Mücken-Seihen und Kamele- Verschlucken 114. „Wo stehen Sie?“ 115. Sprechstunde und Hausbesuche 116. Weißkohl mit brauner Butter 117. Die „Ehre“ des Besuches 118. Stahlhelm und Martin Luther 119. Wie werden Predigten beurteilt? 120. Hilde Bahrfelds Gedanken 121.
Leidenschaft für Gott 122. Gott ohne Christus? 123. Astrologischer Aberglaube 124. Das Hakenkreuz gegen das Kreuz von Golgatha 125. Christentum und Staatsgewalt 126. „Der Pastor lügt!“ 127. Ketzerrichterei 128. Ein Generaldirektor 129. Befreiende Lutherworte 130. Einzelschuld und Gesamtschuld 131.
Verherrlichung des Todes 132. Predigt und Abendmahl 133. Kriegstheologie in einer Gefallenen-Predigt 134-135. Mißbrauch der Bibel 136. Seelsorge an den Seelsorgern 137. Bindestrich-Christentümer 138. Die Logentheologie 139. Schöpfungsordnung und Erstarrung 140. Ein Menschen-Tag 141.
Tagebuch Nr. 1000 142. Vom Sinn der Hausbesuche 143. Konfirmandenunterricht als Verkündigung 144. Kaleidoskop der Menschen 145. Walter Rathenau 146. Zigaretten. – Die Kassenpatienten 147. Von Bettel und Elend 148. Macht die Tore weit! 149. Der Krümmende 150. Pfarrerkonvent 151. Proletarische Not und befreiende Orgie 152. Ein Sozialistischer Pfarrer 154. Der sozialistische Chefredakteur in der Diskussion 155. Durch die Konfessionen hindurch! 156. Weihnachtsvorbereitungen 158. Herrische Hilfeforderungen 150. Die Menge? 160. Vor der Christvesper 161. Die Feier in der Kirche und in der Herberge 162. Der erste Weihnachtsfeiertag 163. Das unentbehrliche „Weihnachtsvergnügen“ 164. Ausnutzung durch Fließarbeit 165. Fräcke und seidene Kleider 166. Erziehung zum Geschwätz 167. Überforderung des Pfarrers 168. „Sie standen nie“ 169. Ein neues Theologengeschlecht 170. „Superchristliche Leute“ 171.
Kirchlichkeit und Unkirchlichkeit auf dem Lande 172-173.
Arbeitergesichter 174. Ehenöte vor dem Pfarrer 175. Die letzte Predigt 176. Duplizität der Fälle 177. Keine Sozialisten in der Kirche 178.
Arbeiter-Entlassungen. – Abschiedsbesuche 179. Kein Salonpastor! 180. Der letzte Brief 181.
Sonntag.
Lieber Freund. Es war ein schwarzer Tag heute. Gleich nach der Frühpredigt hatten wir Sitzung mit Mitgliedern der Gemeindevertretung. Das sollte eigentlich nicht sein, aber unser aller Leben ist ja so besetzt, daß man den Sonntag hinzunehmen muß. Mitten in der Sitzung klingelt meine Frau an: Herr U. habe eben angerufen, ich solle sofort kommen, sein Sohn habe sich heute nacht das Leben genommen. Das war ein schwerer Gang zu den erschütterten Eltern und zu der Frau des Toten. Den ganzen Tag über Verhandlungen wegen des furchtbaren Geschehens. Und das war noch dazu der eine Fall, wo ich einmal einen Erfolg meiner Predigt gesehen hatte: Als ich über den Frieden, den Christus fordert, gepredigt hatte, vertrugen sich Eltern und Sohn. Dies ist das Ende… Durch das schwere Geschehen ist das Grübeln von gestern abend zurückgetreten. Ich kam gestern beim Lernen der Predigt so weit, daß ich mich fragte: muß ich nicht hier abbrechen und ganz im Kleinen, in einer Fabrik als Arbeiter anfangen und dort das verkünden, was ich zu verkünden habe? Aber dagegen kam immer wieder: bin ich nicht hineingestellt in dieses Leben? Bin ich nicht an diese Kirche gestellt, bis ich abgerufen werde? Haben wir nicht gerade dort, wo wir hingestellt sind, zu tun, was zu tun ist?
Dienstag.
Es ist, als sollte ich ein schweres Geschehen nach dem anderen erleben. Noch ist der Fall U. gänzlich ungeklärt und schon ein zweiter: Ein alter Bürovorsteher. Seine Tochter seit Jahren gelähmt, unheilbar. Jetzt macht der Vater 40 000 Mark Schulden! Auf betrügerische Weise. Die Familie ist damit dem Verderben ausgeliefert. – Und ich stehe natürlich machtlos vor beiden Fällen. Ich spüre in diesen schwarzen Tagen ganz klar, daß ich das Vielerlei meines Amtes abstellen muß: die Arbeit muß stiller und wesentlicher, zentraler werden. Wie ich’s praktisch machen soll, weiß ich heute abend nicht. Aber ich nehme mir wenigstens vor, den Kreis der Menschen zu beschneiden.
Mittwoch.
Zum Hohn auf meinen gestrigen Vorsatz, mich in den Menschen zu beschränken, kamen heute 22 Menschen zu mir. – Es ist eben die Großstadt mit ihren Riesengemeinden. Ich denke immer: warum verdoppelt man nicht zunächst einmal die Zahl der Großstadt-Pfarrer? Es ginge durchaus: Man müßte die für die Stadt geeigneten Pfarrer vom Land fortnehmen und müßte den ländlichen Gemeinden mit ihren 1000 und weniger Seelen gut ausgebildete Diakone stellen. Das Johannisstift in Spandau würde diese Ausbildung sicherlich gut und großzügig leisten. Ich frage dich Landpastor selbst: Müssen denn wirklich in den kleinsten Dörfern Pfarrer sein, die unbedingt das Abiturium bestanden und mehrere Jahre auf der Universität studiert haben? Geht es in den kleinen Bauerngemeinden nicht auch ohnedem? – Ich weiß schon, daß an diesem Vorschlag viel Schwierigkeiten hängen. Aber wir stehen doch einfach heute – laß es mich mal deutsch sagen – vor der Unsinnigkeit: Ein einziger Pastor für 8000, ja 10 000 und mehr Seelen. Getan muß etwas werden und zwar schleunigst. Sonst – könnte es geschehen, daß die evangelische Kirche schon an dieser Unsinnigkeit zugrunde geht. Schlatter hat gesagt: viele kleine gottesdienstliche Räume statt der großen Dome und Kirchen. Er hat ganz recht: viele kleine Kirchlein und viele kleine Gemeinden und viele Pfarrer.
Noch eine kleine interessante Mitteilung: Wichern ließ im Rauhen Hause nicht die Geburtstage feiern, sondern die Tauftage. Wenn man dies natürlich gleich und lediglich als „Einführung einer kirchlichen Sitte“ bewertet wie ein Pfarrer heute, dann entgeht einem sofort der ganze Sinn von Wicherns Tun. Es handelte sich für Wichern doch darum, den Zöglingen ins Bewußtsein zu bringen: In der Taufe hat Gott zu mir gesprochen, Gott hat sich mit mir abgegeben, Gott hat mich als sein Eigentum erklärt.
Donnerstag.
Gestern abend hatten wir eine interessante Auseinandersetzung mit den Jung-Sozialisten. Leider verteidigten die anwesenden Pfarrer die offenen Übelstände der Kirche, statt diese unumwunden zuzugeben und – Neues zu sagen. Der Chefredakteur der sozialistischen Zeitung hielt den einleitenden Vortrag über sozialistische Lebensgestaltung, im Grunde eine Antwort auf meinen Vortrag in demselben Kreise über Christentum und Sozialismus. Ich kann nur einige Sätze herausgreifen: „Das Kind war in der von der christlichen Kirche beaufsichtigten Schule ein Objekt des Prügelns. Das Kind muß aber Objekt der Liebe sein. – Der alte Staat war reiner Machtstaat. Diesen Machtstaat verbrämte die Kirche mit christlichen Grundsätzen. Die Moral der Kirche ist im wesentlichen Herrenmoral. Die Kirche sagt, ein Mann ohne Religion könne kein anständiger Mensch sein. – Im Bewußtsein des Arbeiters seien Pfarrer und Gendarm aufs engste verbunden. – Der Sinn des Religionsunterrichtes sei ein Auswendiglernen von biblischen Geschichten und Gesangbuchversen gewesen. Dabei habe er nie den Satz begriffen und habe sich doch schon als Kind Gedanke darüber gemacht: Was Gott tut, das ist wohlgetan. – Glaube im Sinne des Christentums sei nichts Vorwärtstreibendes. – Die kapitalistische Gesellschaft sei doch wirklich kein Boden für die Verwirklichung der christlichen Idee. – Das Grundübel für das Versagen der evangelischen Kirche läge in der Verquickung von Staat und Kirche, welche schon Luther veranlaßt habe, zur Sünde zu raten, nämlich zur Doppelehe des Landgrafen Philipp. – Er glaube nicht, daß die evangelische Kirche die Kultusgemeinschaft der Zukunft sein würde.“
Du siehst aus diesen paar Sätzen, wieviel positiver der Sozialismus heute zu den religiösen Fragen steht als vor 20 Jahren. Die Debatte ging heiß weiter. Ganz erstaunt fragte der Chefredakteur zwischendurch: „Ja, glauben Sie denn an einen persönlichen Gott?“ Spät in der Nacht langten wir bei der Frage „Diesseits-Jenseits“ an. Da konnte der Sozialist mit uns nicht mehr mit, und es brach auseinander. Aber daß es überhaupt so weit kam, darüber können wir doch nicht dankbar genug sein. Schade, daß Du nicht dabei warst!
Sonntag.
Heute hatte ich nicht zu predigen, besuchte aber einen Gottesdienst, der mich leider völlig kalt und unberührt ließ. Und ich war wirklich hungrig gewesen. Hinterher waren wieder schwere Besuche in der Gemeinde. Wie fühlt man sich doch verflochten in das Schicksal der Menschen, mit denen man seelsorgerisch zu tun hat. Natürlich war ich auch bei den Eltern U.s. Wie unter schwerer Last gehe ich immer die Treppe hinunter: Warum konnte ich den Selbstmord des Sohnes nicht verhindern? So schwach unsere Kraft, so kurz unser Arm. – Und der andere Besuch? Ganze fünf Jahre ist es her, da griff ich in das Leben dieses Menschenkindes ein. Weil sie damals ein Kind, wollte ich sie gewaltsam von ihrem psychopathischen Freunde trennen. Erreicht habe ich es nicht. Jetzt heiratet sie einen anderen. Nun hat das Leben getan, was ich damals erreichen wollte. Einst gehörte ihr ein gut Teil meiner fürsorgerischen Kraft – durch Monate hindurch. Aber ich war zu ungeduldig damals.
Immerhin dankte sie mir heute doch, daß ich ihr Leben „gewendet“ hätte. Ernst, fast erschreckend ernst standen wir uns gegenüber. Inzwischen ist sie wohl durch viele Irrwege gegangen – ohne je bei mir gewesen zu sein. –
Gestern abend war ich bei unsern gemeinsamen Freunden K.s eingeladen. Wir sprachen viel über soziale Probleme. Ich spürte wieder, wie heiß dieser Generaldirektor um das Schicksal seiner Arbeiter ringt. Zum Schluß sagte ich K.s, ihre Tochter Frieda würde mit dem Leben nicht fertig, schon jetzt mit 16 Jahren nicht. Darauf Vater K. ganz ernst: „Ja, wie soll man auch damit fertig werden.“ Wenn doch nur einer von seinen vielen tausend Arbeitern wüßte, wie ernst ihr Chef denkt.
Montag.
Ich vergaß Dir gestern abend zu schreiben, daß ich noch eine Schwerkranke besucht hatte. Ich besuchte sie nun das zweite Mal. Offenbar ist die Krankheit sehr fortgeschritten. Sie ist schon ganz abgemagert, klagt, daß sie nicht mehr durchatmen könne usw. Als ich kam, war gerade der Arzt da, der sagte, es könne sich nur noch um Tage, höchstens um zwei bis drei Wochen handeln. Wie so oft bei Lungenkranken, glaubt sie fest daran, wieder gesund zu werden – so sagte mir wenigstens die Mutter. Und das letzte Mal hatte sie mir selbst so gesagt. Die Mutter hat noch nie mit ihr über das Sterben gesprochen. Ich ging in das Zimmer hinein mit dem festen Vorsatz, ihr die Wahrheit zu sagen. Oder soll ich etwa fromme Dinge sagen und gleichzeitig lügen? Nirgends sollte man doch eigentlich wahrhaftiger sein als beim Sterben, und nirgends wird gerade soviel gelogen wie dort, vom Krankwerden an bis zum Begräbnis. Ich fing vorsichtig an – und sie ging gleich darauf ein, sagte, es könne einen ja auch auf der Straße treffen durch einen Stein oder dergleichen. Ich sagte ihr ganz ruhig, wir hatten nicht Wissen und Macht über Leben und Tod, aber ich hoffte, sie sähe häufig hinüber in das andere Land. Da sagte sie: „Das will ich nun auch tun, lesen Sie mir doch etwas aus der Bibel vor.“ Ich las den 23. Psalm. Sie antwortete mit ihrer heiseren, leisen Stimme: „Und wenn ich schon wanderte im finsteren Tal …das ist ein gutes Wort.“ Ich saß dann noch eine Weile bei ihr, ohne noch etwas zu sagen. Und sie sah mich so ruhig und klar an, wie noch nie. Sonst war sie immer so flackrig und hastig. Wenn die Ärzte schon für den Körper Morphium geben, so dürfen wir Pfarrer nicht auch noch Morphium für die Seele geben. – Ich werde in künftigen Fällen immer an die Erfahrung, die ich hier gemacht habe, denken. Der Vortrag, den ich Sonnabend in Stuttgart über Christentum und soziale Frage halten soll, rückt mir jetzt auf den Leib.
In Stuttgart.
Eben habe ich also meinen Vortrag gehalten. Ich werde ihn Dir schicken. Charakteristisch war, daß hinterher eine Antialkohol-Dame zu mir kam und vorwurfsvoll erklärte, ich hätte zum Schluß ,,nur vom Glauben“ gesprochen, nicht vom Tun. Es hat doch seinen guten Grund, daß Luther in allen und jeden Predigten immer gegen die Werkgerechtigkeit gepredigt hat.
Das Haus, in dem ich wohne, liegt schön: Weiter Blick über grüne Wiesen und auf der anderen Seite die Höhen mit Wald. Und alles Frühling. Der Frühling preist seinen Schöpfer wirklich aus allen Kräften, aus ganzer Seele, von ganzem Gemüt. Und wir? Was ich eben erlebt habe, werde ich sobald nicht vergessen. Über die soziale Frage hatte ich gesprochen, natürlich auch darüber, daß wir einzelnen immer Unsoziales in das gesamte Lehen hineinwirken. Nach dem Vortrag fahre ich mit meinen Gastgebern im Auto nach Haus. Da steht eine Arbeiterfrau an der Straße und schüttelt drohend ihre Hand gegen das Auto. Wer weiß, welche Not sie zu dieser drohenden Faust gebracht hat. Mir ging Luthers Wort durch den Sinn: „Wir müssen sündigen, solange wir sind“ – wo wir sind und was wir tun, wir werden unsozial sein trotz all unseres Redens von sozialem Tun und trotz des besten Willens, die soziale Not zu verringern.
Im D-Zug Stuttgart-Berlin.
Am Sonnabend nachmittag, den ganzen Montag, auch heute früh – im Freien. Du weißt, was das für mich bedeutet: Wälder, Hügel, das lichte Grün zwischen dem dunklen Laub, das sonnige, liebliche Tal – alles Dinge, die ich sonst nie sehe, hier konnte ich sie wirklich mit Augen trinken. Und ich schämte mich etwas vor der Natur, weil ich sie so arg vernachlässigt habe in den ganzen letzten Wochen und Monaten.
Aber dazu war mir noch manches andere wertvoll und interessant in Stuttgart. Einmal die Diskussion am Sonnabend abend über meinen Vortrag. Etwa 80 Menschen waren erschienen, viele feine, gerade, kluge Gesichter dabei. Die Diskussion drehte sich in erster Linie um die Gottwidrigkeit des Leides, dann um Glaube und Werke, schließlich um praktische Fragen. Ferner hörte ich am Sonntag eine Predigt, so individualistisch, wie wir heute doch eigentlich gar nicht mehr denken können: „Die evangelische Kirche ist die Kirche der Heilsgewißheit. Damit steht und fällt sie.“ Als ob das die katholische Kirche nicht auch sagte. Und sollte die evangelische Kirche damit fallen, so bliebe doch immer noch das Reich Gottes, das wirklich nicht von der Heilsgewißheit einiger Menschlein abhängig ist.
Freitag.
Es ist Freitag, und die Predigt will nicht recht. Ich nehme Micha 6,8: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert, nämlich Gottes Wort halten, Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.“ Der Ton soll darauf liegen, daß Gott fordert. Ja, er ist ein fordernder Gott.
Gestern tagte die Arbeitsgemeinschaft meines Gemeindeblattes. Diesmal waren sieben Männer und zwei Frauen da. Die nächste Nummer befriedigt mich nicht, weil das religiöse nicht stark genug herauskommt. Gerade bei der Arbeit, von der die Nummer handelt, bei der seelentötenden Maschinenarbeit, sehe ich die ungeheure Spannung zwischen dem lebenspendenden Gott und der toten Maschine; ich sehe einfach zwei Mächte auseinandergerissen, die zusammengehören: Christus und die Arbeit. Durch die Maschine gewinnt der Mensch die ganze Welt und nimmt Schaden an seiner Seele. Und doch wissen wir, daß Gott stärker ist als die Maschine. Wissen, daß Christus das Leben ist und in alles Tote und Kalte einbrechen will. Weißt Du, ich kann beide, Gott und die Maschine, viel schlechter in Zusammenhang bringen als Gott und die Wirtschaft.
Heute abend traf ich den Führer der – Partei (einer der Arbeiter-Parteien). Er erzählte mir, seine Partei habe den Parteisekretär X. gestern fristlos entlassen, weil er sich mit seiner Sekretärin eingelassen habe. Ich muß sagen, daß mir dies imponiert hat – von einer Partei überhaupt, sodann von einer, der das Bürgertum immer „freie Liebe“ vorwirft.
Eine Frau Bergrat sagt mir gerade heute vormittag von einer Familie: „Die Leute sind zwar Kommunisten, sind aber doch gute Leute.“ Immer spukt noch die verwünschte Gleichsetzung in den Köpfen des Bürgertums: Rechtspartei gleich gut, gleich christlich, Linkspartei gleich böse, gleich unchristlich. Wann wird man begreifen, daß alle Menschen in sich gut und böse sind und daß das Widerchristliche durch alle Parteien und alle Menschen hindurchgeht?
Wann wird denen, die sich Christen nennen, die Wahrheit des Neuen Testamentes aufgehen: Es ist hier, d. h. unter Gottes Augen, kein Unterschied, wir sind alle Sünder? Wann wird man aus dieser Wahrheit heraus leben? Wann wird man aus dieser Wahrheit heraus seine Mitmenschen ansehen?
Sonntag.
Meine Predigt heute war flach. Meine Gedanken waren noch zu stark an ein Menschenschicksal gekettet und doch nicht nur an dieses eine, sondern damit an viele, viele Schicksale, sie waren eben noch gekettet; ich konnte noch nicht aus dem Miterleben dieses Schicksals predigen.
In Stuttgart sagte mir Fräulein Dr. L.: „Die Pastoren kommen mir so vor wie Ärzte, denen man Krankheiten nicht sagen darf.“ Ein schlimmes Wort. Der ganze Mangel einer Beichte liegt darin.
Unsere Beichte vor dem Abendmahl ist ja auch alles andere, als eine Beichte.
Als ich vorgestern meinen neuen Konfirmanden sagte, sie möchten Sonntags, wenn ich predigte, zur Kirche gehen, stand ein Junge auf, ganz ruhig und sachlich: „Sonntags kann ich nicht, da muß ich Fußball spielen.“
Die Privatstunden an Frieda K. gehen ihren Gang weiter, jede Woche 1-2 Stunden. Wir lesen den Römerbrief. Ich fürchte, ich nehme sie zu sehr als mir gleichaltrig. Aber ich kann nicht anders. Ich vergesse immer wieder, daß mir gegenüber nicht ein reifer Mensch sitzt. Aber sind wir Erwachsenen auf diesem Gebiete eigentlich reifer? Es ist ja überall das gleiche Fragen, die gleiche Sehnsucht. Heute abend ist Besprechungsabend mit den ehemaligen Konfirmandinnen. Die Mädels hatten als Thema erbeten: ob die Natur sündigen könne.
Dr. N.-Stuttgart schreibt mir: „Noch einiges muß ich Ihnen schreiben über die Wirkungen Ihres hiesigen Vortrages! Vier Leute kamen zu mir aufs Büro, um mit mir darüber zu sprechen. Ich ließ sie reden, ohne viel zu sagen, und da kam’s dann heraus. Es war ja gut, daß uns unser soziales Gewissen einmal geschärft wurde, aber wenn die Predigt am Tage darauf von Stadtpfarrer V. nicht gewesen wäre, wäre es nicht zu ertragen gewesen. Sie waren also heilsfroh, als sie wieder im gewohnten Kreise der eigenen Seligkeit landen konnten.“
Inzwischen war ein sehr kranker Mann bei mir, mit, wie er sagt, krankhaftem Schuldbewußtsein und Selbstquälereien, er betet mindestens zwei Stunden täglich. Er war schon bei verschiedenen Pfarrern und bei vielen, vielen Ärzten, und keiner kann helfen. Inzwischen ist es – Sonntag fing ich den Brief an – schon Donnerstag geworden. Es ist Himmelfahrt heute. Man sieht aus allem Unvermögen in die Höhe. „O, komme du zu uns aufs neue, die wir sind schwer verstört; Not ist es, daß du selbst hinieden kommst.“ Es ist ja Jesu Königstag. Mir ist, als sähe ich zwischen dunklen Wolken einen hellen Schein.
Sonnabend.
Soeben fing ich an, den Jeremias von Stefan Zweig zu lesen. In dem Buch zittert Kraft und nicht nur Kraft. – Eine sonderbare Woche. Einer nach dem andern kam: Seelsorge. Und sonderbarerweise mußte ich dann noch fast allen denen schreiben, die nach einem Wort von mir ausschauen, „meiner Gemeinde“ in der Ferne. – O wie gut ist es, daß es nicht nur ein Mensch ist. Ich bliebe sonst an dem einen haften und brächte ihn gar nicht los von sich, d. h. noch weniger los, als so schon. Ich meine, ich würde ihn noch bestärken in seinem Ich-Drang. Nun sind es zu viele, oft sage ich: zu viele, ich kann sie nicht mehr tragen, kann nicht mehr für sie bitten. Und doch, und doch: es müssen so viele sein. Damit er aufgeht über den vielen. Damit auch die vielen gelenkt werden über sich und ihre Privat-Not hinaus – auf die Not der vielen, auf die Schuld der vielen.
Im D-Zug.
Ich schrieb so lange nicht. Die Fülle der Menschen drängte mich des Tages und des Nachts. Jedoch, ich habe das Empfinden, es tritt nun eine Pause ein. Es scheint bei einer Reihe von Menschen zu einem gewissen Abschluß gekommen zu sein. Am zweiten Pfingstfeiertag predigte ich. Es ist eigen, wenn ich die Blumhardtschen Gedanken scharf herausstelle, dann höre ich als Urteil, ,,das war eine große Predigt“, aber zugleich klingt ein Unterton mit: verstehen können wir das nicht, da können wir nicht mit. Natürlich ist nie meine Predigt „groß“, sondern die Kühnheit der Blumhardtschen Gedanken ist groß. – In den Tagen darauf habe ich Jeremias von Stefan Zweig zu Ende gelesen. Es ist schon so, wie an Jeremia dargestellt wird: der Mensch, der von Gott aufgerufen ist, sagt Ja und sagt es wider seinen Verstand, wider seine Natur, wider seinen Willen – dann aber empört er sich gegen diesen Gott, der so Furchtbares verlangt – bis er wieder Gott gehorchen muß.
Mit diesem Buche lebte ich mit, wie soll ich sagen – atmete ich mit, sehnte ich mich mit. Das Ende bleibt ja immer die Sehnsucht, so seinen Willen zu künden. Das Buch paßte so richtig zu dem Pfingstfest, das für mich Sehnsuchtsfest, Hoffnungsfest ist.
Ein paar späte Stunden lang war ich vorgestern mit meinem Sorgenkind H.D. zusammen. Eins der wenigen Worte, die fielen: „Froh werde ich nie wieder.“ Was soll man da antworten? Ich habe gescholten, gut zugeredet, freundlich und väterlich gesprochen. Aber es bleibt das Unterwertigkeitsgefühl und der Erfahrungssatz: „mir kann kein Mensch helfen“. Schließlich – als ich vor dem Schrank stand – fiel mir das Neue Testament ins Auge. Ich nahm es heraus, und wir lasen zusammen.
Sonntag.
Heute früh predigte ich im Gefängnis. Wenn man drei Jahre lang nicht im Gefängnis gepredigt hat, dann bewegen einen die hungrigen, ablehnenden, gläubigen, ungläubigen, traurigen, frechen Gesichter ganz besonders stark. Die Predigt Matth. 25, 31 ff. („Ich bin hungrig gewesen …“) liest sich wahrscheinlich sehr leicht und glatt und enthält doch, wenn ich so sagen soll, mein soziales Glaubensbekenntnis. Ich wollte einfach dies sagen: wir müssen bei den Fragen des Lebens von der Not ausgehen, aber nicht von der eigenen Not, sondern von der Not der anderen. Von der Not der Menschen aus angesehen bekommen die harmlosesten Dinge oft ein großes Schwergewicht.
Zum Schluß möchte ich Dir noch ein schönes Wort von Blumhardt mitteilen: „Du mußt es so halten: in den Dreck neinpatsche ist kei Sünd, aber im Dreck liegenbleibe, das ist arge Sünd.“
Montag.
Ganz auffallend oft erlebte ich in der letzten Zeit, daß sich Familien bei der Beerdigung zanken. Zum Beispiel: Gleich nach der Ansprache in der Kapelle, als die Träger den Sarg noch nicht aufgehoben hatten, zog der 71jährige Vater schimpfend über den Sohn, der zum Glück nicht anwesend war, her. Infolge seiner Wut hatte er von meiner Ansprache natürlich nichts gehört. Ich fragte mich: „Warum spricht eigentlich der Pfarrer?“ Denn nicht drei Minuten vorher hatte ich gesprochen: „Vergib uns unsere Schuld, wie wir vergaben…“ Ein paar Tage darauf geschah Folgendes bei der Beerdigung: Beide Parteien sind unzufrieden mit dem Pfarrer, weil er es den „anderen“ nicht gegeben hat. Es wird richtig laut geschimpft – unmittelbar nach der Ansprache und nach dem Zuschaufeln des Grabes. Die eine Partei rief in weinerlichem Tone ins Grab zu dem Toten: „Du hast genug gelitten“, sollte heißen: durch die andere Partei gelitten. Wie ohnmächtig, wie wenig eingreifend ist doch unser Wort. Und ich hatte so ernst gesprochen, wie nur möglich. – Folgendes erlebte ich noch: Ein Sohn fragte mich an dem Grabe seiner Mutter: „Ruht sie wohl?“ Da konnte ich doch ,,Ja“ sagen. Aber dann kam die Frage. „Habe ich genug für sie getan?“ Da konnte ich nicht „Ja“ sagen. Ich kann es nicht beurteilen, und da mir im Augenblick keine Antwort kam, schwieg ich. Es sind solche Fragen ja eigentlich Selbstfragen, Selbstanklagen. Und wir Pfarrer haben ja nicht das Recht zu beruhigen, wenn das eben geschlossene Grab anklagt.
In meinem Konfirmandensfragekasten steckten folgende Fragen:
1. Müssen wir, die wir noch Kinder sind, Gott auch schon über alles lieben?
2. Wieso ist die Welt so ungerecht, wo Gott doch alles leitet und für jeden Menschen das Beste will?
Auf Urlaub.
Lieber Freund. Ich bin nicht glatt und unbeschwert fortgefahren. Es blieb so vieles an Menschen und Dingen unerledigt zurück. In der nächtlichen Bahnfahrt konnte ich natürlich nicht schlafen. Wenn doch meine Gemeinde einmal in meinen Beruf hineinsehen könnte. Die meisten Kirchenräte und Gemeindevertreter haben ja keine Ahnung, von anderen ganz zu schweigen. Die Menschen ahnen nicht nur nicht den Umfang des Amtes, dies In-Anspruch-Genommensein von früh bis spät, sie ahnen auch nicht, wieviel Menschen doch immer noch zu uns kommen, wieviel Seelsorge in der Studierstube des evangelischen Pfarrers ist (an Besuchen und Briefen), wie die Nöte der Menschen auf uns lasten, wie die Not der Zeit uns treibt, ahnen auch nicht, daß wir nie fertig werden mit unserem Beruf, immer leiden unter unserer Unzulänglichkeit und unserer ganzen Gebundenheit.
Also nun bin ich wirklich auf Urlaub, es klingelt weder an der Haustür noch am Telefon. Dabei kann ich ziemlich beruhigt sein: Die Pfarrgehilfin steht am Steuer des Pfarramtes und sendet ihrem Kapitän alles nach, was nötig ist. Gestern, am ersten Tag hier, las ich die Korrektur meines Gemeindeblattes. Für Gebildete und für kluge Arbeiter ist es wieder eine gute Nummer, aber für die anderen, die armen alten Mütterchen, und für die oberflächlichen Leser? Immerhin ist es gut, daß auch ganz Harmloses und Fröhliches drinsteht.
Wie man auf Urlaub liest! Den Jeremias von Stefan Zweig las ich schon einmal in der Arbeitszeit, übersprang hier und da Zeilen, jagte durch die Seiten. Nun habe ich ihn hier noch einmal gelesen, Zeile für Zeile, langsam und still. Ich stehe noch ganz unter dem Prophetsein-Müssen dieses Mannes: „Sein ist das Wort, mein nur die Lippe“. Gottes eigenes Wort sagen müssen, Gottes eigenen Willen künden müssen – ach, so ein Sandkörnchen davon erleben wir ja doch. Und sandkörnchenhaft erleben wir auch die Wut und den Haß der anderen Menschen, der Großen. Und sandkörnchenhaft auch die Not und den Zorn, daß man von Ihm sprechen muß, und die Gegenwehr gegen Seinen Willen. Manchmal, manchmal, und dann nur Sandkörnchen. Aber das möchte ich heute doch sagen. Oder ist es schon wieder zuviel gesagt? Gestern nachmittag lag ich am Wattenmeer. Meilenweit tritt das Wasser zurück. Sand, Wüste, tot – und war doch vor sechs Stunden Leben, Bewegung, Wucht, Kraft, Schwung. Die Natur ruht aus, wie die Blumen in der Nacht ruhen. Nur die Pfarrer sollen Sonntag für Sonntag immer Flut sein, immer Bewegung, immer Kraft, immer Schwung. Welch eine Unnatur. Der Prophet spricht, wenn Gottes Wille ihn treibt, der Pfarrer, wenn der gregorianische Kalender auf Sonntag und die Uhr auf 10 Uhr steht. Kann das noch Reden-Müssen sein? Kann das noch Zeugnis sein? Aber ich weiß keinen Ausweg aus unserem Religionsbetrieb. Man kann sich eigentlich nur wundern, daß doch noch so viele Menschen bei den sonntäglichen Kanzelreden getroffen werden.
Weißt Du, schön ist auch, daß mich hier kein Mensch kennt. Niemand will etwas von mir, niemand will gegrüßt sein, ich brauche keinen Menschen ängstlich anzuschielen: kenne ich den, oder nicht. Rücksichtslos vermeide ich hier Bekanntschaften. Allerdings den 70jährigen gemütlichen Ortspfarrer habe ich diesmal schon aufgesucht. Im vorigen Jahr habe ich mich dazu erst in der letzten Woche aufgerafft. Pfarrer auf einer Nordseeinsel zu sein. Dieser stille Winter. Beneidet habe ich ihn gestern gründlich. Und doch ist es mein Schicksal und mein Los, in der Großstadt zu stehen und zu arbeiten.
Übrigens – nachgehen tun mir die Menschen aus der Gemeinde doch. Am meisten immer noch der Selbstmord von U. Aber auch Fräulein H., der ich gestern schrieb. Du hast ja ganz recht, daß ich auf ihre Klagen nicht eingehen soll, daß sie eben geistig krank sei. Aber mit dem Nicht-Eingehen ist auch noch nichts geschehen. – Gestern bekam ich einen Brief aus Dresden von einer Mutter, die mich um Rat wegen ihres 27jährigen Sohnes bittet, welcher Psychopath und opiumsüchtig ist. Wohl schreibe und antworte ich, aber wichtiger noch ist ja das andere. Nur kann ich es nicht immer, aber manchmal doch. Dann spüre ich, daß ich in eine andere Welt hineingreife, daß ich an einen anderen Machtbereich taste. Nur oft geht es gar nicht. Da ist man so verstrickt in die täglichen Sachen des Amtes, auch in die eigenen Sachen, daß das priesterliche Gebet völlig unmöglich ist. Blumhardt konnte es wohl immer, und sein Gebet war wirkende Macht. „O der unerkannten Macht von der Heil’gen Beten“ steht in unserem Gesangbuch. Nur das priesterliche Gebet ist eigentlich das, was für mich Gebet zu nennen ist. Aber wirklich: manchmal ist man so herausgefallen aus all’ dem, daß man sich gar nicht traut. Es ist mit dem Menschenherz wie mit dem Meer: hinauf – hinab, hinauf – hinab.
Nun will ich in Ruhe (was für ein Gefühl!) den wirklichen Jeremias in der neuen Übersetzung des Kaiser-Verlages lesen. „Betört hast du mich, Gott, und ich ließ mich betören.“ Während ich schrieb, war und ist Gewitter, Gewittersturm – und ich muß meinen Briefbogen ordentlich festhalten. Vielleicht steht auch etwas im Brief davon.
Nordsee. Mittwoch.
Es sind irgendwie große Tage für mich, und deshalb mußt Du daran teilnehmen. Wenn doch die Feder so eilen und das Papier alles so fassen könnte, wie ich möchte. Ich habe den Propheten Jeremias nun in der neuen Münchener Ausgabe gelesen. Und es brennt und lastet und schmerzt mir auf der Seele, das eine Wort: Prophet. Gott spricht: „Ich habe nicht zu ihnen geredet und doch verkündigen sie.“ Ist das nicht die Anklage Gottes gegen die Kirche? Wieviel wird auf den Kanzeln geredet, was nicht einmal Verkündigung sein möchte, sondern Ausübung eines bezahlten Berufes, Teil eines Amtes – wie das Ausfüllen von Listen auf Deiner Bank in Deiner Werkstudentenzeit, und meine Kommandos auf dem Kasernenhof. Verkündigung. Wer hat so zu Wilhelm II. gesprochen wie Jeremias zu Jojakim (Kap. 22, 13-19)? Immer wieder scheint die Kirche den Religionsbetrieb zu übernehmen, wie damals all’ die Hohenpriester, Priester und „Propheten“ und scheint gar zu leicht Gott und Seinen Willen zu vergessen. – Übrigens greifen die Propheten recht erheblich in das öffentliche Leben und in die äußere Politik. Wie kündet Jeremias den Zorn und das Unheil über das Volk wegen des Vertragsbruches bezgl. der Sklaven und Sklavinnen. Wegen eines Vertragsbruches der ganze Zorn Gottes. Wo hat die Kirche beim Vertragsbruch gegen Belgien Gottes Zorn über das deutsche Volk verkündet? Vertragsbruch zieht allemal Gottes Zorn, Gottes Gericht nach sich. Überhaupt geht mir an dem Propheten Jeremias ein gut Stück unserer Zeit auf. Niemand hört aus dem Geschehen unserer Jahre den Bußruf Gottes. Niemand sieht in der Notzeit des Krieges, der Revolution, der Nachkriegszeit das Gericht Gottes. Und doch spricht Gott: „Dein Wesen und deine Werke haben dir das eingetragen. Es ist deiner Bosheit Schuld, daß es dir so bitter ans Herz greift“ (Kap. 4, 18). Wo ist Buße? Wo ist Demut? Statt daß wir Asche aufs Haupt streuen, in härenen Gewändern einhergehen und uns beugen unter Gottes gewaltige Hand – machen wir Umzüge und Paraden mit Musik und stolzen Reden.
Was sind die Umzüge in den alten Uniformen mit den Orden pp. anderes als der Protest gegen das Besiegtsein? Man will nicht besiegt sein, will sich nicht beugen Unter Gottes Geißel. Paraden sind sichtbar werdender, in Erscheinung tretender Stolz und Machtwille – aber nicht Buße.
Und darum – ich glaube es ganz bestimmt – wird das deutsche Volk noch viel tiefer hinein müssen in Not und Unheil. Gott läßt sich das nicht bieten.
Jeremias weiß sich gesandt. Weiß ganz genau, was Gott spricht und was der Mensch Jeremias spricht. Und wir? –
Auf einmal Sonne. Bisher seit früh Regen. Gestern abend lag ich am Meer und in der Ferne zuckten Blitze. Da sagte ich mir, daß ja jeder Mensch sandkörnchenhaft einen Auftrag von Gott hat. – Merkwürdige Sachen kann man hier sehen. Ein Jungfrauen-Verband veranstaltet hier unter einem alten, immer lächelnden Pastor Freizeiten. Die jungen Mädchen baden sehr munter und weltlich im Familienbad wie alle Menschen hier. Wenn die Zeit herum ist, winkt die Leiterin mit einer Flagge, auf der ein Kreuz und nur dieses ist, ins Meer, worauf die jungen Mädchen z. T. gehorchen, z. T. auch nicht. Mir erscheint es richtiger, man winkt mit einem Badetuch, als mit einem Kreuz.
Was machen wir heute überhaupt alles mit dem Kreuz. Wir tragen es stolz als Brosche auf der Brust, hängen es als Fahne aus dem Fenster, verwenden es als Buchschmuck. Jesus Christus brach unter der Last des Kreuzes zusammen. Weil wir Menschen das Kreuz als schmückendes Abzeichen tragen, merkt auch kein Mensch, daß ein Kreuz am Badestrand sehr vieles durchkreuzt. Beschämend ist, wie die Fremden sich hier gegen die Einheimischen benehmen. Es gibt eine ganz bestimmte Fremdenfrechheit und Fremdenanmaßung. Warum? Nur weil man Geld hat. Geld gibt Macht. Das ist sein Hauptverderbnis. Die Friesen hier reagieren übrigens gegen die Fremdenfrechheit mit einer köstlichen Ruhe und Langsamkeit. Sie tun wohl, was die Geldfremden verlangen, aber wie! Noch sind die Friesen nicht Sklaven; noch kriechen sie nicht.
Donnerstag.
Als ich gestern über die Kirche schrieb, meinte ich nicht, daß nicht allenthalben auch innerhalb der Kirche starkes und echtes Sendungsbewußtsein sein könne. Aber wenn ich z. B. an den so jungen Hilfsprediger L. denke, der von der Kanzel die Hörer zählte – vor der Predigt die auf der rechten Seite, nach der Predigt die auf der linken Seite (NB. während die Gemeinde singt), so graut mir doch vor solchen kirchlichen Beamten.
Eine große schwarz-rot-goldne amtliche Fahne wehte gestern auf der Insel, während sonst auf den ca. 100 Burgen am Strand überall nur schwarz-weiß-rot zu sehen ist. Sehr interessant waren die Bemerkungen der wohlhabenden Badegäste, die an der jetzigen Reichsfahne vorübergingen. Alle, die ich mit anhörte, setzten die Anhänger der schwarz-rot-goldenen Fahne in ethischer Beziehung herunter. Genau so machen es die schwarz-rot-goldenen Leute übrigens in ihren Blättern und Reden auch – denke nur an den „Friedensgeneral“, den wir zusammen hörten und den demagogischen, pazifistischen Pfarrer, den ich hörte. Offenbar vermögen die Menschen einfach nicht andere Ansichten zu achten. Man achtet nur den, der genau so denkt, wie man selbst denkt, d. h. – man achtet nur sich selbst. Überhaupt, was man heute so Vaterlandsliebe nennt. Wie oft ist es lediglich Selbstbewunderung.
An der Nordsee. Sonnabend.
Auf der Fahrt hierher erlebte ich übrigens einen schlagenden Beweis für Deinen Satz von dem naiven Egoismus der Männer. Kaum fuhr der Zug, so lehnte „er“ sich in eine Ecke, den Mantel über das Gesicht – damit kund und zu wissen tuend, daß er schlafen wolle, während „sie“ das 4jährige Töchterchen erst einmal hinlegen, betten, beruhigen mußte, manches auspacken mußte, sich um des Kindes willen wach hielt; „er“ half ihr nicht, sah nicht einmal nach ihr hin; er war ein Regierungsrat, sonst dick und gemütlich. Offenbar hast Du doch recht.
Ich stehe oft bei beginnender Ebbe am Meer still: von unbekannter Kraft gezogen geht das Meer zurück. Von unbekannter Kraft getrieben geht es wieder vor. Täglich erlebt es die Menschheit zwei Mal und noch hat sie nicht erforscht, woher die Kraft ist, was das für Gesetze sind, die da wirken. Ob wir nicht auch umgeben sind von tausend unbekannten Gesetzen und Kräften, die an uns wirken, uns vorwärtstreiben, uns zurückziehen – wir wissen nicht woher, wozu? Es ist doch tatsächlich so in unserem Leben, einmal geht es voran – dann geht es wieder zurück, hinunter in die Selbstsucht, in die Gier, in die Gottferne.
Ich gehe so gerne am Wattenmeer entlang, wenn eben dort die Flut noch war und noch kein Mensch dort gegangen ist, noch keine Fußspuren. Eben noch Meer – nun Weg. Diesmal ist’s aber ein langes Tagebuch, das abgeht.
Dienstag an der See.
Du hoffst, lieber Freund, die Post ließe mich hier in Ruhe. Ich bekomme genug hierher. Und die verschiedenen Sorgenkinder wollen weiter bedacht sein. Von Frau Neuendorf kam eben ein Brief: der Mann soll sechs Wochen in eine Nervenheilanstalt. Wenn Er nicht handelt, der hier allein helfen kann, dann ist doch alles hoffnungslos.
Ich las in diesen Tagen Bernhard Shaw „Die Aussichten des Christentums“. Das Buch wird viel gelesen werden, gerade in gebildeten Kreisen. Shaw ist ganz in den textkritischen Ergebnissen einer vergangenen Epoche steckengeblieben. Vor allen Dingen sieht er gar nicht, daß ein Jenseits ist und daß Jesus aus diesem Jenseits lebt. So viel Nichtiges an einzelnen Bemerkungen, z. B. über die Wunder, die Armen usw., so verheerend doch die Gesamttheologie dieses Mannes, sofern man diesen Wirrwarr mit Theologie bezeichnen will, ebenso verheerend darum auch die Wirkung dieses Buches. – Gestern schrieb ich an Frau Dr. K. wegen Frieda. Es ist doch jedesmal eine schwere und verantwortungsvolle Sache, direkten Rat zu geben. Ich gebe ja überhaupt möglichst wenig direkten Rat. Wir Pfarrer sind doch nicht Alleswisser. Aber in diesem Fall, wo ich doch nun einmal mit Verantwortung für das Mädel habe, mußte ich so bestimmt abraten. Es ist interessant, zu beobachten, wie die Menschen (ich übrigens auch) hinstürzen, wenn das Meer irgend etwas an das Land spült. Man erwartet irgend etwas Kostbares, Seltenes – und dann ist es eine alte Kiste, ein kaputter Korb, ein morsches Stück Holz; im Grunde erwartet man wohl, daß das Unbekannte des Meeres, die Untiefe, das Undurchforschbare des Meeres irgend etwas bekannt gibt, irgend etwas aufhellt von seinem Dunkel. Das Unbekannte lockt und zieht uns törichte Menschlein. Das Bekannte lassen wir bald liegen. Ob Gott nicht der ewig Unbekannte und ewig Unerforschbare für uns törichte Menschen sein muß? Könnten wir ihn erkennen und kennen – ich glaube wahrhaftig, das Fascinosum würde seine Macht verlieren. Wir würden uns dann unbekannte Götter machen, die wir anbeten würden. Was sind wir doch für ein törichtes Geschlecht. – Gestern erreichte mich die neue Nummer meines Gemeindeblattes. Ob ein Mensch weiß, mit welchen zagenden Gefühlen ich jede neue Nummer, wenn sie schließlich fertig ist, in der Hand halte? Ein ähnliches Gefühl wie das, wenn ich auf die Kanzel gehe. Nur ist das letztere gar nicht damit zu vergleichen, soviel stärker ist es. Es sind mir sogar körperlich die Füße immer ganz schwer. Etwas zu sagen von Gott, von Gott selbst, das dann zu Ihm führen soll: das ist ja eigentlich etwas, was ohne Zittern und Zagen nie geschehen kann. Als Student habe ich darüber gelächelt, daß einer der großen deutschen Mystiker einmal vor Weinen nicht hat predigen können. Jetzt verstehe ich es nur zu gut. Ob die Leute, die über unsere Predigt und unsere Predigtart reden, wohl ahnen, was das heißen will: über Gott reden zu müssen – was doch nur dann sein dürfte, wenn es ein Reden aus Gott wäre! – Aber auch bei dem Blatt muß ich immer denken: ist wohl ein Satz darin, der die Menschen trifft, aufstört, unruhig macht, ein Satz, der den Fuß stillstehen läßt bei dem alltäglichen Trott? Diesmal hoffe ich es von dem Satz des Jeremias: Besser Gottes Knecht, denn der Menschen Herr.
Vielleicht stolpert schon einer in seinem Alltagstrott, wenn er am Zigarrenladen des …platzes neben den Tageszeitungen (mit ihrem durch Überschriften Wichtigmachen von oft ganz unwichtigen Ereignissen) plötzlich liest. „diese Welt ist nur eine Brücke. Gehe hinüber, aber baue nicht deine Wohnung dort.“ Man ahnt gar nicht, wie manchmal ein solches Wort doch trifft. Ich erlebe es, daß ich nach Monaten noch auf ein solches Wort hin angesprochen werde. Es rumort noch im Kopf. Dann bin ich tief dankbar.
Mittwoch.
Am Sonntag hörte ich eine Predigt im Freien. Es war eigentlich ein hübsches Bild: inmitten der Dünen all’ die lagernden Menschen, viel Jugend mit Wimpeln, viele Kurgäste, die sonst sicher nie in die Kirche gehen – so wie man die Bilder der um Jesus lagernden Menschen malt – darüber die strahlende Sonne und in der Ferne das Rauschen des Meeres. Wir Pfarrer hören ja nur selten die Predigten der anderen und wenn, dann fast immer mit Kritik, die sich im Verstande bildet. Ich weiß, wie ich einmal eine Festpredigt vor lauter Pfarrern hielt (das war noch schlimmer, als wenn ich bei Beerdigungen zu lauter Lehrern spreche). Ich kam gar nicht an die Pfarrer heran. Es war zwischen Prediger und Hörer eine Wand. Woraus sich diese steinerne Wand bildet? Aus der Theologie, mit der jeder mißt wie mit einem Zollstock, aus dem Denken, aus dem unbewußten Selbstbewußtsein, daß man selbst den Text doch am besten auslegt, daß man selbst doch viel besser predigt, daß man selbst doch die allein richtige Lehre verkündet, kurz – daß man sich eigentlich gar nichts vorpredigen zu lassen braucht. Merkwürdig: die, die so viel Zuhören verlangen, können selbst so wenig zuhören. Zeigt sich nicht auch darin, daß wir viel zu viel predigen? – Und obwohl ich das alles weiß, übe ich selbst doch Kritik an der gehörten Predigt. Der Pfarrer sprach über Sünde und Gnade. Ich glaube nicht, daß es Stimmung bei mir war, wenn ich zu Dir sage: dieses Thema gehört eigentlich in den Kirchenraum, nicht ins Freie – eben ins Kämmerlein, nicht in die Öffentlichkeit. Draußen spricht neben dem Pastor zuviel anderes: die Kraft der Natur, die Schönheit des Himmels, der Reichtum der Farben. Mir scheint, eine Predigt sollte sich mit dieser Verkündigung der Natur in Einklang setzen und zunächst künden von dem, der das alles geschaffen hat, der der Herr des Lebens ist, der waltet über Natur und Mensch – und sollte dann hinweisen auf unsere Kleinheit und Schwachheit gegenüber der Größe und Stärke des Schöpfers. Die Predigt von Sünde und Gnade, obwohl sie sicherlich sehr ordentlich und theologisch sicherlich ganz korrekt war, verhallt neben der Sprache der Natur. Verstehst Du mich, oder ist es falsch, was ich sage?
Gestern nachmittag von 2-6 Uhr las ich ununterbrochen die Korrektur meines Buches. Es geht mir immer so mit dem Druck: wenn ich eine Sache in den Druck gebe und sie nachher lese, dann bin ich eigentlich innerlich schon irgendwie darüber hinaus. Ich fühle mich schon wieder weiter und vorwärts getrieben. Es ist mir bei allen Arbeiten, die in den vergangenen Jahren von mir gedruckt wurden, immer so gegangen: mit dem Druck schließt sich wieder ein bestimmter Lebensabschnitt ab; ein Gedankenkreis, der ein paar Monate oder länger in mir rumort hat, hat nun Gestalt und Form gefunden, ist zu anderen Menschen hingedrungen und damit objektiviert und von mir abgelöst – und nun geht es weiter. In diesen Tagen las ich die „Frau vom Meer“. Dies hier zu lesen ist gut. Es paßt hierher. Die Formulierung „das Grauenvolle ist das, was anzieht und abstößt“ ist fast à la Rudolph Otto, aber richtig ist es schon. Ich selbst denke mir übrigens die Berge grauenvoller als das Meer (wann werde ich sie endlich sehen?). Grauenvoll gibt für mich nicht das Wesen des Meeres wieder, oder nur zum kleinen Teil. Für mich verkörpert das Meer die Größe, die Weite, die Unendlichkeit, die Bewegung, das Gehen und Kommen, das sich Binden und Auseinandergehen, das Anstürmen und Zerbrechen.
Sonntag, an der Nordsee.
Heute ist Springflut. Das Meer tobt. Der Wind heult. Es ist schön. Oft strahlte die Sonne, dann leuchtete es im Meer schneeweiß – das ganze Meer war von Schaum bedeckt. Oft regnete es dazwischen, dann war das Meer unheimlich, leidenschaftlich, grollend.
Ich aber mußte immer denken: so wie das Meer sollte unsere Verkündigung sein, so Kraft, so Bewegung, so Größe, so Strahlen, so Zorn. Aber wie schwach und flau und klein und trübe ist unsere – meine – Predigt oft. Wir predigen wirklich immer nur Heilserfahrungen, aber nicht Heil, wie Thurneysen neulich sehr richtig schrieb. Wir sollten übrigens nicht nur Heil predigen, sondern auch Unheil – so wie es das Meer heute tut. Gerade heute las ich in des exkommunizierten Joseph Wittig „Leben Jesu“ folgende Sätze:
„O Johannes, hattest du am Jordan gedacht, daß das Lamm Gottes, auf das du mit deinem Zeigefinger gewiesen, so wild werden könnte, wie bei der Tempelaustreibung? Die Menschen denken sich den Herrgott entweder so leise und beinahe furchtsam wie einen alten Mann, oder steif und starr wie einen Richter hinterm langen Aktentisch. Aber in Wahrheit ist alle Wildheit des Sturms, alles Brausen und Toben des Meeres doch nur eine Bewegung seines kleinen Fingers. Wenn er erst selber aufsteht und losfährt. Mein Gott, wenn du einmal Ernst machen solltest, dann würden die Erden und die Sterne, die Sonnen und die Monde durcheinanderfliegen, wie Stäubchen im Wirbelwind.“
Immer nochmal möchte man dem Joseph Wittig die Hand drücken, wenn er so verflucht ketzerische Wahrheiten sagt. Und es kommt richtig eine Freude über mich, daß mitten im Katholizismus dieselben Proteste gegen einen erstarrten Religionsbetrieb laut werden wie bei uns. Natürlich, exkommuniziert mußte er werden, aber was tut das? Vielleicht wird im Katholizismus seine Stimme jetzt mehr beachtet als bisher. Wie genau auf viele unserer Kirchenleute passend auch folgendes (ich meine den 2. Teil, den 1. Teil auf uns alle):
„Die Welt hat uns Priester schon satt. Die Gäste haben genug getrunken von dem alten Wein. Sie trinken noch davon, solange er ihnen vorgesetzt wird, aber ihre Sehnsucht nach ihm ist gar nicht mehr groß. Manche trinken schon lieber Wasser statt jenes Weines. Wenn Jesus nicht kommt und das Wasser in Wein verwandelt, dann wird es bald keine rechte Hochzeitsfreude mehr geben.“ „Wo wir etwas mit amtlicher Gewalt durchsetzen wollen, stehen wir innerlich noch in der Zeit der römischen Gewalthaber; wo wir nur darauf achten, daß Recht und Gesetz erfüllt werde, da sind wir in der jüdischen Gesetzesreligion, die ja auch von Gott kam. Wo wir aber sind wie Kinder Gottes, die den Vater erkennen und lieben und seine Barmherzigkeit hoch über alle Gewalt und alles Recht stellen, da sind wir in der Zeit Christi; da gibt uns Christus den neuen Wein.“
Pfarrer E. hat mir doch neulich im Anschluß an irgend so eine kleine Kirchenzuchtfrage – ich glaube, es handelte sich um die Ausgetretenen – erklärt: „Die Kirche ist so schlapp und weiß so wenig was sie will, daß ich ihr längst den Rücken gekehrt hätte, wenn ich nicht Pfarrer wäre.“ Zu solchen Auslassungen schweige ich. Was soll ich sagen? Ich bin immer ganz bestürzt. Es ist tatsächlich blanke jüdische Gesetzesreligion. Es ist gut von dem Wittig, daß er hinzusetzt: „… die ja auch von Gott kam.“ Ich werde mir das künftig immer sagen und bei mir denken, daß Christus warten kann. O, er muß noch lange, lange warten, bis die Gesetzesreligion aus dem Christentum verschwunden ist. Das muß man ja sagen: die alten Liberalen (Pfarrer und Nicht-Pfarrer) sind der Gesetzesreligion lediger. Wenn sie bloß durch Barth nun endlich lernen wollten, daß es mit ihrem kulturprotestantischen Gemengsel nichts ist und – lernen wollten, sich mehr zu beugen unter den, der über alle Vernunft ist. Auch da kann Christus warten. – Ich habe in meinem Amt erfahren, daß man in religiösen Dingen mit amtlicher Gewalt und mit rechtlichem und gesetzlichem Arm nichts, aber auch gar nichts für das Reich Christi erreicht, im Gegenteil, nur zuschüttet; darum protestiere ich in Pfarrkonferenzen immer gegen gesetzmäßiges Vorgehen gegen Ausgetretene, Wiedereintretende, Selbstmörder usw., erscheine dann als weichlich und Kompromißmacher pp. – und es ist doch nur der Protest gegen die Verjudaisierung des Christentums, die Paulus wahrlich energisch genug bekämpft. Wirklich, Christus muß lange warten. Und wer weiß, an wie vielen Punkten unser Urteilen – Deins und meins – drinsteckt in jüdischer Gesetzesreligion und – wir merken es gar nicht einmal.
Nun aber Schluß für heute. Es ist fast zu spät für Urlaubstage. Gute Nacht.
Dienstag.
Lieber Freund. Wenn man doch in der Arbeitszeit so hintereinander ein Buch lesen könnte, wie hier. An sich müßte man ja ein Zimmer für sich haben. Das wäre volle Erholung. Aber wie soll dazu das Geld reichen.
Frieda K. hat mir einen feinen, innerlichen Brief geschrieben, so voll Selbsterkenntnis und Geständnis der eigenen Fehler, daß man wieder spürt: wie reif dieser 16jährige Mensch schon ist. Bisher war ihr von allen Lehrern und Erziehern immer eingetrichtert worden: „Arbeite an dir.“ Nun war ich in unserer Aussprache vor meiner Abreise gekommen und hatte gesagt: Laß das Arbeiten an dir, arbeite lieber an andern. Dadurch war sie ganz „durcheinandergekommen“, wie sie schreibt. Du verstehst schon, wie ich es meinte: der Blick sollte fort vom eigenen Ich und hin zu den anderen. Wenn die Formulierung mit dem Arbeiten an sich selbst und an andern gewiß nicht sehr glücklich ist, so stimmt die Sache als solche doch. So schrieb ich ihr auch gestern und zwar vier dieser großen Seiten: Der Kern aller Fehler ist der Ichwille, die Ichsucht, das Drehen um sich selbst. Sowie ich die andern Menschen will, ist ein Stückchen des Ichwillens zerschlagen. Arbeitet man hingegen immer nur an seiner eigenen Vervollkommnung, so kommt man vom Ich gar nicht los, der Ichwille wird gerade gesteigert, die Fehler werden immer größer. – Sehr interessant war mir auch ihr Gedanke: solange man noch so voll von Fehlern wäre, wirke man nur abschreckend. Ein Gedanke, den in dieser netten Form nicht viele Menschen haben werden, im Inhalt aber sehr viele. Und er ist doch ein großer Irrtum. Abschreckend wirkt ja nur die Tugendhaftigkeit – eben weil sie immer Lüge ist. Denn der Mensch ist Sünder. Durch Fehler, sofern man um sie weiß, wirkt man nie abschreckend.
Neulich sprach ich einen Pfarrer vom Festland, gleich gegenüber von unserer grünen Insel, in der Marsch: Er hat 400 Menschen in seiner Gemeinde. Der Glückliche. Traurigerweise entrollte er sozial genau dasselbe Bild, wie wir es haben: „Was die Bauern wollen, wollen ihre Arbeiter eo ipso nicht. Was die Landarbeiter wollen, wollen die Bauern eo ipso nicht.“ Eine große Kluft – auf dem Lande, fern von aller Industrie, unmittelbar vor dem großen Meer. –
Donnerstag.
Das Tagebuch ist hier etwas weitschweifig, lieber Freund. Macht nichts. Es ist Urlaub und da braucht nicht alles Telegrammstil zu sein. – Eine meiner Rentnerinnen, die zum 2. Mal am Kehlkopf operiert, dort noch eine offene Wunde hat, ist nun noch am Brustkrebs operiert. Über manche Menschen kommt die Krankheit wie die Flut. Immer noch mehr, immer noch mehr. Und dann steht man als Pfarrer dabei. Innerlich packt mich immer stärker ein Zorn gegen die Krankheiten und das Leid. Ich möchte die Krankheit richtig körperlich vor mir haben, um mit ihr kämpfen zu können. Ich weiß es immer stärker in den letzten Jahren: Gott will Leben, will Gesundheit. Mir ist immer deutlicher, wie Jesus heilte: Aus Kampf gegen die Gottwidrigkeit des Leides und Todes heraus. Daran denke ich innerlich. Aber äußerlich – zum Kranken – muß ich doch ganz ruhig bleiben. Ich glaube, ich sage kaum etwas. Und meist gehe ich dann ganz bedrückt davon. Besser ist mir schon, wenn ich einen Psalm oder einen Liedervers habe sagen oder vorlesen können. Du fandest das mal zu absichtlich, zu gewollt. Ich frage ja aber die Kranken vorher, ob ich etwas vorlesen darf. Einer hat es mir mal abgeschlagen. Ich weiß nicht, warum. Er starb bald darauf. Du siehst daraus, daß zum mindesten die Möglichkeit des Abschlagens besteht. – Auch noch von anderen Kranken schreibt meine Pfarrgehilfin. Ein Fall, wo die Not schon so überreich ist: Da muß nun der Mann sich noch krank legen. Wirklich: Not und Leid und Krankheit sind Gottes Feind.
Hier erlebte ich als Zuschauer Evangelisationsbetrieb eines Jünglingsvereins. Er zog gleich sehr anmaßend ein. Alle neuankommenden Gäste werden stets von einem großen Kreis Neugieriger am „Bahnhof“ beguckt. Es ist immer ganz lustig. Als der Jünglingsverein auf der gemütlichen Pferdebahn angekommen war, wurde erst gesungen: „Laß ein Mann mich werden …“ und dann bedankte sich der Leiter „für den freundlichen Empfang“. Der galt doch eigentlich nicht den Jungens, sondern auch den anderen Zureisenden, und einen „Empfang“ kann man dies neugierige Begaffen doch kaum nennen. Etwas ironisch lächelnd sahen die Badegäste zu. Einen Abend lang wurde an demselben Bahnhof evangelisiert. Eine leidliche Kapelle von Blasinstrumenten spielte. Zunächst einen Choral. Dann „Deutschland, Deutschland über alles“, während bei einer Evangelisation doch wenigstens mal Gott über alles sein müßte. Vor dem Deutschlandlied wurde kommandiert: Mützen ab. Vor dem Choral zum Anfang und zum Schluß – nicht. Deutschland ging offenbar wirklich „über“ alles, also auch über Jesus Christus. Man sang nämlich zum Schluß mit bedecktem Haupt: Ich bete an die Macht der Liebe. Zwischendurch war eine Rede an das herumstehende Volk der Badegäste: Heillos wäre „jetzt“ die Zeit, heillos die Jugend. Aber hier wären junge Leute, die wären „eine freie, reine, heilserfüllte Jugend“. Von dem Redner war es zum mindesten sehr unpädagogisch, diese Bengels von 16 bis 18 Jahren so öffentlich als über den anderen stehend zu bezeichnen. Das ganze mit Leutnantsstimme hineinschreiend, auch das Wort: Es ist in keinem andern Heil. Ich überlegte mir, ob so etwas wohl Sinn habe. Die Badegäste standen innerlich gänzlich unbeteiligt, lächelnd, neugierig dabei. Gewiß, es kann ja immer sein, daß bei einem solchen Betrieb ein Mensch getroffen wird. Aber ich meine doch: Das Wort kann nicht so angeboten und ausgeschrien werden, wie Bier, Kognak, Paganie-Gebäck, Schokolade. Es ist nun mal kein Handelsartikel. Es mag noch gehen, wenn leidenschaftliche, glühend erfüllte Menschen auf dem Marktplatz sprechen müssen. Aber solche Jungens können den alten Badegästen wirklich nur Amüsement sein.
Übrigens hat nicht einmal Paulus auf seinem Marktplatz in Athen gewirkt. Gerade dort, wo er gleich ins Große ging, entstand keine Gemeinde. Und das war Paulus! – Charakteristisch war, daß die Jungens im Gottesdienst die Plätze einnahmen und den Frauen nicht Platz machten. Ich habe dem Leiter sagen lassen, er möchte vor der nächsten Evangelisation seine jungen Leute erst einmal zur elementarsten „weltlichen“ Höflichkeit erziehen. – Einen ganz ähnlichen Fall hörte ich von einer Pfarrerkonferenz. Der Leiter ließ Choräle singen, dann auch „Deutschland, Deutschland über alles …“ und dazu ließ er aufstehen! Bei den Chorälen nicht! Hierbei geht es mir erst auf, daß unser Deutschlandlied, das ich an sich sehr gern habe, in religiösen Versammlungen doch geradezu wie eine Gotteslästerung ist. Gott geht über alles in der Welt. Er allein. Was fällt uns ein, Ihn von seinem Thron abzusetzen und ein Geschaffendes dorthin zu setzen.-
Noch etwas anderes ist zu sehen: die jungen Mädchen von der Freizeit veranstalten abends in dem kleinen Kirchlein Jugendgottesdienste mit vielen Lichtern und Kränzen, nicht mehr so aus sich heraus, wie einst die Jugendbewegung, sondern schon als Form – hingen NB. über das Kruzifix ein Blumenkränzlein. War es doch zu ernst, zu fordernd ohne Kranz? Alles war Stimmung. Wichtig aber ist mir dies: draußen im Vorraum standen die Kurgäste, im Dunkeln, schauten mit vorgestrecktem Hals in das helle Lichterkirchlein hinein. Sie standen von fern. Fern war ihnen das Ganze. Wie eine entschwundene Welt. Sehnsüchtig gingen die Augen in die Ferne. Es war mir, als käme „das Heilige“ aus dem Kirchlein und machte die Gesichter sehnsüchtig, aber in der Sehnsucht hell. Sie können nicht mehr mitmachen. Aber es kommt zu ihnen. – Diese Mädels, die gar nicht an Evangelisation dachten, sondern ganz für sich feierten, – evangelisierten.
Ich mußte bei diesen bestrahlten, sehnsüchtigen Gesichtern der Kurgäste an meine Weihnachtsgottesdienste im Gefängnis denken. Das Kind wachte auf in diesen z. T. scheinbar rohen, gefühllosen Menschen. Das Kind oder das Gute, das Reine, die Liebe – was, läßt sich nicht sagen – ein Strahl aus Gottes Welt. Er strahlte hernieder aus den Lichtern und aus der Geschichte vom Kind in der Krippe und legte sich auf die verlebten und verwitterten Gesichter und machte sie ganz hell.
Und mich – strahlte gestern die untergehende Sonne an. Es war gar nichts von ihr zu sehen, nur ein goldener Streifen ging aber durch die dunkeln Wolken. Die Wolken hatten alle einen goldenen Rand. Dann wurde der Streifen und die goldenen Ränder rosa. Und über dem Meer bildete sich ein weites rosa Tor. So sah ich es noch nie. Ein weites Tor von rosa, bereit, die Königin Sonne zu empfangen. Und dann kam sie aus ihrem dunkeln Wolkenmantel heraus – glutrot, langsam sinkend, bis sie dastand als glutrote Feuerkugel, alles mit Rot überflutend, Meer und Wellen und Dünen und Himmel und Mensch. So sank sie langsam in ihr glutendes Meer. – Mir war es so, daß ich aufstehen und die Mütze abnehmen mußte. Sie kam und leuchtete und strahlte als Bote ihres Schöpfers. Ich habe viel geschrieben in den vergangenen Tagen. Die Gemeinde, auch die sonst an mir hängende Briefgemeinde (Personalgemeinde darf man doch nicht sagen, weil das nie Gemeinde wäre) läßt ihren Pfarrer nicht los. Und das ist ja auch gut.
Für heute habe ich auch Dir genug geschrieben – und habe doch noch viel mehr erlebt.
Sonnabend.
Wie leicht man die Jugend – ohne es zu wollen – zur Phrase und inneren Unwahrhaftigkeit erzieht, beobachtete ich soeben. Eine ganze Reihe B.K.s (Bibelkränzler) zogen singend in ihren Abendgottesdienst mitten durchs Dorf. Warum nicht ein frisches Marschlied, Jägerlied, Volkslied? Das wäre ehrlich gewesen. Statt dessen sangen die durchschnittlich 15 Jahre alten Jungens ein Lied, in dem vorkam: „dem größten König eigen“. Eine halbe Sekunde nach Beendigung dieses Liedes rief der Leiter, den ich auf ungefähr 30 bis 35 Jahre schätzte: „Kopf hoch“, „Ordnung in den Gliedern“. Und das Jungenhafte kam so ganz richtig heraus. Noch nicht eine Minute nach Beendigung dieses Liedes sagte ein Junge zum Nachbar: „sieh, was das Mädel für weiße Zähne hat“. Überhaupt und natürlich gingen die Blicke reichlich nach den Mädels. Im Gottesdienst, im Kirchraum, im Heim mag man solche Lieder singen, wenn man immer gleich dazusetzt: Es ist Wunsch und Sehnsucht. Da ist man wenigstens um den Stoff gesammelt. Aber auf der Straße mit all den Dingen, die Jungens ablenken, solche Lieder mit so hohen Worten singen? Ich kenne übrigens auch Erwachsene, die ein inneres Widerstreben gegen die sicheren, allzu sicheren Gesangbuchlieder haben z. B. „Wir entsagen willig allen Eitelkeiten, aller Erdenlust und Freuden“. – Noch eins fällt mir auf: Die gesamte christliche Jugend, die sich hier reichlich versammelt, spielt täglich Soldaten. Du kannst Sturmangriffe (allerdings Muster 1914, nicht 1918, geschweige denn Reichswehr 1925) sehen. Die Jungens kommandieren – natürlich – im Leutnantston, der doch – ach – nur Kasernenhofjargon war und im Todesernst so ganz wegfiel. Und Du siehst täglich Kriegsspiele. Offenbar weiß man die Jugend körperlich nicht anders zu beschäftigen, als dadurch, daß man sie Krieg spielen läßt. Tut das der Wehrwolf, so weiß er es eben nicht besser. Aber tut es die ausgesprochen christliche Jugend, die zwei Stunden später „dem größten König eigen“ singt, dann ist das eine ganz andere Lage. Wer mit Ernst Christ sein will, sollte wissen, daß im Himmel Trauer über jeden Krieg ist, wie Blumhardt gesagt hat. Die christliche Jugend sollte um diese Trauer wissen! Sie sollte wissen, daß der Krieg Satansgeburt ist, mit Notwendigkeit herausgeboren aus der Sünde des Menschengeschlechts. Mit dem Satan spielen? Wehe, wer als Christ dazu die Jugend anleitet! Mit der Sünde Sport treiben? Diese christlichen Jugendführer wissen scheint’s nicht, was sie tun.
Nordsee-Sonntag.
Wirklich Nordsee-Sonntag heute. Seit langem zum erstenmal strahlender Sonnenschein, blauer Himmel und das Meer doch stark und bewegt. – Ich war zum Kirchgang in der kleinen Inselkirche. Kinder aus der Stadt, 10-12jährige Mädels, sind in einem Heim. Hier fällt es einem noch mehr auf, als in der Stadt selbst, wie alt die Gesichtlein, wie frühreif, fast möchte ich sagen, wie abgearbeitet sie schon aussehen. Und die Augen zeigen, daß sie alles wissen. Sie werden früh sterben, früher als die Landkinder, und werden in den wenigen Jahren dasselbe vom Leben erleben, wie die Leute auf dem Land in langen Jahren. – Es ist sinnlos, über diese Entwicklung zu klagen; denn sie ist zwangsläufig Entwicklung einer absteigenden Kultur. Aber man muß diese Entwicklung sehen und man muß hören, wie einer da ganz langsam und leise richtet. Auch darin haben wir das Gericht zu spüren. Es ist ja alles Folge unseres Abfalls, unserer Gottferne.
Was man doch selbst auf Urlaub für eine Unmenge zu schreiben hat. Wie gern schriebe ich allen Kranken und Armen, die ich sonst versorge, einen Kartengruß. Aber ich kann nur an Ausnahmen schreiben. Mein Konfirmator allerdings machte es besser: seine sämtlichen Konfirmanden und die meisten früheren bekamen von seinem Sommer-Urlaub eine Karte. Er wußte, wie die Gemeinde sich freut, wenn ihr Pastor auch in der Ferne ihrer gedenkt. Aber ich schreibe lieber einigen – wie z.B. der schicksalbeschwerten Frau U. – ausführlich.
Gestern bekam ich einen Brief von dem jungen V., jetzt Examenssemester. Entsinnst Du Dich seiner noch aus der Sozialen Arbeitsgemeinschaft? Er saß da immer mit brennenden Augen in einer dunklen Ecke. Er schreibt: „Ich merke jetzt recht deutlich, daß ich immer noch kein rechter Theologe bin. Die eigentlichen theologischen Probleme ziehen mich wenig. Und doch scheint mir der Pastorenberuf der schönste zu sein.“
Die Sache liegt einfach so, daß er – ohne es zu merken – mitten drin steckt in den Problemen unserer Zeit und sich für die Dinge nicht begeistern kann, die man heute noch vielfach auf der Universität als Theologie treibt. Es war mir doch sehr eigen, daß mir damals Ministerialdirektor M. und Dr. … an einem Tage die Frage vorlegten, ob nichts zur Umgestaltung des theologischen Studiums getan werden könne. Mit einer Reform des Studiums ist aber noch nichts getan. Es sollte eigentlich so sein, daß nur der predigen darf, den Gott beruft. Daß man aber predigen darf, weil man – vor dem Staate ein Abiturientenexamen und vor dem Konsistorium zwei Examina abgelegt hat, die genau so verlaufen, wie jedes zahnärztliche und Brückenbauexamen, das ist doch zu weit ab von dem, wie es sein soll, ist doch zu anders, als es der Sache nach sein darf. So wie die Kirche heute ist, wird natürlich die Auswahl der Pfarrer so bleiben, einige Reformen werden vorgenommen werden, aber im Grunde bleibt alles beim Alten. Ich weiß keine praktischen Wege, wie es besser werden soll. Aber ich spüre, daß es besser werden muß. Und wir haben darin zu warten. Gott schreitet. Es bleibt nicht so wie’s ist. Er wird schon zerschlagen, was zu zerschlagen ist. Er führt herauf, was er heraufführen will. Vielleicht ist es näher, als wir heute sehen. Übrigens hole ich hier auf, was ich in den 11 Arbeitsmonaten an meiner Familie versäume. Hier lebe ich wirklich ein Familienleben. Und ich träume manchmal davon, wie schön das sein muß: Abends 7 oder 8 Uhr zu Haus zu sein und dann wirklich frei zu sein für die Familie. Ein Pfarrer sagte hier zu mir: „Hier lerne ich meine Kinder kennen; ich bin ganz erstaunt.“ Niemand wird sich vorstellen können, daß wir die einzig besuchslosen – und noch nicht mal telephonlosen – Stunden des Abends einfach für unsere geistige Arbeit brauchen, daß wir zur Predigt nur des Abends kommen. Und wie oft ist abends noch irgendein Verein zu besuchen, eine Sitzung, ein Vortrag mitzumachen, ein besonders wichtiges Gespräch zu führen.
Montag.
„Das Martyrium ist der göttliche Ausweis des rechten Priestertums, von welcher Seite das auch immer kommen mag. Wenn ein Priester diesen Ausweis bringen mag, dann kann er alles wagen, was Gott will. Nicht Wunderwerk, nicht Kulturerfolg, nicht Kirchenpracht und Besitz, nicht staatliche Anerkennung und Förderung gibt der Kirche die Freiheit und Kühnheit des Tuns, sondern das Märtyrerzeugnis. Er darf aber nicht zu alt sein.“ So schreibt Joseph Wittig. Sind wir bereit zum Martyrium um Gottes willen? Diese Frage mögen wir Pfarrer uns ruhig jede Woche einmal im Kämmerlein stellen. Aber Bedingung ist eben: um Gottes willen.
Die Relativität der sittlichen Form wird einem hier ad oculos demonstriert. All die biederen Kurgäste – Pfarrer, Justizräte, Studienräte, Ingenieure, Kaufleute, ebenso wie die über diesen Mittelstand an Geldbesitz hinausragenden – laufen im Badeanzug, teilweise auch in Badehosen, umher. Männer und Frauen jeden Alters. So wird die Burg gegraben, in der Burg gelegen, am Strand entlanggegangen, Ball gespielt, Besuche gemacht. Man zieht sich im Strandkorb aus und an. Und kein Mensch findet etwas dabei. Es ist hier normal, das Gegebene, das Gesunde und darum sittlich. Weil es jeder tut, gibt es auch gar nichts zu sehen. Zieht sich in der Großstadt ein biederer Schrebergärtner einen Badeanzug an und bestellt darin seinen Kohl, so wird er in Acht und Bann getan und als höchst unsittlich ausgeschrien, vielleicht sogar als unfromm. Man mag die Begriffe sittlich – unsittlich meinetwegen in solchen Fällen anwenden, aber man vergesse nie, daß es eine Sittlichkeit ist, die sich die menschliche Gesellschaft selbst gibt, die aber nicht ohne weiteres mit dem göttlichen Willen gleichzusetzen ist. Der Wille Gottes ist etwas anderes, als wie es die Menschen mit Sittlichkeit und Unsittlichkeit bezeichnen – er geht quer durch beide hindurch.
An unserer kleinen Tochter sehe ich, wie Liebe und Leid ineinandergreifen, wieviel Leid gerade aus der Liebe kommt. Weil sie so an ihrer Mutter hängt, darum gibt es sehr viel Tränen. Nur nach Tränenvergießen geht sie mit einem anderen mit, läßt sich von einem anderen ins Bett bringen. Aus Liebe ist sie ungezogen. Ist es nicht am Ende bei uns Großen ebenso? Aus Liebe – Ungehorsam, aus Liebe – Leid.
Man spricht immer von der Unendlichkeit des Meeres. In Wirklichkeit ist es ja gar nicht ohne Ende und ohne Grenzen. Es hat seine Grenzen in der Breite und in der Tiefe. Wie ja auch die Sternenwelt in Wirklichkeit nicht unendlich ist, sondern begrenzt und gebannt in Raum und Zeit – wie wir. Aber davon abgesehen: man sieht auch gar nicht das unendliche Meer. Es geht für unser Auge am Horizont mit dem Himmel zusammen und man weiß, es geht doch noch weiter. Aber so ist es ja mit dem Land genau ebenso. Man sieht beim Meer und beim Land immer nur einen Ausschnitt, einen kleinen Teil, einen Bruchteil und hat doch die Idee des Ganzen, man ahnt das ganze Meer, das ganze Land, spricht vom „Meer“, vom „Land“. So darf man auch von Gott sprechen, obwohl man nur einen Bruchteil von ihm erkennt und erfaßt. Macht es eigentlich so sehr viel aus, ob der eine den Bruchteil erfaßt, der andere jenen? Stehen nicht beide vor einem Teil Gottes und sprechen darum nicht beide mit Recht von Gott? Gestern Abend sah ich die rote Sonnenglut wieder hineinsinken ins Meer. Da mußte ich daran denken: so sinkt der Sohn hinein in den Vater, wenn er sich alles hat untertan gemacht, die Frommen und die Ketzer, die Armen und die Reichen, das Leid und den Tod – auf daß Gott sei alles in allem. Als sie hineingesunken war, leuchtete das Meer voll großer Freude.
Nordsee. Mittwoch.
Das ist nun der letzte Gruß vom Meer, gleich beginnt das Packen. Morgen früh 4 Uhr Aufstehen, dann Fahrt übers Wattenmeer. Die Pfarrgehilfin schreibt mir gestern von sechs Kranken der Gemeinde, schreibt selbst: „Sie hören heute von lauter Kranken.“ So zieht mich die Gemeinde schon hin, wie die Ebbe das Meer vom Strand.
Es war reiche Zeit hier und ich bin dankbar.
Es sollte übrigens nicht so sein, daß nur einige Auserwählte solange Urlaub haben. Alle Menschen sollten jährlich einmal aus ihrer gesamten Umgebung heraus, damit Körper und Geist neue Stoffe zugeführt bekommen, damit der Blick sich weitet. „Was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch“ – sagt Jesus. Dieses Wort gilt, denke ich, auch hierfür, gilt überhaupt viel weiter als nur für das Verhältnis der Menschen zueinander. Wenn ich mir für mein Kind einen Schrebergarten erworben habe, so muß ich eben zusehen, dafür eintreten, dafür kämpfen – in welcher Form mir das nun möglich ist –, daß alle die blassen Großstadtkinder rote Backen im Schrebergarten bekommen. Es gilt aber auch für geistige Dinge. Die geistige Ausbildung, die ich genossen habe, muß ich allen Menschen wünschen. „Alles, was ihr wollt …“ Auch dies Wort ist ein soziales Wort und macht einem viel zu schaffen. Ich kaufte mir heute den „Berliner Lokalanzeiger“. Schade, daß man nicht die Pfarrer zwingen kann – alle vier Wochen wechselnd – eine fremde Zeitung zu lesen, außer ihrer gewöhnlichen, und zwar von der „Kreuz-Zeitung“ bis zur „Roten Fahne“. – Besagter „Lokal-Anzeiger“ brachte als ersten Leitartikel in zwei langen Spalten mit Bild die Nachricht, daß irgendein Mann in schneller Zeit den Kanal durchschwommen habe. Dies war also offenbar das wichtigste Ereignis eines ganzen Tages auf dem ganzen Planeten Erde. Daß die Menschen durch solche Kleinigkeit, die irgendwo in Petitdruck auf der letzten Seite genügend erwähnt wäre, so aufgeregt werden, daß sie überhaupt durch die Sport-Höchstleister so in Leidenschaft versetzt werden, ist aufmerksam zu beachten. Meiner Ansicht nach steckt hinter der Sportreklame zu 90 % das Geld.
Enorm hohe Eintrittspreise werden genommen, wenn ein Vor-, Schwimm- pp. Held sich dem aufgepeitschten Publikum zeigt. Und damit die arme Menschheit diese hohen Eintrittspreise zahlt, darum die Wichtigmachung der Sportereignisse durch die Zeitung. Sportheldenverehrung! Reklame! Für die Menschheit ist es doch ziemlich gleichgültig, ob ich in 14 Stunden oder in 13 Stunden über den Kanal schwimme, ob ich im Kanal schwimme oder in der guten Spree. Alles Geldmache – und wie wenige merken es. Der Teufel aber lacht. Immer mehr berauscht man sich an der Körperkraft, und der Teufel lacht auch dazu sein Höllenlachen. Merkwürdig, obwohl die Männer an der See auch helle Kleidung tragen, die sie in der Stadt nie tragen, so hat doch fast jeder irgendein Abzeichen. Es ist wirklich so, es findet sich kaum eine Ausnahme. Irgendein Zeichen, daß man zu dem oder dem Klub, Verein, Bund, Studentenverbindung gehört. Ich habe noch nicht erfahren können, ob das in anderen Ländern auch so ist. Was sollen die Abzeichen? Man könnte ja sagen, es sei Ausdruck der Zusammengehörigkeit, der Freundschaft zwischen den Bundesgliedern. Zum mindestens ist es aber ebensoviel Ausdruck der Abhebung, der Trennung. Man will zeigen, daß man zu dem Bund gehört, also ein anständiger Mensch ist. Man hebt sich mit seinem Abzeichen von anderen ab, trennt sich von ihnen, anstatt daß man das Gemeinsame mit allen Menschen voranstellt. Es ist der Drang zur Absonderung. Wir Theologen sollten dabei nicht vergessen, daß Sünde von Sondern kommt, daß der Geist des Spaltens, daß der große Zerspalter der Menschheit in diesen Abzeichen steckt. Es ist ja überhaupt so wie Dr. G. mir einmal sagte: „Man erklärt: ich bin vaterländisch, um zu sagen, andere sind nicht vaterländisch.“ Ebenso ist es mit den anderen Dingen: ich habe Duellrecht, eine höhere Ehre, um zu sagen: andere haben eine mindere Ehre. Ich nenne mich gebildet, um zu sagen: andere sind es nicht. Ich habe Schmisse, um zu sagen: andere sind nicht so anständig.“ Immer dieselbe Sache: Abhebung von anderen, Absonderung statt Gemeinschaft, Auseinandergehen statt Zusammengehen.
Bremen.
Es war eine schöne Überfahrt in der Morgenfrühe über das Wattenmeer. Das Wattenmeer ist so verhalten. Sein Atem geht leise. Heute abend ging ich ins Kino. Zu Haus kann ich ja nie hineingehen, oder höchstens in ein auserlesenes Stück. Täte ich es doch, so würden gleich 20 Leute sagen: „Na ja, der Pastor hat weiter nichts zu tun, als ins Kino zu laufen.“ Wenn ich hineingehe, tue ich es ja auch nur ans Interesse für die Menschen und für den Stoff, den sich die Menschen vorführen lassen. Denn ein Vergnügen könnte mir das schönste Kinostück nie sein, da ich vom Flimmern immer Kopfschmerzen bekomme. Ich ging also heute hin, nicht in ein sehr elegantes, sondern in ein ziemliches Bumskino. Ich ging auf einen billigen Platz. Die Preise waren übrigens hoch. – Das Publikum! Nicht etwa Arbeiter, höchstens ein paar gehobenere und ein paar junge. 75 % mindestens war Bürgertum, richtiggehender Mittelstand. Ein paar „Elegante“, auf deutsch: fazkige Schnösel waren auch da. Geliebelt wird viel im dunkeln Kino und wegen der Dunkelheit und wegen des Ganzen ziemlich ungeniert.
Ich hatte für diese Dinge noch Augen, da ich ja erst das dritte Mal in meinem Leben im Kino war.
Erst gab es eine katholische Filmgeschichte. Offenbar wenigstens steckte eine katholische Tendenz dahinter. Denn zwischen Krokodilen wurde gezeigt erstens: Kirche und Staat, nämlich der Konflikt dieser beiden Mächte in Mexiko. Sehr plastisch und imponierend sah man Hunderte vor der Kathedrale und im Zuge gegen den Staat protestieren. Der Text sagte, sie strömten noch einmal in die Kirchen (das war aber viel schöner ausgedrückt), ehe sie geschlossen würden. Man sah auch Schutzleute und Soldaten, die eifrigen Kirchgängern die Taschen untersuchten. Dann gab es, glaube ich, wieder Krokodile. Auf einem ritt ein blonder Junge. Meine Nachbarin sagte: „Ach, wie goldig.“ Dann gab es zweitens eine Führung durch die Katakomben mit Mönch zu sehen. Und zum Schluß als drittes Stück des Katholizismus der Knalleffekt: Film vom Katholikentag. Man sah die Massen. Meine Nachbarin pustete vor Erregung ein tiefes: „O.“ Du konntest auch den Nuntius Pacelli die Messe lesen sehen. Er beugte sich – natürlich Großbild – mit betenden Händen nieder. Während Herr Pacelli die Messe las, aß meine Nachbarin Schokolade. Ob man wohl noch mal die protestantischen Modeprediger in Stettin, Berlin und anderwärts bei ihrer Predigt filmt? Man könnte dann den ästhetischen Genuß des Modepredigers durch den Genuß von Schokolade erhöhen. Ich habe wohl selten so empfunden, wie bei diesem Film, was kirchlicher Betrieb mit Massengewinnung und Massenbeeindruckung ist und was – Wortverkündigung ist. Wortverkündigung. Verkündigung von Gott, – von Gottes Wort. Botschaft von Gott und Botschaft von Christus. Botschaft von Gottes Gericht und Gnade. – Wenn Tausende dabei sind, so sollte das höchstens mißtrauisch machen. Bei Jesus hielten nicht einmal zwölf aus. Und Paulus wurde gesteinigt, geschlagen, gestäupt und hingerichtet und Luther beinah auch. Das geschieht, wo Gott dabei ist, wo wirklich von Gott die Rede ist. Schöne Priestergewänder und -schleppen, schöne Hände des Nuntius, Messen – das alles hat mit Gott schlechterdings noch nichts zu tun.
Nach diesem Film spielte ein Geiger. Meine empfindungsreiche und ausdrucksreiche Nachbarin sagte: „Ach süß.“ Es war überhaupt sehr rührselig an diesem Abend.
Zwischendurch erschien Rothenburg o. T. Das schöne Rothenburg. Was macht man daraus im Kino. Eine Dame, Auto fahrend als Einleitung. Nach der autorasenden Dame erschienen im Galopptempo – Schafe und Hirt. Das ruhigste, was ich mir in Deutschland denken kann: eine Schafherde in Rothenburg – bringt das Kino im Eilzugtempo. Im Kino rast alles. Auch die gemütliche Mittelalterpostkutsche von anno 1600 raste auf den Marktplatz, wie man durch die Berliner Charlottenburger Chaussee im Auto im Jahre 1926 rast. Kann man eigentlich nicht langsam gehen und fahren im Film? Hat man das technisch noch nicht heraus? Oder würden die Beschauer es nicht vertragen, einen Menschen langsam gehen zu sehen? Du siehst, ich bin sehr kinofremd. Meine Nachbarin fand es sehr spannend, als der Bürgermeister seinen großen Krug austrank und zitterte fast vor Erregung, ob er es wohl schaffen würde. Du denkst, ich übertreibe? Sie beugte sich tatsächlich voll höchster Erregung und Spannung ganz weit vor. Bei diesem Stück wurde auch von einigen Leuten sehr „schön“ – gebetet und die Musik spielte dazu: Wir treten zum Beten vor Gott den Gerechten. Da wurde es mir nun doch zu viel. Das ist Blasphemie. Wehe, wenn Er selbst seine Gerechtigkeit zeigt. Wehe dem Kino und uns Zuschauern, wenn er nur mit dem kleinen Finger anhebt, zu schalten und walten sein rechtes Gericht. Zum Schluß kam die Hauptsache: „An der schönen blauen Donau.“ Ich hoffte, Wien zu sehen. Das wäre ja zu wenig. Zunächst bekam man Neuyork, dann London, dann Paris, dann Berlin zu sehen. Und schließlich dann auch Wien. Nur ja kein einheitlicher Eindruck. Nur ja eine Fülle von Eindrücken. Wie muß es nur in den Köpfen von Menschen aussehen, die jeden Tag ins Kino gehen. Oder auch nur zweimal in der Woche!
Gräßlich – für meinen kinounmaßgeblichen Geschmack – sind die Großbilder. Diese Schauspielergesichter! Das ist doch kein Leben. Das ist doch alles Lug und Trug. Solche Gesichter gibt es nicht im Leben. Ich könnte kaltblütig auf solche lügenhafte Leinwand-Schauspielerfratze schießen. wenn ich auch nicht mehr Leutnant, sondern Pfarrer bin. Oder vielmehr gerade, weil ich Pfarrer bin. Dieser Lug und Trug! Die armen Kinomenschen. wie werden sie belogen. Die leeren katholischen Kirchen, die eigene Leere und Hohlheit zeigt man ihnen nicht. Nur den Flitter und den Tand. Ich bin redselig heute abend. Aber ich kann doch noch nicht schlafen nach all dem Geflimmer, und es sind ja Ferien. Aber nun wird es doch spät, und ich will es kurz machen. Das Schlimme an den Kinostücken ist, daß die soziale Zerklüftung gesteigert wird. Der Graf in dem letzten Stück sagt von der Sängerin und Schuhmachermeisterstochter: „Mit so einem Mädel wird man schnell fertig.“ Ein Graf und ein Bürgermädchen, „das paßt doch nicht zusammen“. Denn die Schuhmacherstochter habe keine „Ahnen“. Dann holt sie sich ein Buch: „Wie man sich in der vornehmen Gesellschaft benimmt“ usw. Ein Bild von der „vornehmen Gesellschaft“ wird gezeichnet – gewiß es gibt solche leichtsinnigen, hohlen Häuser. Aber da soviel solche Flachheit gezeigt wird, so wird vornehm – flach in den Köpfen der Kinobesucher. Auch liegt über solchen Stücken immer der geheime Schimmer: Wie schön ist doch diese für mich unerreichbare Grafenwelt. Die Wirkung in den Zuschauern: Neid, Begehrlichkeit, Verallgemeinerung. Ich kann das heute abend nicht alles zusammenkriegen. Aber mir scheint, daß die Unwahrhaftigkeit einerseits und die soziale Zerklüftung andererseits das Schlimmste am Kino sind, hinzu kommen: Oberflächlichkeit und Nervosität. –
Ich besah das Rathaus von Bremen, besichtigte auch den Dom, der mir gar keinen Eindruck machte: so düster und so gekünstelt.
Ich stelle eben unwillkürlich sofort die hohe Gotische Kirche, die wir beide so lieben, daneben, mit ihrer klaren Derbheit und steilen Kühnheit. Ob ich wohl ohne diese Kirche Theologe geworden wäre? Ich glaube nicht. Warum bin ich es überhaupt geworden? Warum bist Du es geworden? Bei mir kann die Tradition des Eltern- und Großelternhauses nicht sehr mitgespielt haben; denn meine Eltern wünschten die Theologie für ihren Sohn gar nicht sehr. Ich muß auch sagen, daß all die äußeren Dinge mich in Prima viel mehr reizten, als die inneren; Jurist war eigentlich so das Angemessene für meine damalige Geistesverfassung. Nicht Richter, sondern Verwaltungsstreber, Karriere. Das waren so meine Prima-Ideale. Warum wurde ich nun eigentlich Theologe? Ich schämte mich dieser „niedrigen“ Wahl vor meinen Offizier- und Juristen-Mitschülern etwas – und tat es doch. Warum? Die Sonntagsschule, in der ich als Helfer unterrichtete, war vielleicht so ein geheimer Treiber, dann die männlichen und wahrhaftigen Predigten O.s und dann – unsere alte Gotik-Kirche. Diese drei Dinge haben wohl alle unbewußt das Ihre getan – kurz, ich wurde es gegen mein damaliges Prima-Ideal und -Wünschen. Es ist eine merkwürdige Sache mit der Berufswahl. Vielleicht gehorchen wir da einem Muß, über das man keine intellektuell klare Erkenntnis findet. –
Beim Bremer Dom denkt man unwillkürlich der Vorkriegszeit, die keinen Dom zu bauen vermag, sondern nur solche Gebilde des Putzes zustande bringt, wie den Berliner Dom und daneben solche öden, ausdruckslosen Steinbaukästen-Gebilde, wie so manche Kirche im Berliner Norden und Osten. Die ganze Trostlosigkeit einer gottfernen Zeit wird da repräsentiert. Die Axt war damals schon der Zeit an die Wurzel gelegt. Aber erst 1918 hieb die Axt ein Stück weiter hinein.
Vom Dom ging ich in die Kunsthalle. Die ist gut. Warst du eigentlich im vorigen Jahr dort? Es ist ja alles drin, was ich liebe – Boten, Vorboten eines Zeitwechsels: Liebermann, Slevogt, Courbet, Marces, Trübner. Nur Eugen Bracht, den ich besonders gern habe, fehlt. Diese ganze Künstlergeneration bedeutet mir Freude, Erholung, Glück. Natürlich, mein – Du weißt es ja – inneres Wesen wird nur getroffen durch Michelangelo. Er ist der, der mir auf den Grund geht. Die anderen sind für mich Seen und freundliche Flüsse, wie Havel und Neckar, Michelangelo ist Meer. Wie echt der Liebermann. doch die Menschen sieht, wie Charakter und Seele der Porträts einem entgegenspringen. Sehr fein die Künstlerhände im Ansorge-Porträt. Bei Liebermann ist ein Stückchen Wahrheit. Lange stand ich vor dem Paulus von Rembrandt. Es zog mich immer wieder hin. Es ist Paulus – nur der Paulus, der ruft: „in dem allen überwinden wir weit“, der Paulus, der schaut: „der letzte Feind, der aufgehoben wird, das ist der Tod“, – dieser Paulus ist noch größer, als der des Rembrandt. Mindestens ebensolange stand ich vor dem Jeremia von Leo Samberger. Ich schaute lange in seine harten, stechenden Augen – oder vielmehr, er sah mir ins Auge: drohend – durchdringend – erforschend. Jedoch – es ging mir zum Schluß wie beim Rembrandtschen Paulus: der Prophet ist das noch nicht. Es ist ein todernster, tiefschauender Mann, aber Prophet? Darum wußte in seiner innersten Seele nur ein Großer der Kunst: Michelangelo. Er konnte die Propheten darstellen: Moses, Jesaias, Jeremias, Hesekiel und – die Sibyllen. Es war schön, daß ich als Urlaubsabschluß noch etwas Kunst haben konnte. Von Paula Becker-Modersohn sah ich übrigens nur drei Bilder. Und die machten keinen starken Eindruck auf mich. Vom Grafen Kalkreuth aber sah ich einen schönen Kopf und eine schwangere Frau, ernst die Fülle und das Werden in sich tragend, ernst die Schwere des künftigen Lebens vorausahnend.
Sonntag.
Ich sah heute „unsere“ alte Gotische Kirche in … – nur von außen, aber sie sprach wieder so stark. So still wies sie empor. Und im Zuge? Ich fühlte mich so gezogen zur Gemeinde. Gerade unterwegs war ich gefragt worden, ob ich in eine rein organisatorische Arbeit der Inneren Mission (nicht in unserer Nähe) gehen wollte. Ich kann das heute nicht mehr. Die Gemeinde ist mir mit den Jahren zu wichtig geworden. Und ich spüre zu sehr Gemeinschaft, Gemeinschaft mit Menschen, die ich gar nicht kenne, die aber Sonntags zur Kirche gehen, weil sie sich emporgezogen fühlen. Gemeinschaft durch das gemeinsame Emporgezogenwerden von Ihm. Und wenn sie auch tausendmal nicht wissen, daß Er sie zieht und es tausendmal nicht wissen wollen. Im Zuge – es war in mir wie ein Hämmern. Immer dasselbe Wort. Immer dasselbe furchtbare Wort: Gott, Gott. Ja dafür sind wir da, um auf Ihn hinzustammeln. Er will es. Aber das Hämmern war wie ein Schmerz, wie ein Schlag immer auf dieselbe Stelle. – Du verstehst es. –
Auf dem Bahnhof fing gleich meine Schwierigkeit mit dem Grüßen-Müssen und Nichterkennen an. Die Leute nehmen es mir ständig übel, daß ich sie nicht erkenne. Schleierhaft ist mir nur, warum sie den Pfarrer nicht mal zuerst grüßen. Ich freue mich immer auf den Winter, weil es dann dunkel ist und ich niemand mehr zu erkennen brauche. Der Urlaub mit lauter Menschen, die man nicht zu grüßen braucht, ist zu schön. Meinem Kollegen geht es übrigens ähnlich wie mir. Aber ich muß froh sein: der erste Mensch, den ich nicht gesehen habe, sagte mir freundlich und erfreut: guten Tag. Wer war’s? L … mit ihrem gemütlichen Bräutigam. Sie gehört übrigens zu den Menschen, die irgendeine Predigt von mir mal angefaßt hat. Als ich ankam, erwartete mich meine Pfarrgehilfin. Wir haben gleich noch alles Dienstliche durchgesprochen. Viel Post liegt nicht da, vielleicht zehn Sachen, die zu erledigen sind. Rührende Leute haben Blumen gesandt. Selbst in der Großstadt gibt es noch Menschen, die wissen, wann ihr Pastor aus dem Urlaub zurückkommt.
Montag.
Um 7 Uhr Konfirmandenstunde. Dann waren 15 Leute da. Scherzeshalber habe ich sie für Dich Dorfpastor gezählt. Drei waren dabei, die Geld haben wollten, darunter Herr B., der sich bei den Elternbeiratswahlen auf die religionsfeindliche Liste hat stellen lassen. Ich erklärte ihm gelassen, ich hätte mir vorgenommen, ihm nichts mehr zu geben. Politisch könne er denken und arbeiten, wie er wolle, aber hier handle es sich um die Religion. Da müsse er auch konsequent sein und nicht zum Pfaffen laufen. Er erklärte, er wäre ohne sein Wissen auf die Liste gekommen. Er verstünde gar nicht, wie ich das so schwer nehmen könnte, seine Frau wäre sogar sehr religiös, er allerdings sei im Kriege von der Religion abgekommen. Seine Kinder aber sollten Religionsunterricht haben, man könne nie wissen, wozu sie’s mal brauchen könnten (wörtlich!). Diese Gebrauchsreligion hat nur nichts mit Gott zu tun. Sie entspricht den Opfern, von welchen es heißt: ich mag ihren Rauch nicht und das Geplärre ihrer Lieder nicht. – Zum Schluß gab ich ihm doch 2 Mark, weil er mit seiner Religionsabnahme im Kriege die Wahrheit gesagt hatte und weil er ein kranker Mann ist. Nur zwei Besuche habe ich gemacht, aber längere. Ein junger Pastor vom Lande war hier. Ich bohrte an, ob er auch fleißig arbeite, wissenschaftlich usw. Er erklärte stotternd, seine Schwiegermutter sei so lange dagewesen. Du, ich warne Dich vor dem Lande. Es scheint verhängnisvoll zu sein. Du liebe Zeit, wenn ich denke, was meine Schwiegermutter von mir sieht, wenn sie hier ist. Aber wir sind auch nicht für unsere Schwiegermütter da, sondern für eine Gemeinde. Du siehst an der Schrift, daß es schon sehr spät, oder vielmehr sehr früh ist. Um 9 Uhr kam ich zum Abendbrot. Da waren die ehemaligen Konfirmanden schon da. Und hinterher erschien noch Dr. O. M.
Der erste Tag wieder in der Gemeinde. Es ist schön. Nur Zweien konnte ich so gar nicht helfen.
Dienstag.
Früh waren zwei städtische Fürsorgerinnen bei mir. Es gibt doch unter den Fürsorgerinnen auffallend feine, innerliche Menschen. Wenn sich ihrer nur jemand annähme und sie in ständigem Ringen tiefer führte. Sie brauchen es wahrhaftig bei dieser Arbeit. Die Zweite erzählte, daß in einer weltlichen Schule als Aufsatzthema gegeben ist: „Wieder ein Spielplatz weniger.“ Sie klagte auch, wie die Kinder voneinander schon immer sagten: „Der ist doch nervenkrank.“ Ein Elfjähriger, den sie sich vorgenommen und der sich ihr aufschloß, meinte: „Ja, darf man denn nicht lügen?“ Der Glaube wird immer als Frau dargestellt. Ich meine, er ist ein Mann, und zwar ein gewappneter Mann. Ich habe gestern und heute meinen vielen Besuchern viel Zeit geschenkt. Ich habe nach dem Urlaub die innere Ruhe dazu. Sie dürfen doch einfach nie denken: „Der Pfarrer hat ja doch keine Zeit.“ Ganz für den da sein, der gerade vor einem sitzt – leicht geschrieben, schwer getan. Es ist doch Mensch auf Mensch, Schicksal auf Schicksal.
Am Abend hatte ich eine Trauerfeier im Hause. Höre mal zu: ich habe bisher immer gesagt und geschrieben, man sollte eigentlich beim Tode, also vor dem Tode selbst, schweigen. Ich habe die Redensart, daß der Teufel die Pastoren-Leichenreden erfunden habe, damit man nicht auf die Worte des Todes höre, durchaus als richtig angesehen. Heute am Sarg, in dem kleinen Raum – da begann ein Kampf. Ich kämpfte mit dem Tode. Das Schweigen ist nicht möglich. Es muß gesprochen werden – gegen den Tod, weil er Gottes Feind ist. Er ist der mächtigste Feind Gottes!
Aber trotzdem und gerade deshalb will er bekämpft sein. Du hast mir schon mal gesagt, ich solle den Tod nicht zu eng fassen, nicht nur von dem leiblichen Tod sprechen. Das ist ganz richtig, der leibliche Tod ist ja nur ein Teil unseres Todeswesens, aber der sichtbarste. Und darum ist auch er zu bekämpfen. Heute las ich gern und heiß: wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe.
Wir haben dem Tode und seiner Wirklichkeit unbedingt die Wirklichkeit Gottes entgegenzustellen, und damit die Wirklichkeit der Ewigkeit. Es war mir zum erstenmal wie ein Kämpfen mit dem Tode. Ich kann Dir das nicht so beschreiben. Ich weiß nur, daß ich an. ganzen Körper heiß war. Morgen muß ich die Trauergemeinde fragen und zur Entscheidung zwingen: wer ist stärker, Gott oder der Tod? Nein, nicht zwingen, sondern: vor die Entscheidung stellen.
Mittwoch.
Heute früh also war die Beerdigung. Mir war es, als träte ich nach gestern dem Tode tapferer entgegen als sonst. Der Kampf mit ihm war für mich gestern schon gekämpft. Ob die anwesenden Lehrer wohl aufgehorcht haben? Man müßte doch eigentlich aufhorchen, wenn einer dem Tod ins Angesicht von Leben, am Sarg von Auferstehung zu sprechen wagt.
Übrigens brauche ich doch zu jeder Beerdigungsvorbereitung mindestens eine halbe Stunde, manchmal eine ganze, obwohl ich im sachlichen Teil häufig Ähnliches sage. Die eigentliche Rede, das eigentliche Ringen geschieht eben nicht vor der Öffentlichkeit, sondern zu Haus, und jede Beerdigung ist ein Ringen. Ich verstehe es sehr gut, daß die Pfarrer, die sich nicht zu Haus vorbereiten, nach einer Beerdigung einfach kaputt sind. Aber vielleicht ist ihre Art doch die wirksamere, unmittelbarere. Nur – ich kann es nicht. Heute war die kleine verwachsene Berta bei mir, die nun schon seit 50 Jahren vom Bettel lebt. Sie geht von Haus zu Haus und macht die Menschen schlecht. Durch ihre Bissigkeiten und Klatschereien und durch die Berichte von dem, was andere Schlechtes von uns sagen – rächt sie sich am Leben. Weil sie auf die Schattenseite, ganz in den Schatten des Lebens gestellt ist, spritzt sie Gift auf die, die auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Das ist so verständlich. Und doch graut einem vor dem Gift, wenn es aus dem heiseren Munde mit der überhohen Stimme herausgespritzt wird. Es graut einem mehr vor dem Leben, als vor den Bissigkeiten.
Heute nachmittag diktierte ich erst Briefe, dann war Kirchenratssitzung. Vielleicht wäre es besser, man ließe das Gebet am Anfang weg, denn fünf Minuten später platzen die Gemüter aufeinander, kommt das gegenseitige Mißtrauen in seiner vollen Blüte heraus, fliegen bissige Worte durch den Raum. Hinterher, wenn es eine Gemeinschaft war, dann sollte man beten oder – wenn es keine Gemeinschaft war, bete man um Vergebung und tue Buße. Aber nach solchen Sitzungen das: „Herr, segne uns und behüte uns“ kommt mir immer wie eine Herausforderung vor. Es ist nur gut, daß darin vorkommt: „sei uns gnädig“. Diese drei Worte sollten fallen, nicht mehr. Denn hinterher geht doch jede Gruppe für sich und setzt die scharfen Bemerkungen über die anderen fort. Wozu da mitten drin: „Segne uns“? Er spricht doch auch dazu nur: Ich mag euer Geplärre nicht.
Muß man denn eigentlich im Kirchenrat so feierlich und korrekt juristisch und formell sein, wie beim Schwurgericht oder beim Magistrat? Zum Kuckuck nochmal: sind wir im Gemeindekirchenrat Beamte oder Brüder? Staatsbeamte oder Christen? Diese weltliche Geschäftsmäßigkeit bei kirchlichen Zusammenkünften ergibt eine sibirische Kälte. Ich hatte einmal eine „Besprechung“ des Kirchenrates zusammen gebeten, in meiner Wohnung, gab eine Zigarre und setzte sie um den runden Tisch. Das war schon viel besser, und wir sind mindestens so schnell und viel freundlicher zum Ziel gekommen (obwohl es eine sehr heikle politische Frage war) als bei der Sitzung um den steifen Sitzungstisch mit einer feierlichen Einladung und einem feierlichen Vorsitzenden. Ganz schlimm steht es in dieser Beziehung auch mit dem Kirchensteuerzettel. Jedesmal wenn ich einen in die Hand bekomme, betrübt es mich; denn die Tonart unterscheidet sich in nichts von einem staatlichen Steuerzettel. Sogar mit Einleitung eines Beitreibungsverfahrens wird gedroht. Und es müßte doch einfach so sein, daß jedes Schreiben der Kirche an ihre Glieder etwas Liebe verspüren läßt, daß jedes Schreiben davon zeugt, daß die offizielle Kirche und ihre Glieder einen gemeinsamen Herrn haben.
Im Kirchensteuerzettel aber sieht es so aus, als gäbe es einen Herrn: die Kirche, und weit darunter Untertanen: die Glieder der Kirche. Und dazu muß man bedenken, daß der Kirchensteuerzettel für Tausende das einzige ist, was sie von ihrer Kirche sehen und hören. Es ist spät, und ich muß mich noch zum Konfirmandenunterricht vorbereiten.
Donnerstag.
Meine Predigt, meine Predigt. Ich suche nach einem meermäßigen Text – und finde: Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Das ist gar nicht das, was ich will. Ich nehme ihn aber doch.
Ein Drogist sagte heute zu mir: früher hatte Pastor H. immer gegen die Sozialdemokratie gepredigt, jetzt wäre er alt geworden und täte es nicht mehr. Seitdem habe sich aber auch der Zulauf verloren. Ob H. das weiß? Sicherlich. Dann verzichtet er auf den Zulauf um des Evangeliums willen. Ein Opfer, das niemand sieht. Der Drogist hielt natürlich das Predigen gegen die Sozialdemokratie für das Richtige.
Mein Arbeitstag hat in dieser ersten Woche nach Urlaub schon wieder 16 Stunden und in meinem Kopf rattert es heute abend schon wieder etwas. Es waren aber auch gar zu viele Menschen da. Todesfallanmeldungen, wo es immer und jedesmal schwer ist, einen Schimmer von Wahrheit über den Verstorbenen herauszubekommen. Eine Dame rauschte herein, übermodern gekleidet, überparfümiert, ich dachte: unmittelbar von der Bühne oder noch wo andere her. Unter dieser modern parfümierten Haut steckte die Tochter eines normalen Arztes, um die Hochzeit mit einem Assessor anzumelden. Auf dem Gesicht entdeckte ich bald eine Reihe von Enttäuschungen und eine Abgelebtheit, die das Gesicht viel älter machte, als es war. –
Freitag.
Ein schlimmer Tag. Keine rechte Arbeit geleistet. Ich konnte mich nicht entschließen, an der Predigt zu schreiben. Saß immer über dem Text. Machte Besuche, kam wieder, saß wieder, ohne zu schreiben. Nun habe ich sie eben von 8-11 Uhr geschrieben. Morgen muß noch der Schluß drankommen. Beim Abschreiben muß das meiste noch stärker herauskommen. Jetzt will ich noch Lieder aussuchen. Das Gesangbuch mit seinen vielen Ich-Liedern wird mich wohl wieder im Stich lassen.
Sonnabend.
Heute Beerdigung. Predigt noch fertig gekriegt. Was wird das Meer dazu sagen? Wird es sich ärgern? Aber das Meer ist ja auch nur Erde, Vergänglichkeit, und muß sich ärgern, daß sein Wesen und seine Kraft und seine Herrlichkeit durchkreuzt wird und verschwindet. Der Mensch ist nichts, das Meer ist nichts.
Ich bin noch sehr urlaubsfrisch. Ich brauchte zum Lernen der Predigt nur drei Stunden und kann jetzt, 11 Uhr, ins Bett gehen. Eine rührende Rentnerin brachte heute 10 Mark zurück, die ich ihr mal gegeben. Sie hätte ihr Zimmer heute vermietet, sie brauchte es doch nun nicht mehr. Daß ich es nicht annahm, verstand sie gar nicht; ich habe sie nicht einmal ins Zimmer gelassen, weil ich im Gedränge der Predigt saß.
Sonntag.
Heute also die erste Predigt. Es ist merkwürdig: man sollte denken, man ginge – weil man geistig und körperlich frischer ist – leichter auf die Kanzel. Aber es ist gerade entgegengesetzt. Es legte sich mir heute wie ein Zentner Blei auf die Glieder. Und die Hände zitterten mehr, als in der Müdigkeit vor dem Urlaub. Aber, was will es auch heißen, von der Kraft Gottes zu sprechen. Als ob man davon sprechen könnte!
Alles wurde anders, als ich wollte. Ich wollte – von der Meereskraft und Meeresgröße kommend – über die Kraft Gottes sprechen, wie sie den Menschen stark und frei macht. Ein Text aus den Propheten schwebte mir vor. Es sollte eine starke, feste Predigt werden. Die Bibel hat mir alles zerschlagen. Es kam der Text zu mir (so muß ich es tatsächlich ausdrücken): „Meine Kraft ist in den – Schwachen mächtig.“ „Wenn ich schwach bin, dann, nur dann bin ich stark“ (2.Kor. 12). Da wurde dann die ganze Menschenkraft und Menschenherrlichkeit und Menschengröße durch diesen Text gründlich in Trümmer geschlagen. Ob die Gotteskraft, die Gottesherrlichkeit, die Gottesgröße vernommen wurde? Ich wollte ja immer nur sagen: Gott, Gott, nicht der Mensch. Weg vom Menschen, hin zu Gott. Wenn ich weltschwach bin, dann gerade bin ich christusstark.
War das eine Woche! Keinen Augenblick konnte ich spazierengehen. Und der ganze Sonntag war besetzt. Nach dem Gottesdienst mußte ich die Korrektur eines Artikels lesen, dann waren Besuche bei mir, wegen Trauung usw. Gleich nach dem Essen hatte ich drei Taufen. Bei der letzten mußte ich zum Kaffee bleiben. Es freute mich, daß die nach meinem Begriff reichen Leute so bescheidene Menschen geblieben sind. Ob sie gemerkt haben, was Taufe ist? In einer so kurzen Ansprache, in der ständigen Gefahr, daß das kleine Wesen gleich losschreit, etwas Wesentliches zu sagen, ist schwer. Ich sagte heute, daß die Taufe uns klar macht, wie Gott den Menschen, der jetzt noch klein ist, beansprucht, wie Gott Gehorsam von ihm verlangt, wie Gottes Forderung an den Menschen vor uns aufsteht. Kann man eigentlich bei Menschen, die keine Kenntnis (ich meine nicht Erkenntnis, es handelt sich zunächst nur um die Kenntnis) von dem Wesen der Taufe haben – kann man bei denen von dem eigentlichen Sinn der Taufe sprechen: von dem Begrabenwerden mit Christus in den Tod? Gewiß, um aufmerksam zu machen, kann man es wie eine Handgranate in die kaffeefrohe Stimmung der Taufgesellschaft hineinschleudern. Aber doch nicht immer. Nur da, wo man irgendwie zum Abziehen der Handgranate getrieben wird. Mir schien übrigens, als wirke die Forderung Gottes an den Täufling schon ein bißchen wie eine Bombe, ich will lieber sagen wie eine Gewehrgranate.
Also jedenfalls: der ganze Sonntag wieder voll besetzt bis jetzt ½ 12. Krankenbesuch und dergl. auch dabei. U.a. auch ein Besuch bei einer Familie, die aus elf Menschen bestehend – neun Kinder und zwei Eltern – alle zusammen in Stube und Küche wohnen. Darauf war ich bei der alten Rentnerin Fräulein H. Fast blind, 90 Jahre und doch geistig noch so mobil, daß man staunt. Unser verständnisvoller Superintendent sagt immer, wir müßten uns den Montag freihalten. Mein Montagmorgen ist schon jetzt ganz besetzt, auch jeder Abend schon in der kommenden Woche. Da bin ich ordentlich froh, daß meine Familie noch verreist ist. Du hast ganz recht: es ist das Unverheiratetsein der Priester gar nicht so unverständig. Übrigens doch auch innerlich: es ist doch zum mindesten ein Hinweis darauf, daß man um Gottes willen bereit ist, zu opfern. Das zu opfern, was die Menschen gemeinhin als das Unentbehrlichste am Leben ansehen – die Frau. Wir wollen nicht immer so hochmütig auf die katholischen Brüder herabsehen. Wenn junge Menschen, wie die katholischen Brüder, sich zum Opfer entschließen, um Jesu willen, muß man wohl ehrfürchtig dabeistehen. Daß die katholische Haltung nicht die letzte ist, das ist uns ja klar. Die letzte bleibt eben doch: in der Ehe frei sein von der Ehe. Es gibt ja auch in der Ehe genug Opfer um Seinetwillen zu bringen. Von da aus angesehen macht es der katholische Priester sich wieder in vieler Beziehung leichter; denn nichts zwingt uns so zum Dienst am andern wie die Ehe. Aber immerhin: die sichtbare Durchkreuzung des Irdischen durch die katholische Ehelosigkeit wird doch auch ihren Sinn haben. Ich habe die Durchkreuzung des Irdischen bei dem Text heute so stark empfunden wie nur denkbar. Du hast recht: Man soll Leute nicht zur Beichte veranlassen. Aber Deine Formulierung, man soll sie lieber so tapfer machen, daß sie das Allerpersönlichste in sich verschlossen halten, kann ich auch nicht ohne weiteres annehmen. Es kann erstens auch sehr große Tapferkeit sein, das Allerpersönlichste und das heißt ja immer die Urgründe des eigenen ichsüchtigen, fleischlichen (sarx) Begehrens zu beichten. Zweitens muß ich da die Plattheit – hier aber ganz ernst – hinstellen: die Menschen sind verschieden. Uns Männern liegt gewiß das Beichten nicht. Aber wenn man eine Frau am Beichten hindern würde, wäre das recht? Manche Beichte hat auch schon zur Umkehr geführt, der Mensch hat sein Böses mit dem Sprechen objektiviert, hat es vor sich hingestellt und ist erst dadurch richtig vor sich selbst erschrocken.
Übrigens habe ich bei unseren Fürsorgerinnen häufig gemerkt, daß bei ihnen Männer beichteten; bei mir taten sie es nicht. Vielleicht stimmt mein eben geschriebener Satz, daß uns Männern das Beichten nicht läge, gar nicht. Ich überlege eben – nach meinen Erfahrungen mit Fürsorgerinnen und Pfarrgehilfinnen muß ich tatsächlich zugeben: der Mann beichtet der Frau, wahrscheinlich der Mutter in der Frau. – Die Gefahr der evangelischen Beichte liegt in dem persönlichen Privatzimmer des Pfarrers. Der Kirchraum und das Amtskleid ist viel besser für die Beichtenden und natürlich auch für die Pfarrer. Das Amtskleid verhindert alle persönliche Annäherung, macht alles sachlicher.
Heute nachmittag traf ich den Schneidermeister F., der jetzt in einem großen Industriewerk arbeitet. Er sagt, daß die Unterhaltung dort nur aus Schweinereien bestünde. Ich könnte mir das gar nicht vorstellen. Ich sagte: schlimmer als ich es beim Offizierkorps erlebt habe, könne es in dem Werk unmöglich sein. Was steckt eigentlich hinter diesen, meist nicht getanen, nur geredeten Schweinereien? Warum das eigentlich? Es ist doch keine Erklärung, wenn man sagt, daß das gesamte Sexualleben unserer Kulturperiode verworren ist, abwegig, Symptom der sinkenden Kultur. Ob nicht das lüsterne, schamlose Reden den armen Menschen Ersatz ist für das schamlose Tun, zu dem es oft nicht kommt – entweder aus Feigheit oder weil es zu viel Geld kostet oder dergl.? Wir müssen wirklich mal versuchen, die Hintergründe zu erkennen. Häufig ist dieses schmutzige Reden sogar ein Sich-selbst-Ironisieren. Ich hatte meine Freude daran, wie tapfer dieser Mann da auf seinem Posten steht, sich zwingt, nie zu lachen usw. Er sagt nie etwas, aber sie wissen alle, wie er denkt. Nur einmal, da sprachen sie über die Affenabstammung. Da hat er ganz schlicht und ruhig gesagt: „Ja, ich glaube wirklich, die einen stammen vom Affen ab, die anderen von Gott.“ Da sind sie eine Zeitlang ruhig gewesen. So ein Mann mitten in dem Fabrikgetriebe wirkt eigentlich mehr, als ich in der Kirche Sonntags um 10 Uhr.
Ob die Gemeinde sich das überhaupt vorstellen kann, daß ihr Pastor manchmal gegen seine Absicht, gegen seinen Willen predigen muß – der Schrift gehorchend, oder vielmehr deshalb gehorchend, weil er es spürt, daß die Schrift von Gott selbst spricht? Vorstellen kann sie sich das sicher nicht. Du siehst, ich bin mit meinen Gedanken noch immer bei der Predigt –, trotz all dem, was ich heute wieder erlebt habe. Gute Nacht.
Dienstag.
Gestern habe ich nicht geschrieben. Mit H. D. sind es immer Nachtsitzungen. Er ging erst nach 12 Uhr fort und ich mußte doch heute zum Konfirmandenunterricht ¼ 7 Uhr aufstehen. Ich glaube, wir sind an die Gottesfrage herangekommen. Endlich einmal ein Mensch, der ringend und verzweifelnd nach Gott fragt, und dabei gar nicht weiß, daß dieses Fragen ja nur deshalb geschieht, weil Gott ihn zieht. – Ich war heute bei dem alten 92jährigen Fräulein J. Ihr Neffe, ordentlicher Universitätsprofessor, gibt ihr 10 Reichsmark im Monat! Man schämt sich dann, zu den sogenannten gebildeten Kreisen zu gehören. Die „Ungebildeten“ sorgen viel besser für ihre Leute, sind dann eben gebildet im Herzen. Man vergleiche einmal den Prozentsatz: 10 Mark von Gruppe 12 und 5 Mark von dem Wochenlohn eines ungelernten Arbeiters (wie es bei den alten Z.s und ihrem Neffen der Fall ist). Vormittags war ein Arbeitersekretär der christlichen Gewerkschaftsbewegung eine Stunde bei mir, wollte mich zur Mitarbeit heranholen, ich kann mich aber nicht einer bestimmten sozialen Bewegung anschließen. Ich bin auch immer mißtrauisch gegen den Zusatz „christlich“. Es handelt sich doch um einen Interessenverband, man will berechtigterweise etwas für sich herausschlagen. Was soll da das Wort christlich? An diesem Punkten tut den Christen wirklich sachliche Erkenntnis not. – Der Arbeitersekretär brachte mir einen Artikel in dem Gewerkschaftsblatt „Der deutsche Metallarbeiter“ aus einer Gerichtsverhandlung in Jena: Der Generaldirektor hatte 400 000 Goldmark Jahresgehalt, hat sich von der Firma Landhäuser für 700 000 Mark bauen lassen, schenkte seinem Verhältnis 116 000 Mark, verstand es, sich auch sonst noch Hunderttausende zu verschaffen. Damit Du in Deinem Dorf nicht ganz die Entwicklung der Großindustrie übersiehst, hefte ich Dir aus dem „Metallarbeiter“ folgendes an:
„Bei dem Prozeß äußerte Raulino, der im Aufsichtsrat von 20 deutschen Gesellschaften sitzt, und also um die deutsche Industrie sicher Bescheid weiß, in bezug auf die hohen Gehälter des Angeklagten:
‚daß dieselben für den Leiter eines großen Konzerns nicht zu hoch wären, denn er kenne Herren in ähnlicher Stellung, die im Frieden schon 800 000 Mark Einkommen hatten. Nach seiner Ansicht hat der Angeklagte nie zu viel bekommen. Der Verteidiger des Angeklagten, Dr. Gardemann, betonte, daß die 400 000 Mark Jahresgehalt nichts Außergewöhnliches wären, sondern sich im Rahmen des Üblichen hielten.‘“
Wenn ich solche Sachen höre, dann weiß ich: das Gericht kommt. Die Axt ist nicht nur an die Wurzel gelegt. Sie sitzt schon tiefer. Und das Gericht wird auch die guten, ernsten, sozialen Menschen unter den Wirtschaftsführern wie K. mit verschlingen. Und wird uns alle verschlingen. Rettungslos kommt die Flut, die uns in den Strudel hineinreißt. Noch hat Er dort oben Geduld. Wie lange noch? Aber die Kirche? Hat sie gesprochen? Pastor R. war eben bei mir und berichtete mir, daß meine Predigt vorgestern gegen Helden- und Menschenverehrung erheblich Anstoß in nationalen Kreisen erregt hat, obwohl ich gar nicht nur die nationale Helden-Verehrung gemeint habe; denn die Sozialisten vergöttern ihre Marx, Engels, Ebert usw. genau so, ganz genau so. Es war sehr nett, wie er mich warnte. Er sagte, ich verscherzte mir damit die Liebe der Gemeinde. Ich konnte ihm darauf nur antworten, daß ich doch nicht Pastor wäre, um geliebt zu werden.
Mittwoch.
So eine Berichterstattung des Abends ist doch gut. Man überlegt sich noch einmal, was denn eigentlich am Tage los war. So manches Schicksal heute. Ich machte Besuche bei einer Witwe, die ihren Mann verloren, bei einer Mutter, die ihr Kind verloren, und bei einem Erblindeten, der sein Geschick so schwer erträgt. Man geht dann beschämt fort. Wir haben das Licht der Augen, sehen die Sonne und die Schönheit, die Sterne und das Meer – und danken so selten dafür. Und man fragt sich: wenn das Augenlicht erlischt, ist dann das innere Licht hell genug, um die Dunkelheit hell zu machen? Dem Erblindeten konnte ich so gar nichts sagen. Wir waren auch leider nicht allein zusammen. Aber vielleicht hat er doch daran, daß ich schon wieder kam, gemerkt, daß sein Geschick mir nahegeht. Ich kann in solchen Fällen mich nicht zwingen, ein Bibelwort herauszuholen. Es kommt mir so absichtlich vor. Es war mir sehr interessant, daß Du mir neulich dasselbe schriebst. Bei Sterbenden oder bald Sterbenden erscheint mir die Lage anders; da frage ich ja fast immer, ob ich ein Stück aus der Bibel vorlesen darf. Aber hier, wo der Blinde noch 30 Jahre leben kann? Wenn Deine Bauern bei Deinen Besuchen oft vom „Herrgott“ anfangen, um zu zeigen, daß sie fromme Menschen sind, wie Du schreibst, so ist das für den Pfarrer eine noch schwierigere Lage, als wenn sie gar nicht mit so etwas ankommen. Manchmal ja, da zwingt sich mir dann ein großes Wort aus der Bibel auf. Du verstehst schon: ich kann mir nicht als Programm hinstellen: wenn du weggehst, gibt es ein Bibelwort. Das kann ich nicht. Aber oft wird sich solch Leidender dann auch sagen: „Nicht einmal ein Bibelwort hat er gesagt. Wozu kommt er überhaupt? Er ist doch Pfarrer.“ Aber trotzdem ist das Programm und die Geläufigkeit unmöglich. Und von jedem Krankenbesuch bin ich bisher noch fortgegangen mit dem Bewußtsein: Doch das will ich nicht schreiben, Du kannst es aber lesen Mark. 9, 18-19.
Eine Theologin war infolge meiner letzten Predigt auch bei mir. Wir sprachen über Sittlichkeit und Religion. Gogarten sagt, wir müßten statt einer Ethik des Gewissens eine Ethik der Gnade bekommen. Er hat sicher Recht. An aller Abirrung, an allen Fehlern zeigt sich doch nur, daß der Böse uns mit Beschlag belegt. Alle Sünden sind ja nur Symptome unseres Bösen überhaupt. Wir haben mit dem Bösen als Ganzem, mit dem Satan zu kämpfen, wenn uns ein Fehler, eine Begierde erschreckt, und nicht nur mit dem einzelnen Fehler. Es geht sogar noch weiter: Erst wenn das Böse aller Menschen uns überfällt, ist es ein rechter Kampf. Und dann erst blickt man empor. Zuvor meint man immer, mit dem einzelnen Fehler würde man es schaffen und infolgedessen streckt man sich nie aus nach Gnade.
Nach der Theologin fand gleich Wahlkommissionssitzung statt. Du hast recht, Probepredigten sind gänzlich zu verwerfen. Man sehe sich den Pfarrer an, wie er in seiner Gemeinde wirkt und predigt. Statt daß der Pfarrer sich eine Predigt zurechtstutzt, auf die hin er dann gewählt wird. Praktisch predigt er dann nicht um Gottes willen, sondern damit er gewählt wird. Als ich damals die Art Probepredigt halten sollte, hielt ich die, welche ich am Mittwoch darauf im Gefängnis hielt. Da waren manche Leute natürlich sehr unzufrieden. Herr O. erklärte, von einer Probepredigt erwarte er, daß alles drin vorkäme. Ja, ja: Alles. Als ob man alles sagen könnte. Aber davon abgesehen: Predigten zum Zweck des Gewähltwerdens des Predigers sind ein Versuchen des Satans. Ist uns denn ganz entschwunden, was Predigen ist, – daß es dabei um Gott geht? Um Gott allein, um Gott ganz.
Donnerstag.
Mit Herrn F. hatte ich heute Auseinandersetzungen wegen der Pfarrwahl. Die liberalen Leute seien in der Kirche nur geduldet, nicht gleichberechtigt, dürften nur als Laien in der Kirche sein, jedenfalls nicht auf die Kanzel gelassen werden. Mein Hinweis, daß auch in dem Neuen Testament sehr verschiedene Typen wären, daß ein Jakobus doch der paulinischen Rechtfertigung zuwider laufe, verfing nicht. Ich verstehe die ganzen kirchenpolitischen Erwägungen nicht, es ist mir bei einer solchen Auseinandersetzung immer, als reiche mein Verstand da einfach nicht zu. Wenn F. sagt, es handle sich dabei um den Bestand der Kirche, die durch die liberalen Pastoren gefährdet würde, dann sehe ich ihn ratlos an und frage ihn nur: wird nicht der Bestand der eigentlichen Kirche durch uns theologisch rechtsstehende Pfarrer ebenso gefährdet? Mein Kirchenbegriff geht eben gänzlich anders. Gott baut seine Kirche. Um sie haben wir uns doch zu kümmern. Für deren Bestand oder Erstehen haben wir besorgt zu sein. Die Kirche der „altpreußischen Union“ ist zunächst doch nur ein menschliches Gebilde, wie der Magistrat von Stettin und der preußische Staat, für die wir natürlich auch ernsthaft arbeiten müssen, wie wir ja auch für die Sauberkeit des Körpers durch Baden und Händewaschen sorgen müssen. Außerdem habe ich einfach mehr Vertrauen als F. Ich glaube, daß Gott auch durch die liberalen Theologen wirkt. Gewiß, meine Theologie sträubt sich von Grund auf gegen die liberale; aber es wird doch auch ein liberaler Theologe im Auftrag predigen können. Gutes Wirken richtet sich wirklich nicht nach der Theologie. Ich weiß gar nicht, warum wir Gott immer unter die Arme greifen müssen. Er wird doch wohl wissen, warum auch die liberale Theologie nötig war. Wenn ein Pfarrer nur das Reich Gottes predigt und gar nichts von der Rechtfertigung, mag er es doch tun. Wenn ein Pfarrer nur Rechtfertigung predigt, und gar nicht das Reich, wie F., so mag er es doch auch tun. Wir kleinen, klimperkleinen Theologlein können doch immer nur einen Winkel, einen Sektor predigen von dem großen Kreis, der die Bibel ist, – wenn es nur Christum treibt. Wir müssen das volle Evangelium zur Geltung bringen, sagt F. Was das heißen will! Zur Geltung bringen! Ach, ungeheure Einbildung, daß man das könne, daß man mit dem Aussprechen der Bibelworte das Evangelium zur Geltung bringt. Schon daraus, daß wir das Evangelium so wenig „zur Geltung bringen“, sollte man lernen, daß beide – liberale und orthodoxe – abgewichen sind und darum letztlich in gleicher Verdammnis sind.
Nach Tisch gab ich wieder Unterricht an Frieda K. Es ist eigentlich ein Ideal, nach der Konfirmation Einzelunterricht weiterzuführen! Es war die Bestätigung für meine „kirchenpolitischen“ Gedanken von heute morgen, als ich mit ihr zusammen las: niemand kann Jesum einen Herrn heißen, außer durch den Heiligen Geist. Also wirkt Jesu heiliger Geist auch in den liberalen Theologen. Mir ist, als lächelte Er gütig auf alle unsere Theologien herab und sagt: es sind mancherlei Ämter, aber ich bin der Herr. – Alle sind wir ja Glieder vom Leibe Christi. Nein, wir wollen wirklich nicht als anmaßendes „Haupt“ zu den liberalen „Füßen“ sprechen: wir bedürfen euer nicht. Wir bedürfen euer sehr wohl. Es gibt ja noch bessere Gaben, als die der liberalen oder orthodoxen Theologie, es gibt noch eine köstlichere Gabe.
Nachdem das Mädchen fort war, diktierte ich geschäftliche Dinge. Und dann war Frau R. hier. Als ich ihr aufmachte, kam sie mir wie eine alte Frau vor, gebeugt, zerfallen. Weißt Du noch, was für eine stolze Frau sie als Fürsorgerin war? Jener Stolz der herben und berufstätigen Frau, der keine Spur von Resignation zeigt und zur Ehrerbietung zwingt. Und nun – ihr Mann hintergeht sie mit Geld und Frauen. Er ist eben nicht nur dem Alkohol gegenüber schwach, sondern durch und durch schwach. Sie sagte zwischendurch, als sie von ihrem Leben sprach: „Ich habe als Kind nie gelacht.“ Und nun packt ihr das Leben auf, immer mehr, immer mehr. Dies Leben ist ein Opfer, wie ich selten eins sah. Was wird ihr noch alles bevorstehen. Wirklich helfen kann ich auch nicht. Nur mittragen kann ich.
Aber diese jahrealte Last R. und die gestrige dazu wurde mir heute nachmittag beengend. Als ich Z. nicht antraf, faßte ich das als Erlaubnis auf, mit dem Rad hinauszufahren. Ich fuhr in einem Tempo – die Leute haben sicher gedacht, entweder ist der Pastor verrückt oder er holt die Feuerwehr. Vielleicht haben sie in ihrem Sportwahn auch gedacht: der trainiert sich zum nächsten Wettrennen. Es war mir, als müßte ich die Schicksale runter fahren, weg, weg aus der Gemeinde, aus den Häusern, raus in die Felder, wo es keine Menschen gibt. Schließlich stieg ich ab. Die Sonne ging grade unter und die Wolken, sie zogen alle in das Brandmeer. Es war nicht golden. Es war Lohe, Brand, wilder Brand – wie die Schicksale alle brennen, heiß, wild, lohend. Aber auf einmal begann das Gold doch und breitete sich aus und es wurde ein goldenes Himmelstor. All die brandenden Schicksale endet Er. Sie lohen zu Ihm.
Auf dem Rückweg fuhr ich an einer Frau vorbei, die hatte auf einem Ackerfeld Ähren gelesen und stand so ruhig an ihrer Karre, ein Bild der Ruhe. Als ich wieder in die schicksalbeschwerte Stadt fuhr, konnte ich wieder atmen. Die Laternen brannten. – Dann ging ich in einen feinen Vortrag über das Christusbild im Wandel der Zeit. Man sieht schon in den Bildern, wie verschieden der Christus gesehen ist: jede Zeit sieht ihn anders. Die älteste sieht ihn als Triumphator, das Mittelalter als Schmerzensmann.
Auch hieraus die Mahnung, der Kirche nicht durch Polizeimaßnahmen eine bestimmte Christusform aufzuzwingen. Er erscheint den Menschen, wie Er will. Wenn Er es nur ist, der erscheint. Eben lese ich gerade noch bei Luther. „Ich habe mich auch oftmals unterstanden, unserm Herre Gott gewisse Weise vorzuschreiben, deren er sich bedienen solle, in Regierung entweder seiner Kirche oder unserer Dinge: Ach, Herr, ich wollte gern, daß dies nach der Ordnung möchte geschehen und daß es einen solchen Ausgang möchte gewinnen. Aber Gott tat dem, das ich gebeten, gerade zuwider. Gott hat meiner Weisheit gelacht und gesagt: „Wohlan, ich weiß wohl, daß du ein verständiger, gelehrter Mann bist; aber ich habe den Brauch nie gehabt, daß mich Petrus oder Dr. Martinus unterrichten, regieren oder führen müsse. Non sum Deus passivus, sed activus –“
Dies ist eine predigtlose Woche. So viele Menschen es auch sind, es ist alles innerlich doch zwanzigmal ruhiger, als in der Predigtwoche. Die Predigt zehrt doch noch ganz anders mit ihrer unheimlichen Forderung an uns selbst. Es ist ein ruhiger Abend heute.
Freitag.
Heute ist es mir dreimal passiert, daß ich Leute gehen ließ, ohne ihnen das erbetene Geld zu geben. Dem ersten hatte ich erst neulich etwas gegeben, obwohl er nicht in meinem Bezirk wohnt. Nachher hörte ich, er habe an demselben Tage ganz stark nach Alkohol gerochen. Er gab es auch gleich zu, als ich es ihm auf den Kopf zusagte, gestand sogar Erbrechen, was ich gar nicht gehört hatte. Er erklärte, er habe nur ein Glas Bier getrunken und das wäre ihm geschenkt worden. Ich hielt es einfach nicht für richtig, ihm nochmal etwas zu geben. Er war übrigens ursprünglich Theologe und Hindenburg hat ihm neulich 20 Mark geschickt. Der zweite war Z. Wenn ich diesem etwas geben sollte, so konnte ich ihm nur 10 Mark geben und ich habe doch nur noch 15 Mark für die ganze Gemeinde für den ganzen Monatsrest. Heute nachmittag war es ein landwirtschaftlicher Schüler, den ich abwies, nur weil er nicht mit zu meinem Bezirk gehört. An sich alles ganz „richtig“ behandelt. Und doch! Loslassen tun mich alle drei noch nicht. Weiß ich, ob sie heute abend etwas zum Abendbrot haben? O, die Großstadt ist grausam. Man kann nicht nachgehen, nicht nachforschen, wie Du auf dem Lande. Man muß sich auch an seinen Bezirk halten. Und doch bleibt in einem der Stachel.
Ich war heute in zwei Familien, sehr wohlhabenden, wo ein Sohn völlig entgleist war. Der eine sogar Zuhälter, im Gefängnis. Die Eltern so verzweifelt. Verstoßen nützt ja gar nichts, vergessen kann eine Mutter ja doch nie. Bei der andern spielte die Hauptrolle: was die Leute sagen, wenn sie von der Gerichtsverhandlung lesen. Arme Mutter – unter Schmerzen geboren, unter Schmerzen verloren.
Das ist doch eigentlich toll: ich besuchte eine Pastorentochter. Über ihr wohnt eine Pfarrerwitwe, die sehr krank. Davon sagte erstere kein Wort. Das ist richtig Großstadt. Man kann in einem Hause geboren werden, sterben – die Unter- und Überbewohner wissen nichts davon. Neulich sagte mir doch tatsächlich einer, in dessen Haus ich am Nachmittag eine Beerdigung hatte: „Drum, ich habe mich gewundert, hier wurden so viele Kränze ins Haus gebracht.“ Getreue Nachbarn – das ist vorbei. Nie wird mir gesagt: nebenan liegt ein Kranker.
Eine Frau erzählte mir, wie sie sich einem jungen Bettler gegenüber verhalten hat. Das war so fein und so mütterlich, wie man es in der Großstadt sicherlich selten findet. Sie war ihm die Treppen herunter nachgegangen, hatte ihm noch einmal zugeredet, doch ja zu den Eltern zurückzukehren.
Du hast ganz recht, wenn Du heute schreibst, es stimmt bei uns Großstadtpfarrern auch irgend etwas nicht in unserer Lebensgestaltung, wenn wir uns so wenig um die Schwiegermutter und um die Familie überhaupt kümmern. Und Deinen ruhigen Aufbau von der Familie aus, den Versuch einer neuen Lebensgestaltung vom kleinsten Kreise aus, begreife ich ganz. Auf dem Lande muß es ja so sein. Ich meinte nur neulich: der Schwiegermutter wegen nicht theologisch zu arbeiten, ist verhängnisvoll. Ich wollte damit wahrhaftig nicht das Leben der Großstadtpfarrer als vorbildlich hinstellen.
Ein gutes Lutherwort las ich heute: unser Glaube ist Kampfglaube. –
Ein Dr. Phil. und ein Dr. rer. pol. in meinem Bezirk sind aus der Kirche ausgetreten. Einerseits atme ich ordentlich auf, daß die ganz unkirchlichen Gebildeten nun auch langsam anfangen, auszutreten und damit bekunden, daß sie nichts von der Kirche haben und nichts von ihr wissen wollen. Andererseits aber ist es doch auch ein Abbröckeln von der Volkskirche, die ich eben doch liebe. Und es wird ja – wenn nicht ein neuer Wind von oben her in sie hineinfährt – so kommen, daß sie zu einem kleinen Rest zusammenschrumpft. Aber das ist schließlich dann doch ehrlicher und wahrer als der heutige Betrieb: Millionen nennen sich Glieder der Kirche und wollen dabei nichts von ihr wissen, gehen nie zu ihren Veranstaltungen, nehmen nie etwas von ihr an, arbeiten nie an ihr mit. Vielleicht weiß der kleine Rest dann auch mehr, was Verkündigung ist, worauf wir zu hören und zu horchen haben. Auch der kleine Rest ist natürlich nur organisierte menschliche Kirche, nicht Gottes Kirche, nicht die eine christliche Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen, an die man nur glauben kann.
Ich kam ¾ 9 aus einer Sitzung zurück, habe dann schnell gegessen und dann endlich mal schön still für mich gearbeitet: Erste Vorarbeiten für meine Vorträge über die Botschaft der Bibel. Jesus sagt zu den Siebzig: „Heilet die Kranken und sagt ihnen, das Reich Gottes ist nahe zu euch gekommen.“ Und wir? –
Sonnabend.
Heute las ich ein tiefes Lutherwort: „Unsere Frömmigkeit vor Gott heißt Vergebung der Sünden.“ Unsere Frömmigkeit. Also gibt es wirklich von uns aus gar keine Frömmigkeit. Und was es gibt, von oben her gibt, gibt es nur im Staube.
Montag.
Sonnabend und gestern war ich verreist, nach I. Wenn ich durch … fahre, dann denke ich natürlich an die Zeit, wo ich dort als Soldat einherging – das Herz voll Drang, hinaus in den Krieg, hinauf, um – dem Leben auf die Spur zu kommen. Das Leben erfassen, das klopfte in der Brust der Soldaten. Dann muß man doch wohl dahinter kommen, was das Leben ist, wenn man sich in den Kampf hineinstürzt, in die Schlacht. In Krieg und Schlacht, da muß er doch sein: der heiße, glühende Atem des Lebens. So zogen wir hinaus. Aber als wir durch die Etappe fuhren, eben erst Etappe geworden, da sahen wir doch schon vieles, was uns ein gut Stück unserer Gläubigkeit nahm. Die Augen der jungen Menschen um mich herum wurden ahnend, prüfend, forschend. Und dann draußen selbst. Ja, „draußen“. Die erste Granate, das erste Schrapnell, die ersten Schüsse. Fanden wir da das Leben? Gewiß, wir fanden manches: Pflichtbewußtsein, Treue, Kameradschaft, Tapferkeit, Opfer und – von alledem auch das Gegenteil. Auch war in der tobenden Schlacht alles gespannter, fiebernder. Aber war das das Leben? War es nicht auch nur ein Bruchteil von dem, was Leben heißt? Und doch bekamen wir eine Ahnung von dem Sinn des Lebens, nämlich da – als wir den Tod unmittelbar neben uns sahen. In der Todesnähe ging uns die Ahnung auf von dem Sinn des Lebens. Wir erkannten es, daß das gesteigertste Leben hier nicht Leben ist, sondern gerade zum Tode führt. Von den jungen Toten neben uns ging uns auf, daß der Sinn des Lebens überhaupt nicht hier, nicht auf dieser vergänglichen Erde liegt, sondern daß das Leben, nach dem wir drängen, jenseits dieses Lebens ist. Es erschien mir damals so und erscheint mir heute so, daß unsere sterbenden Kameraden uns zuriefen: Jetzt geht uns das Leben auf. Der Sinn des Lebens liegt nicht hier. Der Sinn des Lebens ist Gott. Das sagten ihre brechenden, tiefsehenden, weitsehenden Augen. – Ja, der Tod in der Schlacht ist ein großes Gleichnis. Wir dachten dem Leben ganz nahe zu sein und waren gerade dem Tode nahe. Wirklich ein großes Gleichnis: je mehr wir den Sinn des Lebens in Menschen und in menschlichen Dingen sehen, desto näher sind wir dem Tod. Aber je stärker uns die Todhaftigkeit dieses Lebens klar ist, desto näher sind wir dem wirklichen Leben, desto näher Gott.
Aber ich bin ja ganz abgekommen. Meine Gedanken gingen im Zuge nur noch einmal das Erlebnis des Krieges durch. Das Ganze geschah in folgender Umgebung: höhere Schüler, 17-18-jährig, fünfzehn an der Zahl, nicht völlig alkoholfrei, sangen vaterländische Lieder, standen aber nicht für die Mütter und Mädchen auf, die im Gang stehen mußten. Auch ältere Herren, mit und ohne Schmisse, die sonst dienstlich 2. Klasse fahren werden, standen hier in der 4. Klasse nicht auf. Dabei hatte eine Frau ihr Kind auf dem Arm. Ich bin überzeugt, in der 2. Klasse wären sie aufgestanden. In der 2. Klasse einer Generaldirektorin oder Gräfin Platz zu machen ist Sklaveninstinkt, wenn man nicht genau so in der 4. Klasse einer Arbeiterfrau Platz macht. Ritterlich sein heißt doch die Frau ehren, – ganz gleich, in welchem Gewande. Ein verbissener Arbeiter sah höhnisch auf die ,,bessere Gesellschaft“ herab, gab aber meiner kleinen Tochter eine Birne. Eine von den beiden bekümmerten Müttern, die ich neulich sprach, klagte, was für eine Gefahr die vaterländischen Soldatenbünde für die Jungens seien, wie ihr Sohn dadurch ganz aus dem Geleise gekommen sei. Die Bengels bilden sich einfach ein, Helden zu sein, vaterländisch zu sein, weil sie in Uniform durch die Straßen ziehen. Wir alten Soldaten können so etwas nur Soldatenspielerei nennen. Heute habe ich überwiegend Besuche gemacht. Denk mal, ich bekam zweimal je 3 Mark ganz von selbst für die Armen. Das war eine Freude. Eine Mutter stiftete sie, weil ihr Sohn sich mit einem ihr sympathischen Mädchen verloben will. Wieviel Grund zur Freude bei den vielen Familien meiner Gemeinde und wie selten wird der Armen in Dankbarkeit gedacht. Heute abend Sitzung. Etwas stöhnend ging ich mit dem schönen Gefühl raus: wir bringen unser Leben zu wie eine Sitzung. Nach den vielen Menschen heute bin ich etwas ausgedörrt. Ein bißchen Neues Testament habe ich aber doch gearbeitet, zum Vortrag. Ich wünsche Dir morgen einen guten Tag.
Dienstag.
Wenn ich eine ehemalige Konfirmandin treffe, früher ein nettes, bescheidenes Kind, jetzt eine aufgeputzte Puppe, im allerneusten Bubikopf, dann erschrecke ich immer. Hat der Konfirmandenunterricht gar keinen Zweck gehabt? War das Sprechen über Kleidung und Lebensgestaltung so völlig vergeblich? Aber vielleicht müssen die jungen Menschen durch all’ dieses hindurch, durch die Tiefe, die auch diese Dinge aufweisen, hindurch. – Neulich weinte ein Kind in der Konfirmandenstunde so. Es war solch ein Erschrecken in dem Weinen dabei. Ich ging heute zu den Eltern, weil es mir keine Ruhe ließ und weil das Mädel trotz meiner Aufforderung nicht zu mir gekommen war. Es fiel nicht auf, ich fange jetzt sowieso Konfirmandenbesuche an. Die Mutter hatte einen Zettel mit einem zweifelhaften Vers gefunden und hatte es dem Mädel gerade vor der Konfirmandenstunde gesagt. Nun kam es plötzlich im Unterricht über sie. Sie hatte sich über sich selbst erschrocken und vor dem, der der Richter ist. Wir sprachen in der Stunde gerade von Petrus und seinem Wort: Gehe von mir hinaus, ich bin ein sündiger Mensch.
Es war heute ganz schlimm bei der Beerdigung. Ich habe nur gesprochen. Gewiß spielte das Äußere auch eine Rolle: die Beerdigung war ½ 3 und um 10 Uhr wurde sie erst gemeldet, mit dem Bemerken: „Wir dachten, Sie wußten es.“ Im Grunde haben die ja recht, die so etwas sagen. Der Pastor sollte es auch wissen. Es ist seine Gemeinde. Aber woher soll er es bei 7000 Menschen in der Großstadt erfahren? Und gleich nach 10 Uhr wollte ich schleunigst zu einer Tagung fort. Auch war der Fall schwierig. Infolgedessen lauerte man pharisäisch, was ich zu viel von den Abwegigkeiten des Verstorbenen sagen würde – jedenfalls war man „Feind“ des Pastors. Und doch möchte man gerade da den Seelen Flügel geben, daß sie hinüberschauen. Aber es geschah nichts davon.
Donnerstag.
Eine Hochzeit habe ich inzwischen mitgemacht, bei der Du Dich viel geärgert hättest. Der Bräutigam im Grunde schlicht und ernst, aber umgeben von lauter Protzen. Es waren auf der Hochzeit (außer mir) nur Leute, die ein Auto hatten. Frauenkleider? Sollte man nicht lieber sagen Dirnenkleider? Aber ich sehe ja jetzt doch tiefer, vermag jetzt so etwas hinwegzusehen über die Kleider und hineinzusehen ins Sehnen und Irren, das sich hinter all’ dem verbirgt. Es gab viel wüste, verlebte Gesichter mit unruhigen Augen. Welch ein Gegensatz zu der Hochzeit in der vorigen Woche und zu den Menschen dort. Und doch kann ich nicht sagen, diese Menschen sind besser als jene. Ich kann es nicht, so grell und frech und laut manches auf der Protzenhochzeit hervortrat. Ein Prophet hätte dazwischen gefahren, sicherlich, aber bei der anderen Hochzeit auch, und bei welcher Hochzeit nicht?
Diesen Brief habe ich heute erhalten:
Stuttgart, den …
Sehr geehrter Herr Pfarrer!
Nach sehr langer Überlegung habe ich mich entschlossen, Ihnen diesen Brief zu schreiben, weil ich Sie in diesem Frühjahr hier reden hörte. Ich bin – ein ehemaliger Gefangener: 1911 war ich zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, weil ich – – hatte. Ich bin damals 21 Jahre alt gewesen. Aber glauben Sie mir, die Entwicklungsschwierigkeiten sind nicht immer schon mit 18 Jahren beendet, sie setzen oft erst spät und dann sehr schwer ein. Ich war damals innerlich ganz zerfallen. Durch den ersten Hausvater mit Lehrern zusammengebracht, die ihre Freizeit verdösten und mich mit Haeckels Lehre vertraut machten, war der zweite ein vollendeter Heuchler. So wurde ich in einem christlichen Haus am Christentum irre. So zerbrach ich. Der damalige Vorsteher hatte Verständnis. Auf seinen Rat hin wurde ich nicht zur Anzeige gebracht. In – – – erlebte ich dann die Erneuerung. Dem folgte unter viel Kämpfen ein langsamer Aufstieg. Da wurde vier Jahre später der zweite Hausvater zu 3 ½ Jahren Gefängnis verurteilt und ich durch ihn ebenfalls zur Verantwortung gerufen. Sie werden es verstehen, daß ich darunter sehr schwer litt. 4 Jahre waren umsonst gelebt. Dennoch hatte ich mich durchgerungen, vor Gericht zu schweigen. Ohne zu prüfen, was mir vorgelesen, sagte ich zu allem ja. Ich hatte nur ein Bestreben: Alles so kurz wie möglich zu machen, damit die Presse nicht aufmerksam werde und dadurch der Ruf der christlichen Häuser nicht gefährdet werde. Kein Zeuge wurde vernommen. Ich hatte aber auch keinen Verteidiger. Nichts sagte ich über die erlebten Enttäuschungen. Ich wollte den Mann, der gegen sein Urteil Berufung eingelegt hatte, Familienvater war und wegen seines Leugnens die Stimmung gegen sich hatte, nicht belasten, denn meine Entlastung wäre für ihn eine Belastung geworden. So schwer ich gefehlt hatte vor dem Gesetz, so naiv war ich dennoch und glaubte, daß das Gericht mich verstehen würde. Der Staatsanwalt beantragte ein Jahr. Der Beschluß brachte keine Milderung, nicht mal die 6 Wochen, die durch die Untersuchung vergangen waren, wurden eingerechnet. Der Vorsteher hielt auch in dieser Zeit zu mir und besuchte mich während dieser Zeit. Noch in der Anstalt ging es mir gut, so daß ich wieder hoffen lernte. Nach der Entlassung verdiente ich mir als Krankenpfleger das Brot bis zum Kriege, an dem ich zuerst als freier Krankenpfleger, später als Soldat teilnahm und als San.-Vizefeldwebel nach zweimaliger Verwundung beendigte. Nachdem wurde ich von dem … (christlichen Verein) in den Dienst gestellt. Ich folgte freudig diesem Ruf, hatte ich doch damit gerechnet, daß der Krieg meine alte Strafe ausgelöscht habe, zumal soviel Amnestien während und nach dem Kriege erlassen wurden und anderes mehr. Wie habe ich mich aber getäuscht. Gute Freunde sorgten, daß meine Strafe von Ohr zu Ohr weitergeredet wurde. 1920, 23 und dieses Jahr haben mir übel mitgespielt. Bis – – – war ich in dem – – – Verein tätig, trotz dem Hineintragen. Ich selbst habe zwischendurch in der Arbeit der Gefangenenfürsorge mit gestanden. – – – Dann ging ich zur – – –, die bekam es heraus, daß ich gesessen habe und entließ mich wieder. Wieviel Wohlwollen und Bedauern ist mir da bezeugt worden. Aber es ginge nicht anders. Herr – – – wurde in dieser Angelegenheit um Schutz angegangen. Welch eine Enttäuschung erlebte ich da. Der fromme Mann ließ mich fallen. Nun erfuhr ich erst wieder in den letzten Tagen, wie meine Berliner Freunde ihre neue Erfahrung in aller christlichen Heimlichkeit weiter unter dem Siegel der Verschwiegenheit in die Ohren tuscheln, so daß ich jetzt ganz überrascht war, daß hier in Stuttgart mal wieder einer mir erzählte, er sei vor mir gewarnt worden, weil ich anrüchig sei. Ich habe viel im öffentlichen Leben gestanden, oft im harten Kampfe mit der Sozialdemokratie oder mit den Kommunisten, nie ist mir da aber auch nur einmal ein Vorwurf erhoben worden. Wenn ich um dieser alten Sache leiden mußte, dann waren immer die lieben Freunde innerhalb der christlichen und nationalen Bewegung die Schuldigen. So habe ich es schwer, nicht verbittert zu werden. Meine Angaben können Sie sich vom – – – bestätigen lassen. (Ist geschehen. D. Verf.) Warum ich Ihnen dies, Herr Pfarrer, schreibe: damit Sie den christlichen Kreisen sagen, was sie mit diesem Tuscheln unter dem Siegel der Verschwiegenheit für Unheil anrichten. Solche Menschen können zum Mörder werden, ohne von den irdischen Gerichten erreicht zu werden. So hetzen sie Menschen in neue Schuld, gar in den Tod, die vielleicht ehrlichere Menschen und Kämpfer waren, als die, die niemals vom Gerichtsurteil erfaßt worden waren. Wenn ich nicht noch immer ein Gotteserlebnis in mir herumtrüge, würde ich das Leben von mir werfen, denn ich bin dieser Erde müde geworden. Es ist furchtbar. Immer reden die Menschen von Wohltat und Fürsorge und Nächstenliebe und Christenpflicht und können diese doch nur in Organisationen mit bestimmten Aufgaben pflegen. Außerhalb derselben sind sie oberflächlich, roh und grausam. Wieviel Leid könnte in der Welt verstummen, wenn die lieben Christen ein bissel mehr schweigen, mehr vergessen – mehr vertrauen könnten. Was war das Gefangenenleben gegen die heimliche Achtung in der Freiheit. Sie haben also noch eine große Aufgabe. Gott erhalte Sie in rechter Gesundheit, gebe Ihnen viel Freude und Kraft und schenke Ihnen Mitarbeiter, die in Ihrem Geiste arbeiten und schenke uns allen mehr Liebe und Vertrauen.
Christenheit! Er will ja keine Stellung oder dergl. von mir, er ist also ehrlich. Wieder die alte Erfahrung: man bauscht die Sünden auf, die zum Gefängnis führen und vergißt darüber, daß das Strafgesetzbuch nur einen Bruchteil von dem bestraft, was Sünde ist. In den Gemütern der Christenheit steckt immer noch die Skala: Lüge nicht schön, Diebstahl schlimmer, schwerer Diebstahl ganz schlimm, Mord das Schlimmste. Und doch gibt es nur eins: Sünde. Es gibt nicht peccatum mortale und peccatum venale.
Freitag.
Der Stuttgarter Brief beschäftigt mich noch sehr. Ich mußte gleich heute antworten. Ich habe geschrieben, daß wir nicht soviel Aufhebens von den Sünden anderer Leute machen würden, wenn wir zu der Erkenntnis des Paulus kämen, daß hier kein Unterschied ist, daß alle Sünder sind – nämlich vor dem ewigen Richter. Aus solchem Schicksal muß ich immer wieder herauslesen: wie fern wir Christen noch von der Blickrichtung der Bibel sind. Und das lese ich allerdings auch noch mit roten Buchstaben heraus, daß es dafür zu arbeiten und zu schaffen gilt, daß die Christenheit gänzlich umlerne, umkehre von dem pharisäischen Blick, der nur die eigene Schuld abschwächt.
Ich habe heute leider einen ganz unfruchtbaren Tag. Sitze und sitze über meiner Predigt und es strömt mir gar nichts zu.
Statt daß ich den Freitag abend ruhig für meine Predigt hatte, mußte ich in die Kreissynode. Du siehst dort prozentual so viele Männer wie im Gottesdienst sonst nie. Um so größere Verantwortung haben wir Pfarrer für den Inhalt solcher Versammlung. Es wäre doch eine Gelegenheit, diese Männer in kirchlichen und theologischen Dingen tiefer zu führen. Aber daß man da vom Schornsteinfegergeld, Wassergeld, Kanalanschlußgeld lang und breit redet, erscheint mir sinnlos. Das sind Dinge, die nur die Rendanten und Vorsitzenden der Kirchenräte angehen. Übrigens wurde es nachher besser, bei der Frage des Bischofstitels. Ich merke bei den Befürwortern immer heraus, daß sie sich nach Glanz, Autorität, nach kirchlicher Macht sehnen. Aber dort, wo das Evangelium lebendig ist, wird die Autorität nie aus dem Äußeren kommen. Luther war nie Bischof, blieb der schlichte Doktor der Theologie und hatte doch eine erstaunliche Autorität bei Volk und Fürsten. Es ist überhaupt eigen, daß die wirklichen kirchlichen Führer nie beamtete Führer waren. A. H. Francke, Schleiermacher, Wichern, Stöcker, Bodelschwingh, Blumhardt – alles keine Landes-Bischöfe. Kann denn überhaupt ein Titel die Sache fördern? – Im übrigen: je weniger äußerer Glanz, desto evangelischer; je weniger Macht, desto gemäßer dem Herrn der Kirche. Die Kirche ist Magd, sagt Luther, also eine bescheidene schlichte Dienerin. Je schlichter sie ist, desto mehr kann sie Botschaft bringen vom Reiche Gottes. – Leider mußte ich auch bei der Kreissynode beobachten, daß das wirkliche Gemeinschaftsgefühl fehlt. Wer Jugendversammlungen mitgemacht, weiß was Gemeinschaft ist. Hier setzt sich jede Gemeinde für sich – das mag noch Zweckmäßigkeitsgründe haben – aber wenn in einer Gemeinde zwei Parteien sind, dann sitzen auch diese noch getrennt. Und auch im Ganzen – ich kann das nicht beschreiben. Es geht alles ganz korrekt und höflich zu, aber Du weißt ja. was wir unter Gemeinschaftsbewußtsein verstehen – diese Gebundenheit im Letzten, diese Zusammengehörigkeit, weil man sich im Innersten eins weiß, dieses Zueinandermüssen, weil man von innen heraus getrieben wird, dieses unwillkürliche Hand-in- Hand-gehen: „Die wir uns allhier beisammenfinden, schlagen unsere Hände ein, uns auf deine Marter zu verbinden …“ All’ das fehlt. Ich denke mir, daß eine Sitzung irgendeiner Reichstagsfraktion genau so verläuft. Nur daß man hier in der Synode zum Anfang – betet. Aber vielleicht tut die Reichstagsfraktion besser daran, daß sie es nicht tut. Nach einem solchen kirchlichen Zusammensein gehe ich immer nach Hause, und es klingt mir in den Ohren, wie es sein müßte: „alle einmütig beieinander“.
Sonnabend.
Meine Predigt ist gar nichts geworden. Solche Predigt nenne ich nicht Zeugnis, nicht Verkündigung. Mühe habe ich mir viel gegeben, aber draus geworden ist wirklich eine Abhandlung, und doch muß ich morgen früh auf die Kanzel. Auch heute bei einer Taufe sprach ich so gehemmt, so unfrei, so gezwungen. Man sollte eben nicht predigen, wenn man nicht predigen muß. Das schadet Leib und Seele.
Sonntag.
Zum Glück war es heute leer, 8-Uhr-Gottesdienst. Immerhin saßen doch im Ganzen 140 Menschen drin, wie der Kirchendiener sagte, der aus Zeitvertreib zählt. Und alle 140 wollten doch irgendwie spüren, daß Gott ist. „Man“ sagt, es sei nicht so schlecht gewesen. Ich weiß es aber besser.
Das ist ja das Verantwortungsvolle an der Predigt: in jeder Predigt kann ein ganz Unkirchlicher sein, der vielleicht seit seiner Konfirmation nie wieder in der Kirche war oder überhaupt nicht getauft ist. Er kommt vielleicht suchend, vielleicht aus unbewußter Sehnsucht, vielleicht auch ganz zufällig in den Gottesdienst. Die Predigt kann ihn anpacken oder beunruhigen oder empören – das ist nicht unser Tun. Aber unser Tun ist, daß wir ihn nicht langweilen. Er darf nicht vor Leblosigkeit stehen. Er darf nicht denken: „Das ist eine tote Sache, Gott muß wohl doch tot sein.“ Ach, lieber Freund, wie verantwortungsvoll ist doch jede Predigt, ausnahmslos jede Predigt. Wir Pfarrer haben Gott Antwort zu geben! Er wird zu uns sagen: „An dem Sonntage wollte ich einen Menschen durch dich aufrufen, aber deine Predigt war so matt und leblos.“ Und es wird uns die Entschuldigung, daß wir Superintendenturakten, konsistoriale Verfügungen, Pfarramtsrechnungen oder Vorstandssitzungen für eilig und wichtig hielten, nichts nützen, aber auch gar nichts. Denn es ist in unserem Amt nichts wichtiger als die Predigt! Alles andere, restlos alles andere ist der Predigt gegenüber unwichtig!
Daraus ergibt sich, daß das Pfarramt für den Pfarrer immer das „größte“ Amt ist, daß also seine kirchenregimentlichen Nebenämter (Superintendent. Konsistorialrat) nicht etwa an Wichtigkeit neben dem Pfarramt, sondern darunter stehen – wobei nicht übersehen sein soll, daß diese Nebenämter natürlich auch im Dienst der Gemeinde stehen.
Mir liegt das alles heute nach der matten Predigt deshalb so stark auf der Seele, weil mir gerade in dieser Woche folgendes passiert ist: die ganz unkirchlich gewesene Frau eines Diplom-Ingenieurs suchte mich auf und erzählte mir, wie sie im vergangenen Winter an der erleuchteten Kirche vorübergegangen sei; der Raum habe sie gelockt – und seit dieser Predigt gehe sie nun immer in die Kirche. Jetzt empfinde sie in unserer Kirche schon starke Gemeinschaft. – Wenn sie heute bei mir in der Kirche gewesen wäre, dann wäre sie sicher genau so unkirchlich geblieben wie früher.
Nach dem Gottesdienst kam Hilde Bahrfeld, eine ehemalige Konfirmandin. Ob sie einst Theologin wird? Bohrend geht sie auf das eine Wort „Gott“ los, lehnt natürlich alles Kirchliche ab, auch die Predigt von der Kraft, die nur im Schwachen mächtig ist. Aber sie versteht, was es heißt: der fordernde Gott. Damit sie weiterkommt, gab ich ihr Thurneysens Dostojewski und – den „Großinquisitor“ mit. Sicherlich war es kirchlich-unpädagogisch von mir – – und doch das Richtige, denke ich. Dann mußte ich Briefe diktieren. Eigentlich ist das nicht Sonntagsarbeit. Nach Tisch habe ich richtig geschlafen. Am Sonntag, wenn ich gepredigt habe, gehe ich so ungern auf die Straße. Ich treffe dann nicht gern Menschen, sondern verschwinde lieber in die Versenkung. Ich wollte eigentlich meinen Vortrag heute anfangen. Aber nach der Quälerei heute früh war ich zu müde, war wie ausgestorben, und erledigte darum nur noch Post. Heute früh bekam ich einen Brief von Hermann Kutter. Er schreibt: „Wir müssen also warten, bis ein Prophet unter uns aufsteht und bis dahin alles, Öffentliches und Privates, unter dem Sehwinkel Gottes ansehen, – und ist man Pfarrer, vom Standpunkt Gottes aus, so gut man kann, predigen. – Das rege Geistesleben Deutschlands, das tiefeindringende Suchen und Verlangen in Fragen des Reiches Gottes ist mir eine beständige Freude“
Montag.
Schnell einen Abendgruß! Die Bischofsfrage geht noch um. Charakteristisch ist nur wieder, daß die eigentlichen Gemeinschaftsleute dagegen sind. Ich glaube nicht, daß dies aus dem „Kleine-Leute-Horizont“ und der „Kleine-Leute-Luft“ kommt, wie mir Professor U. heute telefonierte. Ich glaube vielmehr, daß es aus der instinktsicheren Erkenntnis der Bibelbewanderten kommt, die ahnen, daß jede Menschenverherrlichung, auch die Verherrlichung menschlich-kirchlichen Amtes, eine Entherrlichung Gottes ist oder dazu führt.
In der Sprechstunde war eine Abteilungsleiterin aus der Papierindustrie bei mir. Die Heimarbeiterinnen bekommen für die Stunde 11-13 Pfennige, das macht bei 10-stündiger Arbeitszeit 1,30 Mark je Tag. Ich sehe die Heimarbeit meiner lungenkranken Familie T. vor mir. Die kleinsten Kinder sitzen schon an dem grellen grünen Papier – sie selbst in Lumpen, Girlanden für die kitschigen Tanzsäle machen. Mir ist, als sähe ich sie wandern, den Zug der Heimarbeiterinnen, mit den angstvollen Sorgengesichtern, den übermüdeten Augen, den hohlen Wangen, den gebeugten Rücken – um ihre 13 Pfennige zu empfangen und dafür danken zu müssen und lächeln zu müssen, damit ihnen die Arbeit nur erhalten bleibt, und im Innern schreiend und fluchend, das Leben verwünschend. Ein Zug der Flüche und Verwünschungen. Gottes Wille ist das nicht. Ach, möchte Gott doch herausbrechen aus den Kirchen und Sekten, hinein in die Welt. Aber dafür muß er selbst erst mal in die Kirchen und Sekten hinein, – wenn er sich nicht wo andere Bahn macht. Er ist ja nicht bei uns, mit uns, für uns, wenn Er nicht aus uns heraus, durch uns hindurchbricht in die Welt der Schmerzen.
Ganz naiv erzählte die evangelische Abteilungsleiterin: Der Besitzer sei Jude, sehr nett und freundlich und bewillige gern Geld, aber der Geschäftsführer, der ein Christ sei, sei so hart und roh und habgierig.
Heute nachmittag gab ich die letzte Stunde an Frieda K.: 1.Kor. 15, in diesem Kapitel – ich finde in der Eile den Ausdruck nicht – atme ich Reich Gottes, Herrschaft über alle Feinde, auch über die satanischen Feinde der Ausbeutung, über alle Obrigkeit und Gewalt!
Nach dem Abendbrot habe ich zum Vortrag gearbeitet. Die Botschaft der Bibel bedeutet Kampf in der Welt. Gottes Sache hört mit dem friedlichen, harmlosen dreifachen Amen am Schluß des Gottesdienstes nicht auf.
Dienstag.
Heute war ein ruhiger Tag. Auffallend wenig Leute waren da. So konnte ich mir meinen Vortrag wirklich durch den Kopf gehen lassen. Ich las dazu zwei Predigten von Blumhardt, die ich zufällig aufschlug. Weißt Du, es ist doch immer wieder, als würde man in eine neue Welt hineingestellt. Eine Freiheit ist da, wie man sie sonst nirgend heute findet, eine Freiheit, wie sie nur aus der allerletzten Gebundenheit kommt. Er sagt z. B. „In der Bibel steht nie: die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt – das hat Luther bloß so übersetzt, weil er einen falschen Gedanken im Kopf hatte, da mußte die Bibel sich beugen; in der Bibel steht immer Gottes Gerechtigkeit.“ Und weiter: „Wenn ihr eine Gesellschaft gründet, die ganz spiegelglatt ist, da die Leute kaum mehr lachen, geschweige denn tanzen, oder ins Wirtshaus gehen, sondern deren Tageslauf bloß ist: aufstehen – beten, arbeiten – beten, essen – beten, schlafen – beten – – macht eine solche Gesellschaft: damit wird der Welt nicht geholfen. All dein Bemühen, daß du gerecht seist vor Gott, ist lauter, lauter verlorene Zeit. Weißt du denn, ob es nicht einmal Gerechtigkeit Gottes ist, daß du tanzen sollst? Wenn es dem lieben Gott gefällt, daß du einmal tanzest, warum tanzest du dann nicht?“ „Wir müssen nicht uns suchen und unsere Gerechtigkeit, wir müssen suchen, daß Gott in die Welt komme mit seinem Recht. Und wenn er euch sagt: Wenn ich komme, werdet ihr erst recht Sünder sein. So müssen wir jauchzen und gerne Sünder sein, wenn nur Gott kommt mit seinem Licht!“ „Wenn du die ganze Woche gearbeitet hast und müde bist, so ist es unter Umständen gerecht, wenn du im Bett liegen bleibst, und es kann eine Schmach für Gott sein, wenn du deinen zerbrochenen Leib auf die harten Kirchenstühle bringst.“ All’ diese Freiheit ist eben bei ihm nur zu erklären aus dem unbedingten Tun und Erkennen: Gott alles, Gott allein, nicht wir. In derselben Predigt sagt er: „Es kann der Welt nur geholfen werden, wenn ein Volk entsteht, das nur für Gott entbrennt.“ „Wir müssen uns opfern für die Gerechtigkeit Gottes; vergebt euch selbst, sucht nicht immer selbst gerecht zu sein, bittet nur, daß Gott komme.“
Das wollte ich Dir doch abschreiben. Heute war ein Mann hier, der seit drei Jahren sich überlegt hat, ob er mich mal besuchen soll. Da ist er nun wahrscheinlich mit ganz großen Erwartungen gekommen, und ich konnte ihm doch so gar nicht helfen. Ich habe mir zunächst einmal sein Leben erzählen lassen. Ein übersensibler, nervöser Mensch, der von mir Kraftimpulse und Lebensmut erwartet. Ich will zunächst einmal zusehen, daß er in regelmäßige Arbeit hineinkommt. Ich darf ihn aber nicht aus den Augen verlieren.
Mittwoch.
Solch gequälte Predigten, wie die vom letzten Sonntag sind sicher jedem Pfarrer nötig.
Denke mal, heute mußte ich im ganzen 25 Mark an Arme geben. Wo soll das herkommen? Ich mußte es geben, Du hättest sogar noch mehr gegeben.
Nur einen Besuch gemacht, aber eine Reihe Besuche gehabt.
Freitag. Im Zuge.
Gestern schrieb ich nicht. Ich mußte tüchtig ran. Zusammenfassend über die Botschaft der Bibel sprechen zu sollen, ist wieder mal so etwas, wo man das Unvermögen spürt. Zudem platzte wie eine Bombe der Brief des Konsistoriums hinein, ob ich nach … an die … Kirche wollte. Wenn man so einen Brief in der Hand hat, dann spürt man die Entscheidung, die da verlangt wird. Wie so oft, so möchte man auch in dem Fall klar den Willen Gottes sehen, der einen auf diesen oder jenen Weg weist.
Ich fragte gestern die Konfirmandinnen und heute die Konfirmanden, wer die Erntegaben, die beim Erntedankfest vor dem Atar niedergelegt werden, den Notleidenden ins Haus tragen wolle. Es meldeten sich nur die Volksschülerinnen. Die andern starr und nicht wollend. Da kann ich richtig grimmig werden. Ich sah übrigens gestern einen Jungen mit einem Drachen, den er gerade aufsteigen ließ. Auf dem Drachen ein mächtiges Hakenkreuz. Gibt es für völkische Fanatiker auch jüdische Vögel und jüdische Luft? Wahrscheinlich.
Sonnabend. In Steinberg.
Es war ein feiner Tag. In meinem Zimmer begrüßte mich eine geschriebene Karte: „…verkündigte das Evangelium.“ Da wurde ich ganz froh, denn mir schien mein Vortrag stellenweise mehr Predigt als Vortrag. Aber, nicht wahr, wenn man über die Botschaft sprechen darf, dann ist es eben Verkündigung, soll es eben Verkündigung sein, und da verschieben sich die Grenzen zwischen Predigt und Vortrag. Bei der Andacht habe ich nur Schriftworte verlesen, habe das eigne, das Menschenwort, weil es doch nachher noch genug zur Geltung kam, ganz gelassen. Nach meinem Vortrag war eine lange Pause, bis zum Mittagessen, dann Mittagsruhe, gemeinsamer Spaziergang. So vernünftig war hier alles organisiert im Gegensatz zu anderen Tagungen und um 4 Uhr erst war Aussprache. Zwei Stunden dauerte sie und war wirklich sachlich und ernst und tief. Ich konnte dabei herausarbeiten, daß die Verantwortung für mein Tun nur größer und wird, wenn ich alles in die Sache Gottes hineinstelle, als wenn ich nur für meine Besserung und an meiner Vervollkommnung arbeite. Es ist furchtbar, die Sache Gottes zu schädigen, viel, viel ernster, als wenn ich mein inneres Fortkommen schädige. Leider sah ich nichts vom Gebirge. Es war schon dunkel auf der Fahrt hierher.
Sonntag. Im D-Zug.
Heute sprach ich vor ungefähr 300 jungen Menschen. Auf diesen Jugendtagungen jagt immer eins das andere. – Zwei Tage hintereinander Vortrag halten ist eigentlich zu viel. Hinzu kommt, daß man bei diesen Tagungen auch in der freien Zeit ständig schwere und grundsätzliche Gespräche führt. Und doch wäre ich mit dem Kreise, vor dem ich gestern sprach, gern noch zwei Tage zusammengeblieben. Auf der Rückfahrt eben hatte ich eine Stunde Aufenthalt in … Mich begleitete noch Dr. R. Er war schauderhaft herrisch gegen die Kellnerin im Lokal. Ich schäme mich dann immer der sogenannten guten Stände. Es war übrigens in dem Lokal rührend. Ein großer Betrieb, überfüllt – und alles Bürger, friedliche, ehrbare Bürger mit Frau und Kindern. Das ist nun ihr Sonntagsvergnügen. Dafür müssen sie sich so viel Schönes abknapsen in der Woche, um in dieser Luft zwei Stunden oder länger zu essen und zu trinken. Aber man war friedlich und behaglich. Übrigens ging die Heilsarmee durchs Lokal und sammelte. Ob die Kirche das nicht auch tun dürfte? Oder meinst Du nicht? Es ist das Erscheinen dieser Heilsarmeefrauen immerhin auch ein Anstoß in der Richtung, daß es über dem Bier und der Gemütlichkeit auch noch etwas anderes gibt.
Montag.
Bei der Rückkehr gestern abend erwarteten mich 22 Briefe. Ein Teil betrifft mein Gemeindeblatt, aber es sind doch auch wieder sehr viel seelsorgerische Briefe. Die meisten voller Kummer und Angst. Aber ich hatte auch eine Freude: ein durchreisendes, durch Erwerbslosigkeit innerlich ganz zerrissenes Mädchen von 30 Jahren aus guter Familie hatte ich mit verhältnismäßig wenig Geld zur Weiterreise unterstützt. Nun schreibt sie heute, daß sie in ihrer geplanten Arbeitsstelle angekommen ist Und dankt. Zum erstenmal – tatsächlich, – zum erstenmal ein durchreisender Mensch, der sich bedankt. Da freute ich mich so, daß ich ihr gleich wieder schrieb. Von Direktor K. bekam ich statistisches Material zugestellt über die Folgen unserer heutigen sozialen Fürsorge, die es z. B. dahin bringen, daß ein ungelernter Arbeiter mit vier Kindern 25,29 Mark Lohn und im Krankheitsfalle 24,– Mark Krankengeld bekommt. Die Spanne zwischen Lohn und Krankengeld ist zweifellos zu gering. Damit fällt der Anreiz zur Wiederaufnahme der Arbeit hin. Aber ich hielt es doch für meine Pflicht, zurückzuschreiben: „Es ist ausgeschlossen, daß ein Arbeiter mit vier Kindern (d. h. also sechs Personen) in der Woche von 25.29 Mark leben soll, zumal von diesem Betrag oft noch Fahrgeld abgeht. Wenn er bei Krankheit 24,– Mark bekommt, so ist das eben das allernotwendigste, was er braucht, um nicht zu verhungern. Bei wirklicher Krankheit ist das Krankengeld aber zu niedrig, da dann eine besonders gute und nahrhafte Ernährung des Kranken erforderlich ist.“ Der Empfänger wird das ja als Anklage auffassen und doch kann ich hier, wo Kirche und Wirtschaft sich so freundschaftlich berühren, gerade als Pfarrer nicht anders, als offen meine Meinung zu schreiben. Weil er so fein ernst und innerlich die ganze soziale Frage durchdenkt, möchte ich ihn nicht verletzen. Aber schließlich gilt es dann doch die Wahrheit.
Heute früh war ich bei einem Pfarrer der Umgebung. Ganz Industriedorf, überwiegend kommunistisch. Der Pfarrer ganz deutsch-national. Trotzdem grüßten die Dorfbewohner ihn alle auf der Straße. Er ist eben ein Charakter. Z.B. nimmt er, obwohl er 13 Menschen zu ernähren hat, kein Geld von den wohlhabenden Leuten für Konfirmationen usw. Nicht nur, weil er sich nicht an die reichen Leute verkaufen wolle, sondern diese sollten auch nicht die Gelegenheit haben, sich für schlechte Geschäftsmanipulationen pp. loszukaufen. Er erzählte Beispiele! All das tut er trotz großer finanzieller Schwierigkeiten. Wie allein steht doch solch in solch einer Gemeinde. Wir Stadtpfarrer haben es darin doch leichter, an uns hängen immer noch ein paar Leute und wenn es bei manchen Kollegen auch nur alte Fräuleins sind. In diesem Dorf kann es vorkommen, daß zwei Leute in der Kirche sind. Es kommt in unserer Gegend sogar öfter vor, daß der Gottesdienst wegen Mangel an Beteiligung ausfällt.
Heute nachmittag habe ich Erntegaben verteilt: In der Inflationszeit, als es allen sauer wurde, waren es viel mehr Gaben. Heute, wo es vielen gut geht, wird weniger an die Armen gebracht und viel weniger gegeben.
Dienstag.
Soeben habe ich über das Abendmahl gesprochen. Bisher habe ich noch nicht gemerkt, daß Du zum Abendmahl eine ganz klare und feste Stellung hast. Für uns steht Verkündigung des Wortes und Spendung des Sakramentes völlig als eins zusammen. Aber ich wollte Dir nur folgendes dabei erzählen: Von dem Augenblick an, wo Blumhardt auf den Titel Pfarrer verzichten mußte, hat er nicht nur die Kanzel aus Bad Boll herausgetan, sondern hat auch nie wieder Abendmahlsfeiern gehalten. Den Grund dafür sehe ich in folgendem: Blumhardt wollte doch überhaupt nicht die Trennung zwischen Leben und Religion. Wenn also in Bad Boll eine Tischgemeinschaft war, dann war das eben für ihn eine Tischgemeinschaft in Christus, eine Abendmahlsgemeinschaft. Neben der täglichen Tischgemeinschaft noch eine besondere religiöse Übung in der Abendmahlsgemeinschaft zu haben, – das wäre für ihn eine Spaltung zwischen Leben und Christentum und damit eine innere Unwahrhaftigkeit gewesen. So scheint mir die Sache zu sein.
Es ist zwischen uns mal wieder ein gleiches Erleben, trotz der räumlichen Entfernung. Gestern schrieb ich Dir von den Nöten des Dorfpfarrers. Und vorgestern abend hast Du mir von Deinen Dorfpfarrer-Nöten geschrieben. Der Brief kam heute früh an. –
Der Brief des Freundes sei beim Druck in das Tagebuch eingefügt:
Meine Predigt ist heute, was ganz selten vorkommt, stark persönlich geworden: „Wir – d. h. ich als Pfarrer und mein Haus mit mir – warten auf das Lebendigwerden, auf den Durchbruch des Geistes Gottes in unserer Gemeinde. Es ist solch schwere Versuchung für jeden Pfarrer, das Warten aufzustecken und faul zu werden, d. h. den Amtskram wohl pünktlich und gewissenhaft zu erledigen, aber sich damit zufrieden zu geben und sich das Leben im übrigen bequem zu machen oder auch in das Gegenteil zu verfallen und sich durch Betriebsamkeit ein künstliches Leben der Gemeinde vorzutäuschen.“ Soviel sagte ich in der Predigt. Es ist ja so unglaublich schwer, als Landpfarrer Sonntag für Sonntag auf der Kanzel zu stehen und nie ein Echo auf seine Predigten zu bekommen. Wenn sich die Leute nur wenigstens mal ärgern wollten! Sie mögen es schon tun, aber auch das nur hintenherum. Ich sitze wie gelähmt zwischen soviel Sattheit und Trägheit, zwischen dem sich immer gleichbleibenden Trott. Da kann einem das Herz schon brennen nach einem Pfingstwunder.
Mittwoch.
Ich las heute: „Die 2. Pfarrstelle an der Michaeliskirche in ist zu besetzen mit einem freigerichteten Theologen …“ Mich überläuft es kalt, wenn ich so etwas lese. Es sollte doch wahrhaftig heißen: mit einem auf Christus gerichteten Theologen. Richtig wäre auch: mit einem von Gott gerichteten Theologen.
In Steinberg fragte ich übrigens, wer von den Teilnehmern häufiger oder überhaupt Predigten über die Wiederkunft Christi gehört habe. Als Antwort kam lediglich: Bezzel hat darüber gepredigt. Sehr charakteristisch!
Nach der Beerdigung gehen Mutter, Tochter, Schwiegersohn des Verstorbenen und ich zusammen vom Grab fort. Das erste Wort, das die Tochter sagt, lautet: „Die haben den schäbigsten Kranz geschickt.“ Und ich hatte doch wirklich eben von der Ewigkeit gesprochen. Und es war doch der eigene Vater, dessen Grab sich eben geschlossen.
Abends tauchte bei den konfirmierten Mädchen die Judenfrage auf. Einige Mädels waren schon ganz verhetzt: „Alle Zeitungen sind in jüdischer Hand“; „die Juden geben alles Geld an die Kommunisten“. Ich schloß schließlich die Debatte mit dem Hinweis: auch die Juden gehören Gott. Und auch den Juden will Christus Herr und Erlöser werden.
Sonnabend.
Die Predigt war gestern im wesentlichen entworfen. Nun brauchte ich sie heute nur noch abzuschreiben. Aber doch kam ich erst um 8 Uhr abends zum Lernen, denn am Nachmittag hatte ich zwei komplizierte Trauungen, deren Ansprache ich aufschreiben und lernen mußte. Das nahm doch über einundeinhalb Stunden in Anspruch und die Trauungen selbst insgesamt auch anderthalb Stunden.
Die erste Trauung war eine sehr weltliche. Das Brautkleid so kurz wie für eine Ballettdame. Aber im Grunde waren es nette Leute, nur gebunden an die verfluchte Mode. Ob wohl die aus Sekt und Hochzeitsessen eingestellten Gäste vernommen haben, daß da ein Wort aus dem Jenseits in all die Festfreude eindringen wollte? Wenn nicht – wozu habe ich dann gesprochen? Die einfacheren Menschen bei der zweiten Trauung hörten sehr viel intensiver zu. Dabei stellte ich folgenden Aberglauben fest: man muß von links vor die Brautstühle treten, sonst gibt’s Unglück! Nachher war ich wieder so ausgepumpt an der Fähigkeit (ich finde grad’ keinen besseren Ausdruck), über Religiöses zu sprechen, daß ich nicht das Tischgebet sprechen konnte. Das geht mir immer so, wenn ich so viel predigen muß. Es hat eben dies sehr seine Grenzen.
Dieser heutige große Text hat mir Freude gemacht. Ich stelle „nur“ hin: „Ich bin der Herr“ und gehe damit am Text entlang. Ich wollte mal deutlich zeigen, daß es keine Gemeinschaft mit Gott gibt ohne Ringen, ohne Sich-Wehren, ohne Empörung, daß es kein behagliches Eins-sein mit dem Willen Gottes gibt, sondern daß der Gotteswille immer den Menschenwillen tötet. Als ich mit Predigtschreiben fertig war, ging ich ½ Stunde an die Luft. Aber es war föhnartige heiße Luft, gar nicht erfrischend und klar, paßte gar nicht zu meiner Predigt. Ich mußte immerzu an die beiden Brautpaare denken. Wie werden sie durchs Leben gehen? Es ist übrigens eine Hochzeit genug für den Pfarrer am Tag, um damit fertig zu werden.
Werde ich morgen sagen können, so sagen, daß es gehört wird: Gott ist und ist Herr? Möge Er es geben.
Montag.
Über die Predigt sagte mir heute eine Arztfrau: „Ich habe mich gewundert, daß Sie zu solch einem Text gegriffen haben, denn das Alte Testament lehnt man doch heute ab.“ Man – – – Am Abend nahm Fräulein Dr. Rainer Abschied, die von hier fortgeht. Sie hat mir oft sehr fein über meine Predigten ihr Urteil gesagt. Und ich habe ihr immer viel abgelesen – ihre Not und ihr Schicksal, ihren Kampf mit sich und einem andern, habe aber nie ein Wort darüber gesagt. Sie würde schon selbst sprechen, wenn es so weit wäre, habe ich in all den Jahren immer gedacht. Und nun kam es am Abschiedsabend von selbst dazu. Ein paar Worte nur, aber sehr schwere wurden gewechselt. Jetzt ist es 12 und ich will noch die Korrektur des Gemeindeblattes fertigmachen. Wieder denke ich: liebes Blatt, verkünde Du auch etwas, etwas von dem, der der Herr ist.
Dienstag.
Merkwürdig doch, wie man sich nach einem solchen Gespräch gestern abend hineinverflochten fühlt in ein fremdes Schicksal. Ich hatte außer diesem, was mich bewegte, heute eine starke Auseinandersetzung mit Hilde Bahrfeld. Ich habe noch nie bei einem so jungen Menschen ein so herbes Ringen gesehen, ein solch bohrendes Fragen um die Wirklichkeit Gottes, ein solches Für und Wider die Forderung Gottes an den Menschen. Was für eine andere Zeit heute als Deine und meine Primanerjahre. Wir lasen Nietzsche auch, freuten uns an der Gottlosigkeit und an der Ironie.
Diese Hilde liest und sieht bei Nietzsche (im ausgesprochenen Gegensatz zu ihren Schullehrern) immer nur das Suchen und Fragen nach Gott. Und sie hat ja recht. Aber woher kommt es, daß uns dafür heute die Augen aufgegangen sind und sogar schon solchem jungen Mädchen ganz selbständig aufgehen?
Ich hatte auch sonst – „Duplizität“ der Fälle – eine lange Auseinandersetzung heute. Noch solch bohrendes Fragen nach Gott: Ein junger Mann. Auf mehrere Tage verteilt wären mir diese Aussprachen lieber und leichter, und ich würde besser zu den einzelnen Dingen Stellung nehmen. Aber man kann all so etwas ja nicht machen, man muß es nehmen, wie es kommt. Sehr wertvoll war mir eine Teestunde bei zwei alten Bollern, wir sprachen nur von Blumhardt, lasen auch eine ungedruckte Andacht von ihm. Zu der einen Bollerin hat er 1914 bei Kriegsausbruch gesagt: „Jetzt hat der Satan gesiegt.“ Es wurde auch erzählt, wie in Bad Boll die Mächte der Finsternis sehr stark herausgetreten sind. Gar nicht nur Licht war in Boll zu sehen, sondern auch sehr viel Finsternis. Bei uns ist alles so lau und so neutral und so gleichmäßig. Wo Jesus selbst ist, da gibt es Kontraste und Spannungen und Kämpfe.
Im D-Zug.
Also nun habe ich den Ruf nach … angenommen. Ich frage mich ja: ist es nicht undankbar gegen meine bisherige Gemeinde? Aber ich habe doch wirklich keinen Strich dafür getan, daß ich gerufen wurde. Ich kann Dir im einzelnen nicht auseinandersetzen, warum ich dem Ruf folge. Mündlich werde ich Dir alles erzählen.
An sich wäre ich gern in den nächsten Jahren einmal in eine kleine Stadt gegangen und hätte da still für mich gearbeitet, hätte eingesammelt, hätte tief geatmet, wäre mal mit der Natur zusammengekommen. Das Schicksal hat mich anders geführt. Übrigens, Du hättest Dich gefreut, wie innerlich schlicht, bescheiden die meisten Leute im Konsistorium sind. Gar nichts Kirchenfürstliches. Ganz schlichte Pfarrer sind sie geblieben. Auch der Jurist wirkt so. Ich halte die vulgäre Art, aufs Konsistorium zu schelten, für ungerecht. Es wird da sachlich gearbeitet. Ich gestehe allerdings, daß ich stets denselben Eindruck bei den kirchlichen Behörden habe, wie ich ihn ebenso beim Justizministerium und Wohlfahrtsministerium immer hatte: Es ist so wenig Initiative bei den Behörden. Man wünscht sich immer Sturmwind in die Gebäude. Da ist alles eingehüllt in lauter Vorsicht. Ärgernis geben – das liegt Behörden sehr fern, leider auch den kirchlichen. Ein Konsistorialrat ist ja auch ein unglücklicher Mann: er ist eingeengt nicht nur in hundert Paragraphen, sondern auch gebunden an die Meinung der andern Mitglieder des Konsistoriums. Das Konsistorium schreibt ja stets: „wir, wir erkennen dies und jenes als kirchlicher Ordnung entsprechend“. So muß ein Konsistorialrat ja ein völlig unfreier Mann sein, geplagt mit unzähligen Ängsten. Hinzu kommt der starke, meiner Auffassung nach viel zu starke juristische Einschlag der Kirchenbehörden. Das Juristische ist so stark, daß auch die Theologen ganz in den juristischen Sprachgebrauch versinken, aber auch in die juristische Gedankenwelt. Jedes Schreiben, das ein Theologe aufsetzt, durchläuft erst mindestens eine juristische Instanz, ehe es hinausgeht. Ein richtiger Oberkonsistorialrat (Theologe) sagte mir neulich: die Juristen ständen auf dem Standpunkt, ein kirchenbehördlicher Bescheid und Erlaß müßte so sein, daß kein Mensch dagegen ankäme, müßte unanfechtbar und unwiderruflich sein. Das ist natürlich vollkatholisch. Es ist römischer Unfehlbarkeitsanspruch, der sich da eingeschlichen hat; es ist völliges Abweichen von der reformatorischen Erkenntnis, daß Konzilien usw. irren. Schon die Tendenz, Unanfechtbares von sich zu geben, ist evangelischer Anschauung strikte zuwider. Aus dieser Tendenz kommt natürlich auch die mangelnde Durchschlagskraft aller kirchlichen Kundgebungen. Merkwürdig und sehr traurig an der Sache ist aber, daß die Theologen in den kirchlichen Behörden so wenig gegen die katholisierende Juristerei ankommen.
Daß es so bei den kirchlichen Behörden ist, liegt natürlich zum großen Teil an der ehemaligen Verflechtung mit dem Staat. Kirchenbehörden waren ja Staatsbehörden. Daß es aber so schwer ist, die staatlichen Eierschalen abzustoßen und flügge zu werden, das liegt doch wohl an dem Fehlen wirklichen Lebens in der Kirche. Wo Leben ist, da ist Schwung, Drang nach vorwärts, da ist Angriff, Kühnheit. Wie fehlt das alles in der Kirche!
Sonnabend.
Ein ernster Tag. – Nicht nur, weil ich mich entschlossen habe, von der Gemeinde fortzugehen, sondern der Predigt wegen. Es ist Nachmittagspredigt, und da möchten die Menschen doch etwas Ruhiges, Menschliches, Gemütvolles vernehmen. Es ist Abendstimmung. Die Menschen wollen ausruhen. Aber andererseits bleibt doch auch der Abendgottesdienst Dienst an Gott, nicht nur Dienst an Menschen. Jenseitsdienst, nicht nur Diesseitsdienst. Immerhin – diese natürliche Empfindung der Abendkirchbesucher hat doch auch ihre Berechtigung. Oder nicht? Aber jedenfalls morgen kommt sie mir entgegen: ich darf nicht immer so zentrale Dinge anrühren wie das letztemal. In mir zittert noch heute Hochspannung nach. Es würde dann auch dieses zur Gewohnheit, sofern man nicht dabei entzwei ginge. Jedoch – ich muß Dir gestehen: wenn ich eine Predigt fertig habe wie diese sanftere, dann habe ich dauernd ein schlechtes Gewissen. Es kommt mir alles so flach und fade vor im Verhältnis zur Predigt vom letzten Sonntag. Um ¾ 1 Uhr hatte. ich die Lieder ausgesucht. Da wollte ich Dir nicht mehr schreiben.
Gerade als ich mich Donnerstag abend an die Predigt setzte, läutete unsere Kirche ihr Abendläuten. Mir war es wie ein Abschiedsgeläut. Ich war heute bei einem ernsten Mann, der den Stuttgarter Briefschreiber und ehemaligen Gefangenen seit Jahrzehnten kennt. Es stimmt alles, was der Briefschreiber geschrieben, er sage eher zu wenig als zu viel, sei unschuldiger als er es hinstelle. Um so erschütternder dieses Leben. Weil die Menschen ihn verfolgen, hat er auch nicht geheiratet, er kann es nicht verantworten, eine Frau unglücklich zu machen. Nun sitzt man hier so weit weg, denkt an ihn, möchte ihm helfen und kann nicht. Ein ohnmächtiges Geschlecht sind wir doch. Aber ich frage mich immer, und es ist eine furchtbare Frage: liefere ich nicht durch meine Machtlosigkeit der Welt Beweis, daß Gott nicht ist? oder besser gesagt. müßten wir nicht der Welt den Beweis liefern, daß Gott ist? Wir sollen doch das Licht der Welt sein. Wo Heiliger Geist ist, da ist auch Macht Und Hilfe. So bleibt wirklich nur, daß wir inbrünstig uns sehnen, Ausschau halten nach einer neuen Ausgießung des Heiligen Geistes. Einen Gemeinschaftsmann brachte ich heute in Verwirrung. Er erzählte mir voll Freude und etwas süßlich, daß er seit dem 4. August 1913 bekehrt sei. Ich fragte ihn darauf: „Sind Sie auch seit dem 4. August 1913 ein Nachfolger Jesu?“ Da fing er an zu stottern und wurde ganz bestürzt.
Ich hatte heute Taufe eines unehelichen Kindes. Es ist kirchliche Sitte, daß alle Mütter eingesegnet werden, nur die unehelichen nicht.
Gegen den Willen des in kirchlicher Ordnung so gewissenhaften, guten Küsters tue ich es doch. Haben die unehelichen Mütter nicht den Segen Gottes mindestens so nötig? Haben sie ihn nicht nötiger als die ehelichen? Ist der Segen eines Pfarrers, eines Dieners am Wort, etwa ein Orden? Ich habe den Segen Gottes zu verkünden, habe durch Handauflegung und Wort zu verkünden, daß Gott segnen will. Und wer weiß, ihr gerechten Kirchenchristen, ob nicht manche sündige Uneheliche in ihrer Not emporschreit um Vergebung und darum mit der Vergebung gesegnet wird – – wer weiß, ob nicht manche Eheliche, die nichts von Sünde und Vergebung wissen will, vom Pfarrer prompt gesegnet wird, während Gott seine Hand zurückhält. Wer weiß, wer weiß! – Wie anders war doch Blumhardts Haltung, wieviel neutestamentlicher. Von einer unehelichen Mutter sagte er. „Nun sie ein Kind hat, ist ihr die Sünde vergeben.“ –
Gleich im Anschluß an die Taufe hatte ich eine Trauung. Merkwürdig, wie bewegt und verlegen zugleich gänzlich Unkirchliche aus einfachen Ständen vor den Altar treten. Sie spüren das sanctum.
Dabei etwas anderes: Unsere kleine Tochter fällt seit ein paar Tagen beim Tischgebet auf die Knie. Niemand hat ihr so etwas gezeigt. Mit ihren dreieinhalb Jahren weiß sie auch wirklich kaum, zu wem gebetet wird. Aber die Urschauer des Menschen vor dem Heiligen durchzucken das Kind. Das Heilige zwingt das Kind in die Knie. Es schlägt gerade 12 Uhr. Der Sonntag ist da. Morgen früh kann ich nun ruhig die letzten beiden Seiten lernen und dann bis zum Nachmittag nochmal die ganze Predigt überlernen. Ob vielleicht doch auch durch solche, mir etwas fade scheinende Predigt ein Mensch berührt wird? Es war mir ein Trost, daß heute in der Sprechstunde eine Frau von einer Predigt sprach, die ich damals (vor drei Jahren) sehr mangelhaft fand und heute nie so halten könnte. Gerade diese hat sie noch im Gedächtnis. Und all die andern sind vergessen. So darf vielleicht manchmal wirken, was wir Prediger für unwesentlich halten. Und manches ist ganz vergeblich, was wir für wesentlich halten. All das steht nicht in unserer Hand.
Sonntag abend.
Du hast recht: es gibt Predigten, die in uns hineingegossen werden, so daß wir sie nur herauszuholen brauchen. – Was bist Du für ein glücklicher Pfarrer. Mehr Männer als Frauen in der Kirche. Stelle Dir unsere große Kirche vor: mehr Männer als Frauen! Und einst war das Christentum doch Männersache. Erst wurden zwölf Männer, dann siebzig Männer ausgesandt. Und heute ist das Christentum Frauensache. Irgend etwas muß also nicht stimmen bei uns. Ich weiß noch nicht, was nicht stimmt. Aber ich weiß, daß es nicht stimmt. Ich komme gerade zurück vom Jahresfest der Frauenhilfe. Es ist doch typisch, daß kaum ein Mensch daran denkt, eine Männerhilfe aufzumachen. Der große Saal des Gemeindehauses war ganz voll von Frauen. Ihn halbvoll von Männern zu sehen, wäre mir lieber. Ich sagte das in meiner Begrüßung. Mein Kolleg schlug diese nackte Wahrheit in seinem Schlußwort natürlich tot, indem er erklärte: vor Jesus Christus gäbe es keine Männer und Frauen, nur lebendige Seelen. Aber ich glaube doch, daß Jesus nicht auf diese Erde gekommen ist, um eine Frauenkirche zu gründen bzw. Eine Kirche, in der höchstens zehn Prozent Männer mitarbeiten (abgesehen davon, daß er natürlich überhaupt nicht auf die Erde gekommen ist, um eine Kirche zu gründen.) Ich glaube, die Kirche wird nicht eher Männerkirche und Kirche der jungen, im Leben stehenden Frauen werden (denn die Frauenkirche jetzt zählt alte Weiblein), bis sie den Kampf aufnimmt mit der Welt.
Also heute nachmittag habe ich gepredigt. Ich ging mit dem feinen alten v. P. nach Hause. Er hat sich über die Wendung, die ich dem Text gab, gewundert. Es ist doch aber so, daß wir immer vergessen, daß alle Menschen Gott gehören, daß Gott über jeden Menschen, auch über Juden und Chinesen, spricht: du bist mein. Und er spricht es auch über die unruhvolle, leidvolle, schuldvolle Großstadt. Ich glaube tatsächlich, unser ganzes Leben würde sich ändern, wenn wir die Menschen und die Dinge für das ansehen, was sie sind: Gottes Eigentum. Das gäbe eine völlig neue Schau. Dann ist eben auch jeder Engländer und jeder Kommunist und jeder Jude Gottes Eigentum, genau wie wir, also unser Bruder. Aber wer will so schauen?
Dienstag.
Gestern schrieb ich nicht. Eine Kleinigkeit, und doch hängt im sozialen Leben soviel an solchen Kleinigkeiten: Ich mußte einen offiziellen Besuch machen, setzte aber keinen Zylinder auf. Sonntags schadet er nicht viel. „Aber wenn ich am Montag vormittag durch die belebtesten Straßen der Industriestadt gehe (sofern es nicht sichtlich zur Beerdigung ist), so denkt jeder Arbeiter, der vorbeigeht: „Der hat auch weiter nichts zu tun; ich muß arbeiten, aber der geht spazieren.“ Ich habe bei anderen Gelegenheiten solche Gedanken beobachtet, oft auch Bemerkungen belauscht. All’ die Einwände, daß der Arbeiter doch dann spazieren geht bzw. schläft, wenn ich noch lange an meinem Schreibtisch arbeite, verfangen nicht. Er ist zu direkt dazu, zu unmittelbar denkend, zu naiv. Ich meine, diese Rücksicht auf die „Schwachen“, d. h. nicht so weit Denkenden, gehört auch ein wenig zum Christentum.
Mittags eine Beerdigung: ein uneheliches Kind von zehn Wochen, die Mutter selbst noch wie ein Kind und der Vater wie ein Junge. Dazu vier bis fünf Bekannte. Es war mir schon bei der Vorbereitung sehr schwer, erst recht beim Sprechen. Die Eltern waren sehr wenig erschüttert. So ein geheimer Trotz gegen – ja, wogegen eigentlich? gegen das pharisäische Urteil der Mitmenschen? – lag über ihnen. Ich mußte hier an diesem kleinen Grabe vom Zorn Gottes sprechen. Der Gedanke: es ist so am besten für uns (keine Mühe, keine Alimente, kein Gerede) lag zu nahe. Es fragt sich nur, ob die Kunde vom Zorn Gottes gehört wurde.
Zu der Bemerkung neulich über die Einsegnung der unehelichen Mütter möchte ich noch dieses sagen: das Wort Gottes soll richten und zeugen wie ein zweischneidig Schwert. Wo das Wort fehlt oder matt geworden ist, will man es durch kirchliche Disziplin, durch Kirchenzucht ersetzen. Das heißt aber: das lebendige Wort soll durch eine Menschensache, durch eine tote Maschine, durch ein Menschengesetz ersetzt werden.
Nach Haus gekommen, kam bald H.D. Bei seiner herben Art traf mich sein Wort: „Wenn Sie hier weggehen, komme ich nie dahin, wohin ich kommen muß“ wie ein Schlag. Im übrigen weiß ich aber noch nicht, ob ihm nicht die Lösung von mir gerade heilsam ist. Es findet sich dann schon ein anderer Mensch. Heute abend schriebe ich am liebsten einen Brief: Liebe Gemeinde, du hast heute nur einen einzigen Besuch von deinem Pastor bekommen, und doch war er in Fahrt von früh bis spät. Vormittags sehr reichliche Sprechstunde. Allein zwei Beerdigungen und zwei Hochzeiten wurden angemeldet (immer abwechselnd), und ich rechne für jede Anmeldung doch durchschnittlich 20-25 Minuten. Eher, schneller kommt man nicht dahinter. Es muß sich doch erst einmal ein menschliches Verhältnis zwischen Pfarrer und Besucher bilden, und manche gehen auch dann nur mühsam ein klein wenig aus sich heraus. Dann zehn Briefe diktiert bzw. geschrieben, dann zur Beerdigung vorbereitet. Heute war es ein 80jähriger Mann. Mir passierte eine Unvorsichtigkeit, die mir durch das Grinsen eines Zuhörers bemerkbar wurde. Ich sagte, das Leben hätte ihm Kinder versagt. Das kann man natürlich nie sagen. Wer weiß, wie alles gewesen ist, wer weiß, ob uneheliche Kinder da sind, d.h. der Pastor weiß es nicht, die Hörer sehr genau. Ich werde das nie wieder sagen.
Während man in der Kirche ein Drittel Männer und zwei Drittel Frauen hat, hat man bei Beerdigungen drei Viertel Männer und ein Viertel Frauen. Die Aufgabe der Wortverkündigung, des wirklichen Zeugnisses von Gott und von Christus ist bei diesen Trauerreden gar nicht ernst genug zu nehmen. Aber es ist schwer, in fünf Minuten wirklich etwas zu sagen, wo man doch gar nicht von dem Anlaß, d. h. von dem Tode fortkommt. Diese Männergemeinde bei Beerdigungen!
Grad zurückgekommen, hatte ich eine Freude: ein kirchlich interessierter Laie, ein Dr.phil. suchte mich, im Grunde ohne besonderen Anlaß, auf und sprach über kirchliche Dinge. Wie selten geschieht das!
Dann habe ich einen Krankenbesuch gemacht, um ½ 8 Uhr hatte ich Hilde Bahrfeld zum Abendbrot eingeladen, danach mit ihr gesprochen. Mir ist da etwas ganz Sonderbares passiert. Ich habe selten bei einem Theologieprofessor und bei einem Prediger so aufmerksam aufgehorcht, wie bei diesem 17-18-jährigen Kind. Wie dieses Mädchen von Gott sprach – so eigen, so selbständig, so voll Paradoxie, so barthisch, so kierkegaardisch, obwohl sie noch nie die Namen dieser Leute gehört hat, und so voll heißer Empörung gegen die Kirche und das Menschensprechen von Gott, dabei so erschrocken über die eigene Kritik – ich wurde immer stiller, und schließlich sprachen wir über die Sünde. Ich kann Dir Einzelheiten nicht wiedergeben. Wie sie die einzelnen Sünden (gewiß sage ich das ja oft, aber wie sie das sagte) ablehnte und sagte: das wäre ihre Sünde, daß ihr Gott nicht alles sei. Und dabei hat sie noch nie mit jemandem über solche Dinge gesprochen. Ich bin ganz betroffen. Ich habe mich schließlich bei ihr bedankt. Mir ist das alles noch ganz unheimlich. Dieser innerste Aufruhr gegen Gott – für Gott.
Mittwoch.
Es ist eine Woche des Leides. Heute früh wurde mir eine Beerdigung für morgen angemeldet, dann kam viel Not in der Sprechstunde zutage und noch mehr in eingegangenen Briefen. Gleich nach der Sprechstunde ging’s zur Beerdigung eines 50jährigen Mannes, bei der 95 Prozent der Trauergesellschaft Beamte, also Männer waren und ich wieder richtig mit dem Tode ringen mußte. Verkünder des Lebens sein zu müssen im Angesicht des Todes! Dem Tod ins Gesicht sagen zu müssen, daß Christus ihn besiegt. Dem Tod ins Gesicht rufen zu müssen, daß er ein ohnmächtiger Geselle ist! –
Weil ich heute früh hörte, daß eine Witwe, die sehr lieblos und kalt gegen ihren Mann war, sich darüber beschwert hat, daß ich bei der Beerdigung so wenig von ihr und der Ehe gesagt hätte, so erklärte ich heute ganz offen: das Bild des Entschlafenen zu entrollen, dazu sei ich nur in zweiter Linie da, das mache ein Angehöriger viel besser. Ich hätte als Pfarrer zu sprechen und das heiße, darauf hinzudeuten, daß es noch etwas anderes gäbe, als den Menschen und sein Ende. Auf dem Rückweg vom Friedhof traf mich eine Frau, deren Sohn völlig abwegig ist, gegen die fleißig arbeitende Mutter handgreiflich geworden ist und dergleichen. Sie sagte inmitten ihrer Klage: „Ich wollte schon immer mal zum Herrn Pastor kommen. Aber es hat ja doch keinen Zweck.“ Das war – unbeabsichtigt – die härteste Anklage, die sie erheben konnte. Es hat keinen Zweck, zum Pfarrer zu gehen, er kann ja doch nicht helfen. Mir war es, als hörte ich Jesu Wort: „O du ungläubige und verkehrte Art, wie lange soll ich bei euch sein? Wie lange soll ich euch dulden? Bringt ihn mir her.“ Jesu Zornesruf gegen uns Pfarrer. Gleich nach Tisch hatte ich Krankenabendmahl: eine 30jährige Frau, Mutter eines dreijährigen Mädchens. Nun stirbt sie vom Mann und vom Kinde fort, stirbt klar und tapfer, vielleicht ist sie in diesem Augenblick schon tot. Wenn man es sich wünschen dürfte, so möchte ich auch so klaren, ungetrübten Geistes sterben. Aber es ist schon falsch, sich überhaupt den Tod zu wünschen. Er ist ja Gottes Feind, und wir haben ihn zu bekämpfen, in welcher Form er auch kommt.
Darnach machte ich einen Besuch bei sehr oberflächlichen Leuten. Zu Haus fand ich eine Frau vor, die infolge meines Gemeindeblattes, das sie im Sprechzimmer des Arztes gelesen hatte, den Pfarrer aufsuchte und Beziehung zur Kirche (ohne spezielles Anliegen) suchte. Wie gestern der Dr.phil.
Dann war noch einer bei mir, der früher in einem anderen Stadtteil in der Gemeindevertretung war. Er klagte Stein und Bein über die Dinge, die da in den Sitzungen verhandelt würden: ob ins Pfarrhaus ein neuer Ofen solle, wieviel Geld für die Lichtleitung bezahlt ist usw. Er hat recht. Da liegt ein Versäumnis, das sich bitter rächen wird. Wo wir einmal mit Laien zusammenkommen, vertrödeln wir die Zeit mit Nichtigkeiten und Wichtigtun in Sitzungsform. Statt daß wir miteinander ringen um die tote Gemeinde, um das tote Wort, um die Not.
Eine Freude hatte ich heute, etwas, was ich ganz im geheimen gehofft hatte – daß nämlich Pfarrer meine Schrift lesen würden. Ein mir unbekannter, der Handschrift nach älterer Amtsbruder schreibt: „Ihr Büchlein ist mir gestern von einer Sozialbeamtin in die Hände gedrückt worden. Ich gestehe Ihnen gern, daß es mich innerlich aufgerüttelt hat. Es ist ja gerade einem Pfarrer not, daß er durch das Zeugnis eines anderen auf das Bewußtsein seiner Schuld hingelenkt wird und so immer neu den einzigen Ansatzpunkt in und für seine Arbeit gewinnt. In dieser Beziehung haben mir Ihre Worte einen großen Dienst getan.“ Dann beanstandete er zwei Theologika. Wenn man nur nicht ständig in Gefahr wäre, an solchem leidvollen Tag vor dem Leid zurückzuweichen und dem Tod und dem Leid Existenzberechtigung einzuräumen. Bei dem vielen Leid heute mußte ich mir oft mit einem Ruck die Waffe holen, um nicht selbst zu unterliegen und den Kopf zu senken – die Waffe, daß der Christus seinen Fuß setzen wird auf Leid und Tod. Und nun kann ich am Ende dieses Tages nicht anders, als bitten: tue es bald, Jesus Christus! Mache sie dir bald untertan. –
Donnerstag.
Nach Tisch hatte ich eine Beerdigung. Gleich nach der Beerdigung zwei Trauungen. Es ist eigentlich unmenschlich, was da vom Pfarrer verlangt wird. Eben hat er den Tod zu sich sprechen hören, hat die Erde auf den Sarg geworfen – – gleich darauf soll das alles völlig vergessen, völlig ausgelöscht sein. Und es soll von der Freude und von dem Leben ausgegangen werden. Eben das Vaterunser gesprochen am Grab, am Ende des Lebens, gleich darauf wieder am Altar, am Beginn des gemeinsamen Lebens. Ich weiß nicht, was heute geschah: in der Sakristei vor der Trauung trat plötzlich die Frage an mich heran: darfst du eigentlich segnen, darfst du im Namen Gottes die Hand auflegen, wo es ganz unreligiöse Leute sind, Leute, die die Trauung nur als bürgerliche Sitte nehmen, die bloß etwas Weihestimmung über sich ergehen lassen? Wird es sich nicht bitter an dir rächen, wenn du das tust? Ich weiß nicht, wie mir der Gedanke kam. Was bedeutete diese Frage an mich? So kam es denn, daß ich schärfer sprach als sonst, Gottes gebieterischen Willen krasser und rücksichtsloser vor das Paar hinstellte, als gewöhnlich bei Trauungen. Es war fast eine Bußpredigt. Ich meine nicht in Worten, sondern im Inhalt und in der Wirkung. Da konnte ich denn nachher die Hand auflegen. Kaum zu Haus nach diesen drei Amtshandlungen, kamen zwei Konfirmandinnen, die ein Viertel Jahr gefehlt haben, die ich deshalb nachunterrichten muß, damit sie nicht aus dem Zusammenhang kommen. Im Unterricht kommen sie nicht aus sich heraus, im Zimmer, bei persönlichem Anfassen geht es sehr fein. Beiden liegt der ganze Stoff ziemlich fern. Und doch möchten sie gern, das merke ich. Es sind beides schon Charaktere.
Ein Arbeitsloser klagte mir heute: „Ich habe noch nie soviel dumme Gedanken im Kopf gehabt, wie in dieser Zeit der Arbeitslosigkeit.“ All’ die Ratschläge, die ich geben konnte – lesen, zupacken, wo es auch ist, andern helfen – es ist alles so wenig gegen diesen Notschrei: Arbeit, Arbeit. Arbeiten wollen und nicht dürfen ist Qual. Wie gut haben wir es mit unserer Überarbeit. Die war es auch heute. Abends war noch eine Sitzung bei mir bis ½ 11 Uhr. Dann las ich schnell noch ein paar Seiten in einem für dich neuen Blumhardt-Buch „Gedanken aus dem Reiche Gottes von Blumhardt-Sohn 1895“. Doch davon morgen. Heute nur einen Satz daraus: „Ein Stehenbleiben bedeutet soviel wie eine Trennung von den lebendigen Bezeugungen Gottes, die in unserer Zeit an die Türen der Welt pochen.“ Dies Wort müßte über den Türen sämtlicher Konsistorien und Pfarrhäuser stehen.
Freitag.
Vor Tisch hatte ich die Beerdigung einer 80jährigen, die seit 20 Jahren nicht aus dem Haus gekommen und in ihrem Haus doch sehr glücklich war. Es war nur ein ganz kleiner Kreis, der mitging. So ist es das einzig richtige, da wird keine Massenstimmung erzeugt, sondern wirklich dem Tod sein Recht gelassen. Das ist das Recht des Todes, daß er uns mahnt, klug zu werden, klug allerdings im Sinne der Bibel.
Nach Tisch interessante Besprechung mit einem Pfarrer und dann einem Dr.jur. H., der, obwohl gänzlich mittellos, für mein Gemeindeblatt im Bekanntenkreise Geld gesammelt hat. So etwas kann einen ganz warm machen. Dann habe ich sehr heftig meinen Vortrag durchgearbeitet. Dann um ½ 6 Uhr Kirchenratssitzung, die nach meinen Begriffen wieder ganz traurig war. Ich hätte auch versagt, sagte ein Mitglied. Einzelheiten der Gemeinde-Kirchenratssitzung, die weder gemeindlich, noch kirchlich, noch ratlich war, erspare ich Dir. Ich weiß nur, daß wir auf diesem Wege in unserer Gemeinde nicht weiterkommen und nirgends in der Kirche, daß wir alle völlig umkehren müssen. Was nützt nun alles Predigen, wenn es im Rat der Gemeinde so zugeht. Was nützt es, jeden Sonntag zu lesen und angeblich zu bekennen, ich glaube an die Gemeinschaft der Heiligen, wenn nicht einmal die Spitze der Gemeinde diese Gemeinschaft durch die Tat bekennt.
Die Sitzung dauerte bis nach ½ 8 Uhr. Um 8 Uhr mußte ich in der Gemeinde einen Vortrag halten über den Sieg Jesu in der Welt. Er war sicher zu schwer. Einige Frauen haben sanft geschlafen. Aber es waren auch Studenten da und ein Landgerichtsdirektor. Was der wohl gesagt haben mag! Denn ich halte ihn für sehr unkirchlich. Schluß für heute.
Sonnabend.
Heute sozusagen ein „Seelsorgetag“. Einer nach dem andern, wie verabredet. Von 9 Uhr früh bis ¾ 8 Uhr abends. Z. B. ein Student, eine sich scheidenlassen wollende Frau, ein Junge, der seinen Eltern weggelaufen war, eine frühere Konfirmandin, die Berufssportlerin werden will. So frisch sie ist, so fürchte ich doch, daß das Geistige zu stark verdrängt wird. Wie bei mir das Körperliche zu stark verdrängt wird (heute bin ich grad bis zur Kirche gegangen), so bei ihr das Geistige. Aber ich finde das letztere doch schlimmer. Das Paar, das ich heute getraut habe, war sehr nett. Er einundzwanzig, sie neunzehn Jahre, beide hoffnungsfroh und lebensfrisch, aus einfachsten Ständen. Hatten sich als Text ausgesucht: seid fröhlich in Hoffnung … sangen so munter und echt mit. Dann kam eine Frau zu mir mit einer großen Schuld. Heute zum erstenmal hat sie es über die Lippen gebracht. Darin sehe ich nun einen großen Schritt vorwärts. Ich konnte ihr nur sagen, daß der Christus auch dagegen anginge, daß sie wenigstens sagen solle: hebe dich weg von mir – – – aber es so sagen, daß sie es zu einer fremden Macht sagt, die ihr gegenüber steht. So sehr ich die Finsternis spürte, so ruhig war ich doch dem gegenüber heute in der Gewißheit des Sieges Jesu: es kam wohl daher, daß ich gestern im Vortrag von diesem Sieg so viel gesprochen hatte, vielleicht auch, weil sie den Vortrag gestern gehört hatte und – an den Sieg geglaubt hatte. Sie selbst war auch ganz ruhig, entgegen ihrem sonstigen Wesen. Aber wir werden noch unheimlich wachsam sein müssen und werden sehr treu sein müssen – bis der Sieg Jesu Wirklichkeit und Heilung wird. Aber siegen wird Er. O, wenn man Vollmacht hätte!
Zum Schluß kam noch Professor R., der lange mit mir über kirchliche Dinge, Stellenbesetzung usw. sprach. Diese peripherischen Dinge nach solchem Tage auch ernst zu nehmen, ist nicht leicht. Meist gelingt es mir nicht, Ich bin dann zerstreut. Heute gelang’s einmal.
Das war eine Woche! Fünf Beerdigungen! Ich glaube sicher, daß einem normalen Menschen die Beerdigung, die er mitgemacht hat, zwei bis drei Wochen nachgeht, – und dem Pfarrer wird jeden Tag eine andere zugemutet. Die Gefahr, zur Maschine, zur Beerdigungsmaschine zu werden, liegt doch einfach auf der Hand. Aber sieht der Laie diese Gefahr?
Mich wundert nur, daß ich heute abend noch verhältnismäßig mobil bin. Rattern tut ja der Kopf. Wie soll man auch innerlich mit all’ dem fertig werden. Eins jagt das andere. Gut, daß ich an Dich schreibe; da wird mir wenigstens alles klar, auch das Jagen. Morgen ist Sonntag, und ich bin predigtfrei. –
Sonntag.
Heute früh hörte ich eine Predigt von Z. Sie hat mir bei aller Einfachheit starken Eindruck gemacht. Nach den Taufen, wo ich wegen mordsmäßigen Geschreies wieder nicht vernünftig sprechen konnte, machte ich eine Reihe von Krankenbesuchen. Ich schrieb Dir neulich von einer Frau, der ich auf der Durchreise geholfen. Heute schrieb sie einen Brief: „Nicht nur äußerliche Not zwang mich, Sie aufzusuchen, auch innerliche.“ So wird es oft sein, nur sieht man es nicht immer so deutlich, wie hier. Eine Fürsorgerin schrieb mir auch einen Brief: es sei ihr Hilfe, daß ich sie nur sachlich nähme. Aber trotzdem hätte sie diesmal das Gefühl des Geborgenseins gehabt. Und vor allem hätte ich ihr in Predigten „erst das Wesen der Bibel erschlossen, während sie sich sonst an jedem Satz gestoßen“.
Die Leute denken immer, eine Pfarrgehilfin sei zur Entlastung für den Pfarrer, gleichsam seiner Faulheit wegen da. Und in Wirklichkeit ist es doch gerade umgekehrt: Pfarrer und Pfarrgehilfin kommen in sehr viel mehr Familien, als der Pfarrer allein. Dementsprechend vermehrt sich auch die Arbeit für den Pfarrer. Natürlich nimmt sie dem Pfarrer viel ab, was auch wirklich nicht seine erste Aufgabe ist, aber daneben ist die Durcharbeitung der Gemeinde und der Austausch zwischen Gemeinde und Pfarrer durch die Pfarrgehilfin stärker und damit naturgemäß auch die seelsorgerische Arbeit des Pfarrers größer. Es ist doch entsprechend Apostelgesch. 6: der Pfarrer soll anhalten am Wort. Und die Pfarrgehilfin soll ihm die Brotverteilung abnehmen. Was nicht ausschließt, daß auch die Pfarrgehilfin Wort in die Gemeinde trägt und der Pfarrer Brot reicht. Es kommt auf die Hauptaufgabe des Amtes an. Ein Student sagte mir heute, daß ein Sextaner (!), also ein Junge von neun Jahren, ihm gesagt habe: „Ich will auch mal Pfarrer werden, aber nicht solch gottloser wie Pastor R.“ Wer Gift sät, möge immer bedenken, daß Kinder damit am ehesten vergiftet werden. Diese entsetzliche kirchenpolitische Vergiftung des Gemeindelebens! Dr. O. sagte mir, ich würde in der neuen Gemeinde die Befreiung von der kirchenpolitischen Luft als innere Befreiung empfinden. Es ist nicht die Kirchenpolitik an sich, sondern das Mißtrauen, was an der Kirchenpolitik hängt, wie der Schwanz am Hund. In einer kirchenpolitisch verseuchten Gemeinde ist der Pfarrer von Mißtrauen umlagert. Die Hörer nehmen sich selbst die Möglichkeit, auf das Wort zu hören, da sie nur immer darauf aufpassen, ob der Pfarrer etwas Orthodoxes oder etwas Liberales von sich gibt. Sie hören nicht und gehorchen nicht, sondern lauern nur, ob der Prediger auch die „richtige“ Stellung hat. Das alles ist der Botschaft des Christus tödlich.
Eine Beerdigung wurde von einem Obersteuersekretär angemeldet. Ich fragte, ob er mich schon einmal habe predigen hören: „Ja, bei der Einweihung des Gefallenen-Denkmals“ (wo ich N.B. nicht die Predigt, sondern nur die Erinnerungsrede gehalten habe). Typisch! Wo es sich um die Menschen handelt, da kommt man. Wo Menschen verherrlicht werden, da ist man dabei. Denn schließlich wird man ja dabei selbst so ein bißchen verherrlicht. Eine schöne Stilblüte Pastor Wt.’s in einer Predigt: „daß wir heute morgen unser Frühstück gegessen haben, haben wir dem Blut Jesu Christi zu verdanken“!! Ist das nur platt – oder frevelhaft? Oder was ist das?
Das ist ein schöner Abendmahlstext: „Ich bin nicht wert, daß du unter mein Dach trittst“. Bei jedem Abendmahl denke ich, ob man nicht die Ansprache nach der Beichte halten sollte. Bei dem jetzigen Zustand verkündet man schon vor der Absolution, nämlich in der Ansprache die Vergebung, und gleich darauf geht es in der Beichte noch einmal in die Tiefe.
Es ist sonntagsmäßig ruhig draußen. So denke ich es mir immer in Deinem friedlichen Dorf.
Montag.
Heute besuchte mich ein Amtsbruder, der in einem Dorf mit lauten Industriebevölkerung sitzt, um mir sein Herz auszuschütten. Seine Hauptklage war, wie allein, wie isoliert er stände, wie er in der ganzen Synode keinen jüngeren Kollegen habe, wie keiner in ähnlicher Richtung dächte. Als er fort war, überlegte ich mir, ob ich diese jüngeren Amtsbrüder irgendwie zusammenholen könnte. Ich glaube aber, ich kann nur da sein, wenn sie zu mir kommen. Er war in so kurzer Zeit der zweite, der mir dieselben Klagen vorbrachte: unerhört viel Verwaltungs-, Vermögens-, Pacht-, Prozeß-Sachen, ständig Schreibereien, Fragebogen ausfüllen, so daß er kaum zum Lesen käme. Und dies bei zwei Dörfern mit noch nicht 2500 Seelen. Er wäre Verwaltungsbeamter und Prediger, aber Besuche könne er fast nie machen, die Abende seien besetzt durch Vereine und Sitzungen. Also war mein Gedanke, daß man auf dem Lande wenigstens viel Besuche machen könne, ein Traum. Aber es ist doch sehr schlimm, daß das auf dem Lande auch nicht möglich ist. Immer wieder sagte er: „Keine Zeit für ein Buch.“ – Mit den Arbeitern ginge er viel lieber um, als mit den Bauern. Die Bauern seien unzuverlässig, heimtückisch, sehen mit unglaublichem Dünkel auf die Arbeiter herab. Er sprach sehr ernst von der inneren Last des Amtes.
Daß er keine Zeit zum Besuchemachen hat, erscheint mir als das Schlimmste bei ihm. Wie bei mir auch. Was war die vorige Woche besät von Menschen. Aber in die Häuser bin ich doch nur sehr wenig gekommen, obwohl es eine predigtfreie Woche war. Gestern sagte mir Professor B.: die Geistlichen hätten so wenig Kultur, daher verständen sie den heutigen Menschen nicht. Ich meine immer, an dem Nichtverstehen der heutigen Menschen und der heutigen Zeit liegt es nicht. Liegt es nicht vielmehr daran, daß das fordernde Wort Gottes, welches die Kirche zu sprechen hat, nicht lebendig ist? Wir haben vielleicht ein sehr treffliches historisches Wort, ein sehr denkrichtiges Wort, aber nicht das Wort, das Felsen zerschmettert, nicht das lebendige Wort. Das lebendige Wort würde natürlich auch von den heutigen Menschen gehört: die Menschen würden sich verstanden oder angegriffen fühlen. Aber wie es nun auch sei, all diese Klagen sind Anklagen gegen uns Pfarrer, gegen uns Kirche, sind doch (meinst Du nicht auch?) Gericht Gottes.
Sprechstunde hat bis ½ 1 Uhr gedauert. Ich hörte folgendes (schon zum zweitenmal in kurzer Zeit): „Mein Junge hält Religion für etwas Weichliches, Religion ist nur für die Mädchen, sagt er immer.“ Auch das ist Anklage gegen uns Pfarrer und uns Kirche. Man ist mit gutgehenden Frauenhilfen schon höchst zufrieden. Und richtig. Ich hatte es schon erwartet. Ich hatte in einer Predigt gesagt: „Für das Vaterland opfert man sein Leben, aber für Gott nicht einmal sein Geld, seinen Beruf, seine Ehre.“ Sofort haben sich nationalistische Kreise aufgeregt, wörtlich: „Ich dürfte nicht Gott und Vaterland gegenüber stellen.“ Ich stelle ja nur Gott über das Vaterland. Von einer Adventistin hörte ich heute, daß die Glieder ihrer Gemeinde zehn Prozent ihres Einkommens für Arme gaben.
So gesetzlich, so alttestamentlich es ist – ich weiß aus eigenster Erfahrung, wie gut das für den Menschen ist, wenn er sofort an seinem Gehaltstag einen Prozentsatz zurücklegt, gut nämlich deshalb, weil man es sonst doch nicht tut. Ich lege es sozusagen als Dank zurück, Dank dafür, daß ich nun wieder sorgenfrei in die kommenden dreißig Tage hineinsehen darf. Wenn es auch nie so ganz bis zum dreißigsten Tag reicht, ich kann doch meine Familie ernähren. Das Dankgefühl ist so natürlich: warum geben die Menschen so wenig? Ich fürchte, sie geben zuviel für ihre politischen Sachen, für ihre Korps, für ihre Militärvereinigungen usw.
Für unsere kirchliche Lage charakteristisch scheinen mir die Fragen zu sein, die unserem ersten Probeprediger gestern vorgelegt wurden.
1. Wie ist Ihr Verhältnis zu den Religiös-Sozialen, die in Baden jetzt mit der Sozialdemokratie so zusammengehen?
2. Wie ist Ihr Verhältnis zur kritischen Theologie?
3. Wie stehen Sie zu Karl Barth?
4. Wie stehen Sie zu Ihrem Patron? – – –
Ich schreibe heute lang, weil ich nicht recht arbeiten kann, wurde heute nachmittag vom Arzt geplagt.
Einen feinen Brief hatte ich heute von einem Regimentskameraden, der auf einem Patrouillenritt in Rußland Kopfschuß erhielt, seitdem epileptische Anfälle hat und natürlich 100 Prozent erwerbsunfähig ist. Er schreibt: „Ich habe bald anderthalb Jahre keinen wirklichen Anfall gehabt, aber ich habe es lernen müssen, wie wenig ich mich auch dabei in Sicherheit wiegen darf. Im Grunde sind freilich auch sogenannte Gesunde in gleicher ständiger Unsicherheit, nur denken sie meist nicht daran, weil ihnen diese Tatsache nicht so eindrücklich gezeigt ist.“ Ja ja – in jeder Sekunde todesfähig – und todesbereit sein.
Ich fragte heut im Unterricht: „Sagt mir mal die zweite Bitte.“ Keine Antwort. „Wieviel Bitten gibt es denn im Katechismus?“ Keine Antwort. „In welchem Hauptstück stehen die Bitten?“ Eine Hand: „In den Geboten“. Es ist schlimm mit dem Wissen, das die Konfirmandinnen aus der Schule mitbringen. Will sehen, wie es morgen bei den Jungens ist.
Dienstag.
Die Jungens hatten einen Schimmer von den Bitten. Auf die Frage: „Wie heißt die zweite Bitte“, kam die Antwort: „der du bist im Himmel“. „Wieviel Bitten gibt es?“ „Ein halbes Dutzend“. Gegen die Mädchen immerhin ein glänzendes Ergebnis. Aber sonst merkt man doch immer: die Mädels sind im Konfirmandenalter den Jungens um zwei Jahre voraus.
In die Sprechstunde kam eine Mutter: der Junge würde durch die Konfirmandenstunde so aufgewühlt. Er könne nicht glauben, daß Gott sei. Solches Fragen freut mich ernst. – Eine andere Mutter klagte das Leid ihrer drei stellungslosen Kinder. – Der CVJM-Sekretär bat mich um einen Vortrag über Nietzsche. Ich habe zugesagt, um daran zu lernen. – Fünf Hilfesuchende in der Sprechstunde. – Ich diktierte hinterher, dann zur Beerdigung vorbereitet – und das Mittagessen war da, d. h. wieder keine Besuche gemacht.
Bei der Beerdigung waren vielleicht 60 Straßenbahner und sonstige Männer da. So sprach ich eigentlich nicht zur Witwe, sondern zu diesen Männern, das fiel mir aber erst hinterher auf. Bei dem Gang von der Kapelle zum Grab hinter dem Sarge her, wurde es mir eine neue Erkenntnis (ich kann es nicht anders ausdrücken), es durchfuhr mich ganz: Gott ist Leben, Leben, Leben, Gott will Leben, Leben. Und es entstand sofort darauf der Protest gegen die Agende, die vorschreibt: „Nachdem es Gott dem Allmächtigen gefallen hat, XY aus diesem Leben abzurufen …“ Das konnte ich heute nicht sagen. Ich werde es auch nicht wieder sagen. Gott ruft zum Leben, niemals aus dem Leben. Aus diesem Leben abrufen – das tut der Feind! So sagte ich denn auch: „Nachdem der Tod XY aus diesem Leben abgerufen hat“.
Und nun will ich – ½ 10 Uhr! – ins Bett. Das ist seit Urlaub noch nicht dagewesen, aber es geht nicht anders.
Mittwoch.
Es geht mir heute noch gar nicht gut. Große Kopfschmerzen. Aber ich hielt den Tag doch durch. Ich weiß heute abend gar nicht mehr, wer alles in der Sprechstunde da war. Ein schwacher Mensch, dem ich zu einer Stellung verhelfen soll und vielleicht schon verholfen habe, eine stellungsuchende Studentin, ein an seinem Beruf verzweifelnder junger Mann. Es ist mir schon oft aufgefallen, daß an demselben Tag ähnliche Fälle kommen. Um den ersten von diesen drei muß ich mich aber auf jeden Fall noch sehr kümmern. Nach Tisch hatte ich eine Taufe in ganz armer Familie, dann meinen beiden Konfirmandinnen Nachhilfeunterricht erteilt, dann von 5 bis 7 Uhr Sitzung. Von 7 bis ¾ 8 Uhr war noch H.D. da. Um 8 Uhr Gemeindeversammlung. Ich meine: genug für einen Tag an Betrieb. Die Gemeindeversammlung soll die große Versammlung der Gemeinde sein, die Generalversammlung der ganzen Gemeinde. Von den 20 000 Menschen unserer Gemeinde waren noch nicht 100 da. Darunter zirka 15 Männer. – Erst gab der Vorsitzende Bericht über das abgelaufene Jahr: zum Abendmahl sind 2200 gegangen, 1500 Frauen, 700 Männer, Verhältnis also 2:1. Dies ist immer so bei uns. Ausgetreten sind 60, das ist relativ sehr wenig, nicht? Wiedereingetreten sind 11. Der Diakon berichtete, daß er bei den Ausgetretenen meistens die Antwort erhalte: „Was habe ich denn noch von der Kirche?“ „Ich habe nicht gefunden, was ich gesucht habe.“ Sie klagten: „Wir sind ja ganz verlassen.“ Kann es anders sein, solange ein Pfarrer auf 7000 Seelen kommt? Solange wir nicht eine lebendige Kirche sind?
Sehr interessant war der Vorschlag eines Stahlhelm-Kaufmanns, daß nur solche Jungen in Lehrstellen aufgenommen werden sollten, die einen Konfirmationsschein hätten. Wird das Recht, dann werden die Eltern ihre Kinder in den Konfirmandenunterricht schicken, damit sie nachher ein besseres Fortkommen haben, d. h. man ist wieder einmal fromm um des Geldes willen. Ich mußte das in der Versammlung auch aussprechen. Leider verteidigte ein Kollege diesen Vorschlag: „Kämen die Kinder deshalb in den Konfirmandenunterricht, dann hätten sie Gelegenheit, Gottes Wort zu hören, und das müsse man begrüßen.“ Ach, du liebe Zeit. Die Kinder, die ihres Fortkommens wegen, ihrer Lebensstellung wegen in den Konfirmandenunterricht kommen, hören todsicher nicht. Aber ebenso sicher packt sie die Wut gegen die Religion und gegen die Unwahrhaftigkeit, die sich mit diesem Religionsbetrieb verbindet. Aber nicht nur sie – mich auch.
Derselbe Stahlhelm-Mann erklärte noch, man müsse gegen die Sozialisten und Kommunisten „Gegendruck“ ausüben, man müsse „widerhacken“ und „widertreten“. Dies in einer evangelischen Versammlung, dies unter der Fahne des Evangeliums. Widerhacken und Widertreten – so wird deine Botschaft vernichtet, Jesus Christus, so wirst du gekreuzigt mitten in der Kirche, mitten in einer Versammlung, die mit betendem Gesang begonnen und mit Gebet geschlossen wurde. So war der Teufel mitten unter der Christenheit, und die Christenheit hat es nicht begriffen. Ich bat den greisen …-Rat …, ein Wort dagegen zu sagen. Er tat es in seiner allzumilden, allzugütigen Weise. Ich selbst mußte noch einmal reden. Es handelte sich um den Punkt, ob man die Namen der Ausgetretenen bekanntgeben solle, und ein Kaufmann hatte davor gewarnt. Darauf sagte ein Kollege: „Wenn zu einem Handwerker, der aus der Kirche ausgetreten ist, die christlichen Leute nicht gehen, dann werden dafür die Sozialisten und Kommunisten hingehen.“
Man sagt und hört das als etwas ganz Selbstverständliches. Man spürt gar nicht, welch Armutszeugnis dem Evangelium ausgestellt wird, wenn man gleichsetzt: christlich gleich bürgerlich, unchristlich gleich sozialistisch. Dabei ist Herr Müller, mein allertreuester und allerverständnisvollster Hörer, Sozialist.
Donnerstag.
Heute schrieb mein alter Regimentskamerad, von dem ich Dir neulich sagte: „Er sei misogyn, sei von Haus aus so erzogen, könne keine Stellung zur Frau finden und fühle doch, daß da etwas nicht richtig dran sei.“ – Die verfehlte Erziehung in sexuellen Dingen, in allen Ehedingen und in der Stellung der Geschlechter, gerade in streng christlichen Häusern, wird viel Schuld an dem sexuellen Unglück unserer Zeit haben.
Kaum hatte ich den Brief gelesen, kam eine Fürsorgerin auch aus ganz christlichem Hause ursprünglich. Sie ist früher Leiterin eines Heims für geschlechtskranke Mädchen gewesen, und dort ist ihre eigene ganze Triebhaftigkeit herausgekommen. Über die Not der Unverheirateten haben wir ja schon oft miteinander gesprochen. Im allgemeinen endet diese Not in der Verkrampfung. Aber diese Verkrampfung ist nicht innere Freiheit. Die grundsätzliche Frage ist die, ob man ausschließlich Unverheiratete als Fürsorgerinnen und als Leiterinnen von Mädchenheimen anstellen soll, ob man nicht vielmehr daran denken müßte, in diese Berufe verheiratete Frauen hineinzubringen. Besonders weil dort, wo blanke Triebhaftigkeit auf Verkrampftheit von Schwestern und dergl. stößt, die Triebhaftigkeit nur gesteigert wird. Dies habe ich in der Praxis erlebt und kann es psychiatrisch nur zu gut erklären. Wenn ich neulich sagte, daß es das Ziel der Ehe sein müßte: in der Ehe frei sein von der Ehe, so muß es hier natürlich ebenso gelten: im Unverheiratetsein frei sein vom Unverheiratetsein. Aber wieviel schwerer ist es, wieviel mehr Kampf erfordert es, um zu dieser inneren Freiheit zu gelangen. Sie kann ja nur dort sein, wo Christus selber durchbricht. –
Zum Thema Erziehung in sexueller Hinsicht in christlichen Kreisen fällt mir noch ein, was mir neulich ein sehr alter Diakon gesagt hat: es sei ausgeschlossen, daß Jesus leibliche Brüder gehabt habe, das traue er der Maria nicht zu. Da er streng bibelgläubig ist, muß er sich mit den Brüdern Jesu abfinden und tut es so, daß er erklärt, Brüder seien im Orient auch die ferneren Verwandten, die Vettern usw.
Sonnabend abend habe ich Predigt im Jugendgottesdienst und Sonntag Festpredigt in … Ich kam heute abend zu keinem Gedanken und zu keinem Text. Es war, als ob alles stockte. Es war wie tot. Nein, tot nicht, dazu war ich zu unruhig. Aber es war trotz der Unruhe kein Fließen in mir. Da – griff ich zu Blumhardt. Ich kann keinen Gedanken aus Blumhardts Predigt verwenden, aber es strömte in mir. Blumhardt ist doch immer wieder der, der mein Blut pulsieren läßt. So fand ich Text und schrieb auf, was mir kam. Schluß!
Freitag.
Die Handschrift gestern abend, lieber Freund, ist ja kaum noch Schrift zu nennen. – Die Predigt ist ins „Unreine“ heute geschrieben.
Einen feinen Brief bekam ich von dem sozialistischen Ministerialdirektor … Ich hatte ihm mein Buch geschickt. Ich sagte Dir wohl schon mal, daß er die ganze theologische Literatur beherrscht und darin so zuhause ist, wie manche theologischen Universitätsprofessoren erfahrungsgemäß nicht. Und obwohl es solche Leute gibt, setzen Christen, wie neulich in der Gemeindeversammlung, immer noch christlich gleich bürgerlich, unchristlich gleich sozialistisch. Vermutlich werden diese Christen sich sehr umgucken, wenn sie mal von Angesicht zu Angesicht sehen werden. Aber wir auch – ja, ja! Nur behaupten wir nicht, jetzt schon über den dunklen Spiegel und das dunkle Wort hinaus zu sein, wir lassen Gott sagen, was Er christlich nennt und was nicht. Oder wenigstens: wir möchten es so bei uns halten, nicht?
Ich bin zu dumm: ich lade meine Konfirmanden nur stockend und stotternd zu meinen Gottesdiensten ein. Ich kriege es nicht fertig, da so zu werben. Zu dumm und ganz falsch; denn die Kerlchen sollen zu mir in die Predigt kommen. Heute, als ich zu der Predigt von L. einlud, konnte ich es so energisch.
Konfirmanden sind doch eine gute Korrektur für den Prediger. Zweimal kam mir in dieser Woche an komplizierter Stelle die Antwort: „Das Wort“. Es war nicht falsch, aber wohl nicht aus vollem Verständnis heraus. Dabei habe ich in dieser Abteilung noch nie von dem Wort gesprochen. Offenbar habe ich es in der es in der Predigt öfters gesagt, obwohl ich mich auf ein Zuviel gar nicht besinnen kann. Ich muß da aufpassen. Für heute abend hatte ich mich bei dem Stahlhelm-Kämpen vom Widerhacken und Widertreten geredet hatte, angemeldet. Wenn ich so über ihn denke, muß ich es ihm doch auch sagen. Ich sagte meine Meinung sehr deutlich und ließ sogar das Wort teuflisch fallen. Bei der Unterredung merkte ich, daß er von Stahlhelmideen fanatisiert ist, an sich eine brave, ehrliche, bullrige, begeisterte Soldatenhaut, ein Mann, der tapfer für seine Ideen eintritt. Ich war mit ihm in sehr vielem einig: er schimpfte über die Mode, über die kurzen Röcke, über die mangelhafte Unterkleidung. So waren wir und schieden wir beide mit einem „nichts für ungut“. Aber ich ging nach Hause und dachte: die Stahlhelmidee ist eben eine total andere, als die Botschaft Jesu. Menschlich betrachtet, von Deutschland aus betrachtet, ist sie an sich brav, gut, tüchtig, opferwillig, alles auf Deutschland zugespitzt und dort mündend, aber – Jesus Christus bringt anderes. Und es fiel mir fast wie ein Stein auf die Seele, was die Stahlhelm-Pastoren für eine riesenhafte Verantwortung haben. Der Mann sprach so begeistert von zwei Stahlhelmpfarrern, sie seien „herrlich“. Was haben diese Pfarrer, die dort das Vertrauen haben, doch für einen Auftrag: Die Stahlhelmidee mit christlichem Geiste zu durchdringen, sie zu durchkreuzen und umzugestalten! Das Kreuz über dem Stahlhelm aufzurichten. Möge dem deutschen Stahlhelm nur ein einziger Mann geschenkt werden, die Botschaft von Christus in seine Reihen trägt. Oder würde sofort rausgeworfen? – Jedenfalls: mir ist zum erstenmal, muß ich gestehen, die ganze Schwere unserer Aufgabe gegenüber dem Stahlhelm auf die Seele gefallen. – Der Stahlhelmmann erzählte mir übrigens, daß er selten, fast nie zur Kirche käme, er habe keine Zeit dazu. Nur ist mir schleierhaft, warum dieser Mann der bekenntnistreuen Vereinigung angehört und auf deren Liste in die Gemeindevertretung gewählt ist.
Sonnabend.
Ich kann Dir heute nicht schreiben. Ganzen Tag Predigt gemacht, gelernt und eben gehalten. Jugendgottesdienst. Ich habe gern gepredigt. – Daß die Menschen gar keine Rücksicht auf den Sonnabend nehmen. Soviel Menschen heute da und so oft das Telephon. Nun will ich noch weiter lernen für die Festpredigt morgen.
Sonntag.
Heute war hier die zweite Probepredigt. Der Pastor sprach sehr ernst. Jedenfalls kann kein Mensch, der theologisch denken und zuhören kann, behaupten, daß das ein typischer Liberaler wäre. Er hat zentral auf das Kreuz hingewiesen. Das „für uns“ des Kreuzes kam deutlich heraus. Ich schreibe Dir diese Tatsache deshalb so ausführlich, damit Du den ganzen Schrecken und Widerwillen mitempfindest, den ich in der darauffolgenden Sitzung der Gemeindevertreter empfand.
Nach einigem Vorfeldgeplänkel kam die 42 Zentimeter-Granate, kam genau so, wie ich es Dir hier hinschreibe: „Wie stehen Sie zu den Wundern Jesu, zur Jungfrauengeburt und zur Blut- und Wundentheologie?“ In einem Satz. Ich muß dazu folgendes sagen: Nachdem ein Mann so über das Zentrum gesprochen hatte, nachdem er so gepredigt hatte, geht man in so plumper Weise an die Peripherie. Es kommt mir so vor, als wenn ich einen Menschen frage: Bejahen Sie die Monarchie? Und wenn er es tut, ihn weiter frage: Bejahen Sie auch die königlichen Lakaien? Oder wenn ich ihn fragen würde: Bejahen Sie die Republik? Und er bejaht sie und ich ihn dann frage: Bejahen Sie auch die neuen Briefmarken? Theologisch schaurig ist ja das dingliche Denken dabei, die Raumgebundenheit; man kann sich ein Werk Gottes gar nicht vorstellen, wenn nicht eben ein räumliches Wunder, die Jungfrauengeburt, vorliegt.
Ich gestehe, daß ich mich mit der Frage der Jungfrauengeburt verhältnismäßig wenig befaßt habe. Aber auf der Reise zu der Festpredigt ging sie mir doch durch den Sinn, und ich denke nun folgendermaßen darüber: Der Sinn der Jungfrauen-Idee ist, daß bei der Geburt eine Tat Gottes vorliegt. Eine Gottestat kann auf natürliche oder auf übernatürliche Weise geschehen. Und es ist mir noch die Frage, auf welche Weise uns die Gottestat größer erscheint. Ist man in materialistischem und raumgebundenem Denken befangen, dann kann man sich eine Gottestat nur auf übernatürliche Weise – eben in Gestalt der Jungfrauengeburt – vorstellen. Ich persönlich kann von mir aus beide Seiten bejahen. Ich kann die Jungfrauengeburt innerlich durchaus verantworten. Aber diese Frage zu einer zentralen Frage zu machen und sie gleichsam zur Bedingung einer Pfarrwahl zu machen, muß ich ablehnen, eben – weil ich die Frage bejahe. Das Drolligste dabei war die Berufung auf die lutherische Bibelauffassung. Mir kommt es vor, als wendeten Pfarrer manchmal Luther an, wo es ihnen paßt – grob gesagt: um die Laien dumm zu machen. Denn ein Theologe weiß doch ganz genau, wie kühn die lutherische Stellung zur Bibel war; wie er den Jakobusbrief aus dem Neuen Testament entfernen und die Offenbarung in die Elbe werfen wollte; wie es bei Luther alles darauf ankam: der Herr Christus selber. Ich las dieser Tage aus einem Aufsatz Brunners ein Wort Luthers zu einer Bibelstelle: „Ergo cum de imagine illa loquimur – ad quam Adam fuit conditus loquimur de re incognita quam non solum non sumus experti, sed perpetuo contraria experimur et nihil praeter nuda vocabula audimus.“ (Luther im Genesis-Kommentar zu Gen. 1, 27) („Also wenn wir von jenem Ebenbilde sprechen – zu dem Adam geschaffen war – sprechen wir von einer unbekannten Sache, von der wir nicht nur keine Erfahrung haben, sondern beständig das Gegenteil erfahren und hören wir nichts als nackte Worte.“) Gründe ich meinen Glauben auf die Jungfrauengeburt, dann ist das eine höchst gefährliche Sache. Niemals darf der Glaube sich auf ein einzelnes historisches Faktum gründen. Es könnte nämlich eine Ausgrabung stattfinden, dabei könnte es sich herausstellen, daß das betreffende Kapitel der Bibel gefälscht ist – und mit einem Schlage fliegt mein ganzer Glaube in den Graben. So kann m.E. Die Jungfrauengeburt kein zentrales Anliegen sein. Und in dieser Situation als Probe für eine Pfarrwahl einen Pfarrer danach fragen, erscheint mir geradezu grotesk.
Ein eifriger Gemeindevertreter sagte mir nach der stürmischen Sitzung: „Deshalb müßte die Jungfrauengeburt historische Tatsache sein, weil nur dadurch die Erbsünde unterbrochen wäre. Wäre Jesus auf natürliche Weise geboren, dann hätte er ja Teil an der Erbsünde.“ Ich mußte ihm antworten: Von dem Menschen Maria ist Jesus auf alle Fälle geboren, hat also damit Teil an der Zuständlichkeit der Maria. Maria ist doch wirklich genau so sündig wie Joseph. Ich finde, das Große liegt gerade darin: innerhalb der Menschlichkeit, trotz der Menschlichkeit geht Jesus sündlos über diese Erde.
Nimmt man im Glaubensbekenntnis das Wort Jungfrau materialistisch, dann muß man auch das Wort „niedergefahren“ genau so materialistisch nehmen und das Erdloch aufzeigen können, wo er niedergefahren ist. Das Schreckliche bei der ganzen Sache ist eben, daß man überhaupt nicht nach dem Sinn und dem Geist fragt, sondern sich auf die Form versteift, auf den Glaubenssatz. Ein Glück, daß das nicht die Kirche ist. Du kannst Dir aber denken, wie gerade nach dieser Sitzung in mir wieder die Sehnsucht nach der neuen Kirche gewachsen ist.
Im übrigen halte ich es gar nicht für ausgeschlossen, daß alle solche Fragen „Jungfrauengeburt“ usw. vom Teufel erfunden sind, damit nämlich wir nur ja nicht zu dem Christus selber durchstoßen, damit wir nur ja an den Unerheblichsten hängen bleiben, an den Sätzen. Immer wieder geht mir das Jesuswort seit heute mittag durch den Kopf: ihr verblendeten Leiter, die ihr Mücken seihet und Kamele verschluckt.
Das Ernsthafteste dabei ist natürlich dieses: wie überwindet man solche Sache innerlich? Wie gelingt es einem, die Menschen aus dieser Befangenheit im Dogma herauszuführen? Es war ein richtiger Tag des Dogmas, auch äußerlich in der Natur war es so trübe, neblig, sonnenlos. Und Du wirst dich nicht wundern, daß ich aus der Sitzung zurückkam und zu meiner Frau sagte: Heute freue ich mich zum erstenmal, daß ich aus der Gemeinde weggehe.“ Ich selbst habe viel zu scharf gegen den Fragenden gesprochen. Ich war erregt, und dann findet man immer Worte, die man nicht sagen sollte. Aber muß man sich nicht auch tatsächlich etwas aufregen? Ach, wenn diese Kirchenmenschen es doch spüren walten, daß Christus nicht ein Gewesener ist, sondern ein Gegenwärtiger ein Kommender. Wenn sie es doch alle spüren wollten, daß Jesus Christus vorwärts schreitet, immer weiter vor, immer mehr voran. Manchmal spürt man doch ordentlich seinen Schritt. Und er wartet doch nur auf uns, wartet darauf, daß wir mit ihm selber mitgehen. Was soll überhaupt die Frage: wo stehen Sie? Als ob die persönliche Stellung des kleinen Pfarrermenschleins so ausschlaggebend sei. Wenn überhaupt, so sollte gefragt werden: wie ist Ihre Verkündigung in bezug auf die Auferstehung, das Reich Gottes usf. Typisch ist, daß von diesen kirchenpolitischen Fragern keine Frage nach dem Reiche Gottes gestellt wurde. Und Jesus sagt: Ich bin gesandt, um die Botschaft vom Reich zu bringen. Ich sehe in der Bibel nirgends, daß er gesagt hat: Ich bin gesandt, um die Botschaft von der Jungfrauengeburt zu bringen. Stellt man dies so kraß nebeneinander, dann merkt man erst, wie wir abgeirrt sind heute und in den vergangenen Jahrzehnten, abgeirrt von Ihm selbst. Dein betrübter Freund. Nein, betrübt nehme ich wieder zurück und schreibe. Dein sich sehnender, nach neuer Kirche, nach wirklicher Kirche sich sehnende Freund.
Dienstag.
Sonntag im Zuge sammelte ich mich endlich für meine Festpredigt in … Um nicht wieder mit meinen Gedanken in die traurige Sitzung zu fallen, zog ich mich nicht zurück, sondern blieb unterhaltenderweise bei meinen Quartiergebern, einem Pfarrerpaar. Die Predigt rumorte währenddessen im Unterbewußtsein. Ich predigte dann in der schlichten Barockkirche, sprach heißer und drängender als in meiner eigenen Gemeinde. Auf der Rückfahrt sagte ich mir, ich lehne gewiß die liberale Theologie ab, aber heute nach der Sitzung die orthodoxe ebenso.
Gestern schrieb ich nicht. Zuviel Briefe waren zu beantworten. In der Sprechstunde war da Fräulein …, eine alte 60jährige Dame. Ein Bruder ist Rechtsanwalt, ein anderer in der Industrie. Der Rechtsanwalt sendet die versprochenen 50 Mark so unregelmäßig, daß das arme Wurm nicht pünktlich die Miete zahlen kann. Darunter leidet sie mehr als nötig. Natürlich durch falsche Erziehung, durch schwachen Körper und schwache Nerven lebensuntüchtig, arbeitsunfähig, übersensibel, Ruine aus vergangener Zeit. Eine Schwester, deren Mann Stabsoffiziers-Pension bezieht, gibt ihr keinen Pfennig, nur alte Kleider. Ein Neffe, der 50 000 Mark geerbt hat, dazu sein volles Gehalt hat und nicht verheiratet ist, schickte ihr einmal 20 Mark. Ich mußte ihr etwas geben und konnte doch nur 5 Mark geben, ihre dankbare Freude hättest Du sehen sollen. – Eine andere Rentnerin erzählte, wie ihre Not von den studentischen Mietern ausgenützt würde, wie arrogant sie wären, wie sie Dinge verlangten, die eigentlich diesen jungen Leuten von einer alten Dame nicht getan werden dürften. Aber sie müßte es doch tun, sonst säße sie mieterlos da.
Ein Kirchengeschichtsprofessor erzählte, daß die vielen Hausbesuche von den Pfarrern immer dann gemacht würden, wenn die Kirche lahm und erfolglos sei. In Zeiten, wo die Kirche rege sei, kämen die Leute zum Pfarrer. Ich kann nicht verfolgen, ob das stimmt. Sicher ist nur, daß ich zu wenig Besuche machen kann. In seiner Häuslichkeit lerne ich den Menschen viel besser kennen, als in meiner Stube. Und außerdem sind wir heute im allgemeinen in der Notlage, daß sie nicht zum Pfarrer kommen. Darum müssen wir in die Häuser gehen. Gestern nachmittag war ich bei einem alten Ehepaar, das einen Familienfesttag feierte. Alles piksauber. Sie leben von kümmerlicher Rente. Ich fragte, ob sie denn etwas Schönes zum Mittag gegessen hätten. Die Frau erwiderte: „Weißkohl mit brauner Butter“. Da schämte ich mich wieder. Wie feiern wir solchen Tag. Und ich ging gedrückt fort. Die 10 Mark, die ich dagelassen habe, drückten mich nun natürlich auch.
Zum Abendbrot hatte ich Herrn Müller eingeladen, der sagte: er träte erst dann wieder in die Kirche ein, wenn es ihm sicher sei, daß sie nicht ein Hindernis für Christus sei. Er erinnerte an Luk. 11,52. Durch die Taufe z.B. würde die ungeheure Illusion erweckt, daß alle Menschen Christen seien. Er unterschied so fein: Predigt und Zeugnis. Die meisten Pfarrer predigten, „der, der Zeugnis gibt, ist als Zeuge aufgerufen“. Er ging dabei von den Zeugen vor Gericht aus.
Von heute ab habe ich auch zweimal in der Woche nachmittags Konfirmandenunterricht, also sechs Stunden in der Woche. Mit der Disziplin habe ich nie die geringste Schwierigkeit. Eine unserer Vertretungskräfte jetzt hat einen Jungen ganz raussetzen, andere verhauen müssen. Gerade dieses letztere sehe ich als höchst bedenklich im Konfirmandenunterricht an. Es darf einfach nicht dazu kommen.
Heute war die schmerzliche Beerdigung einer 24jährigen Braut. Wir erlebten das Wort: Lehre uns, daß wir sterben müssen – in handgreiflichem Geschehen. – Ich war in einem Beamtenhaus, wo sich alle Bewohner vertragen und sich gegenseitig helfen. Solch getreue Nachbarschaft gibt es also noch.
Der Arzt hat mich gestern energisch gewarnt, nicht so viel zu arbeiten. Jedoch: wir leben vielleicht kürzer als unsere Väter, aber dafür intensiver. Und das kommt doch wohl auf dasselbe heraus. Heute geht mir den ganzen Tag ein Advents-Predigttext durch den Kopf. Ich weiß nicht warum. Blumhardt würde natürlich am nächsten Sonntag darüber predigen. Ich bin so klein, daß ich ihn bis zum kirchenjährlichen Advent aufhebe. Aber wer weiß, ob er dann noch zu mir spricht.
Mittwoch.
Heute kam ich in die Gemeinde. In der Sprechstunde waren nur drei Menschen. Ein schwieriger Fall war allerdings dabei: Eine ausgetretene Diakonissin besuchte mich. Die ganze Sache ist völlig verfahren, obwohl es alles bewußte Christen sind, die ihre Hand dabei im Spiel haben. Das Menschenkind nun verhärmt und vergrämt, im Diakonissenhaus gar nicht dazu erzogen, selbständig durchs Leben zu gehen, nun alles um sie dunkel. Ich will in den nächsten Tagen einmal zu ihr gehen. – Ich konnte heute fünf Gemeindebesuche machen, meist Beerdigungsbesuche. Manchmal merke ich, daß die Leute sich „geehrt“ fühlen, weil ein „studierter“ Mann sie besucht. Sie freuen sich nicht über den Pfarrer und nicht über den Menschen, sondern über die „Ehre“. Scheußliche Sache. Dann wünsche ich mir, Arbeiter zu sein, um als solcher die Botschaft von Gott bringen zu können. Überhaupt: wann bekommen wir endlich Pfarrer aus dem Arbeiterstand? Nicht Söhne von christlichen Gewerkschaftssekretären, sondern wirklich Söhne des Proletariats. Bei den Besuchen fällt mir ein: eine Pfarrgehilfin ist doch unersetzbar für den Pfarrer. Kommt er selbst auch mehrere Tage lang nicht zu Besuchen, so macht doch die Pfarrgehilfin Besuche und berichtet dem Pfarrer über Not und Leid in seiner Gemeinde.
Ein Pastor sagte mir gestern: Nach einer Beerdigungsrede hätten ihm die Logenbrüder des Entschlafenen gesagt, es sei eine richtige Logenrede gewesen. Der Pastor nahm das als Lob. Ich mußte ihm sagen, daß ich dies Urteil als Tadel ansehen würde.
Freitag.
Ich suchte gestern um Mitternacht einen Predigttext. Aber es lag mir mein Bibelstundentext noch zu sehr im Sinn. Nun wollte ich heute in Ruhe an die Predigt. Jawohl. Um ½ 9 Uhr abends kam ich dran. Auch heute Beerdigung mit allem Kämpfen und allem Unvermögen. Ich gebrauchte heute Deine Formulierung, die Du mir grad heute morgen schriebst: „Nachdem es Gott dem Allmächtigen gefallen hat, daß der Tod den Sieg über Frau … davongetragen hat“. Aber weißt du, ob wir sagen dürfen: „es hat Ihm gefallen“? Ob Ihm das gefällt? Wir sollten lieber sagen: mitangesehen hat, oder: hat zugelassen hat, oder: hat geschehen lassen, oder so etwas. Das Paradoxon ist in dieser tastenden Formulierung aber sonst gut wiedergegeben, denn es ist doch so: einerseits – wo Gott ist, da ist Leben, andererseits – Gott läßt den Tod zu. Gott will den Tod nicht und ist doch mächtig genug, seinen Lebenswillen trotz Erdentod und -leid und trotz Menschensünde durchzusetzen.
Zwei sehr interessante Stahlhelmgespräche hatte ich: in dem einen hieß es: „Wir schützen doch die Kirche allein. Wenn wir die Kirche nicht schützen, kann sie bankrott machen.“ Du, diese gutgemeinte und zugleich anmaßende Anschauung ist für Kirche und Stahlhelm gleich gefährlich. Die Kirche sollte laut und klar sagen. Liebe Stahlhelmleute, macht ihr euch euren Staat zurecht, wie ihr wollt. Aber uns, die Kirche, laßt aus eurem Spiel. Wir brauchen euch nicht. Ihr seid noch nicht einmal weltliche Obrigkeit, und wenn ihr es wäret, würden wir, die Kirche, euch immer noch zurufen, wie Luther seinem Kurfürsten:
Ew. kurfürstliche Gnaden weiß oder weiß Sie es nicht, so laß es Ihr hiermit kund sein, daß ich das Evangelium nicht von Menschen, sondern allein vom Himmel durch unsern Herrn Jesum Christum habe … Ich hab’s auch nicht im Sinn, von Ew. Kurfürstlichen Gnaden Schutz zu begehren. Ja, ich wollt Ew. Kurfürstliche Gnaden mehr schützen, denn Sie mich schützen könnte. Dieser Sachen soll noch kann kein Schwert raten oder helfen; Gott muß hie allein schaffen, ohne alles menschlich Sorgen und Zutun. Darum, wer hier am meisten glaubt, der wird hier am meisten schützen. Ew. Kurfürstliche Gnaden hat schon allzu viel getan und sollt gar nichts tun, denn Gott will und kann nicht leiden, Eurer Kurfürstlichen Gnaden oder mein Sorgen und Treiben. Wenn Ew. Kurfürstlichen Gnaden glaubte, so würde Sie Gottes Herrlichkeit sehen; weil Sie aber noch nicht glaubt, hat Sie auch noch nichts gesehen. Gott sei Lieb und Lob in Ewigkeit. Amen. – Gegeben Anno 1522. Martin Luther.
Nun setze statt Ew. Kurfürstliche Gnaden überall Ew. Stahlhelm-Gnaden ein und Du hast schwarz auf weiß, wie Du als Pfarrer heute zum Stahlhelm zu sprechen hast, wie die ev. Kirche als Ganzes heute zum Stahlhelm sprechen muß.
Du kannst Dir denken, wie innerlich unruhig – äußerlich hoffentlich nicht. – ich heute alle diese und die sehr vielen und ernsten seelsorgerischen Gespräche führte: es ist Freitag und noch kein Text zum Sonntag. Aber es wurde mir freundlich und gütig ein Text beschert. Einfach aus den Erlebnissen in der Gemeinde heraus. Was gibt es Großzügigeres als die Bibel. Wollte doch ein Fünkchen dieser Großzügigkeit Hörer und Prediger anstecken. In einem Drittel ist die Predigt heute abend (früh) fertig.
Sonnabend.
Es fehlt mir etwas an der Predigt. Ich weiß nicht, was es ist. Lernen muß ich sie morgen früh. Ich freue mich noch heute noch immer über den Lutherbrief, den ich Dir gestern abschrieb. Gott laß uns ruhig schlafen und unsern kranken Nachbar auch.
Montag.
Sonntag abend habe ich nicht geschrieben. Ich hörte gestern früh eine Predigt. Ich weiß nicht, was schlimmer war: die Dürftigkeit oder die Begeisterung mancher Leute über die dürftige Predigt. Man lernt daraus. Vielleicht lassen sich Predigten überhaupt nicht beurteilen, wie man die übrigen Dinge dieser Welt beurteilt. Jedenfalls sollte man sich nie durch Zustimmung des Hörers irgendwie rühren lassen, sondern sie betrachten, wie das Vorbeifliegen einer Mücke – die nämlich die Eitelkeit sticht und darum abzuwehren ist. Danach sollten wir Pfarrer sehen, ob die Leute empört sind, todernst sind, beunruhigt und fragend – ob sie nun etwas tun.
Nach Haus gekommen, sah ich voll Neid auf die Spaziergänger herunter, während ich meine Predigt lernte. Wenn ich nur wüßte, was an dieser Predigt fehlt.
Mittwoch.
Hilde Bahrfeld hatte mir einige ihrer Gedanken aufgeschrieben. Ich darf Dir daraus abschreiben:
Wenn Gott nichts weiter ist, als Herrscher, gibt es noch etwas anderes als Gott, ein Beherrschtes und darum Ungöttliches. Es muß aber nur Gott geben. Gott muß alles sein, alles in allem … Gott interessiert sich für den Menschen mehr als für die Tiere, für den Menschen mehr, als für die Maschine, weil – wir uns am meisten für uns interessieren! Das nennt man Erkenntnis Gottes. Niemand kann Gott ahnen – wenn uns irgendein ungeheuer großer Begriff von Gott offenbar wird, dann muß Gott, weil Er Gott ist, den Inhalt dieses Begriffes stets um ein Gewaltiges übertreffen, so daß es keine Erkenntnis Gottes gibt, um Gottes Willen nicht geben kann und doch geben muß um Gottes Willen, daß Gott alles sei, auch die menschliche Erkenntnis. Man muß Gott anders mit Seinen unerschöpflich unbekannten, bisher und je unahnbaren Möglichkeiten größer erkennen wollen … Gott spielt eine jämmerliche Rolle in der Welt. Er verkörpert für die Menschen nur das Moralisch-Ästhetisch-Ethische … Darum ist heute den Menschen Religion eine Scham. – Gott ist nicht mehr göttlich, Er verlangt nicht mehr das Göttliche von Menschen und Dingen …Man läßt ihn nicht leben, den lebendigen Gott… „Was wir nicht können, sagt man, was für unsere Ohnmacht ausgeschlossen ist, will Gott nicht von uns.“ Die Menschen schreiben Gott seinen Willen vor und beschränken ihn nach ihren eigenen Schwächen. Ich kann den Teufel nicht neben Gott dulden. Jede Sünde – im Gedanken, Fühlen, Wollen und Tun des Menschen tötet Gott, läßt Ihn nicht alles sein. Wie könnte ich da mit wissentlichem Willen im Heiligtum morden, was ich über alles liebe. Der Sündenfreie ist auf religiösem Gebiet genau dasselbe, wie der Spießbürger, der gegen den Staat kein Verbrechen begeht. Schaffen muß der Mensch Göttliches, auch wenn er es nie im Geringsten erreicht, muß er Göttliches, nicht nur Gutes, schaffen auf allen möglichen und unmöglichen Gebieten. Das nenne ich nach dem Reiche Gottes trachten. Wenn der Mensch schafft, dann lebt Gott. Darum muß der Mensch schaffen. Gott schafft die Schöpfung der Menschen. Und wenn Gott nach aller unserer menschlichen Vernunft und Aufrichtigkeit nie sein kann, Gott muß sein.
Verstehen kann diese Sätze nur, wer den leidenschaftlichen Ernst des herben Menschenkindes kennt, wer das Ringen und Quälen sieht. Gestern abend war sie bei mir. Ich habe in dieser Stunde viel gelernt. Es war ein solches unpersönliches, sich selbst ausschaltendes Brennen auf Gott hin, daß ich mich scheute, zu sprechen. Die Paradoxien brachen aus ihr heraus, wie ich das noch nie gehört habe. Als ich mal abwich, nur etwas, und ihr irgendeine religiöse Anschauung hinstellte, unterbrach sie mich herrisch, drohend und sagte: „Sie sollen von Gott sprechen, nicht von Anschauungen.“ Dieses: Sie sollen von Gott sprechen, habe ich heute den ganzen Tag noch gehört. Ihre Bitte war: ich solle ihr sagen: was sie für Gott tun solle. Immer wieder bat sie darum. Ich konnte ihr darauf nicht antworten. Aber ich sprach ihr von dem Mann, der auch für Gott etwas tun wollte und ins Kloster ging. Ich konnte ihr nur sagen: Gott tut für dich, tut alles für dich. Das möchte sie nie vergessen.
Aber trotzdem und deshalb solle sie fragen, fragen, unaufhörlich fragen, was sie für Gott tun könne.
Ich aber habe nur den einen flehenden Wunsch, daß eine solche Bekundung Gottes nicht vergehen, sondern zur Auswirkung kommen möchte.
Beim Druck des Tagebuches seien zwei Briefe von Herrn Müller, dem ich Hilde Bahrfeld bei meinem Fortgang aus der Gemeinde sozusagen übergeben hatte, eingefügt; sie zeigen, wie auch ihm diesem Menschenkind einen tiefen Eindruck gemacht hat. Aus dem ersten Brief:
– – Es ist unverkennbar, daß in Hilde Bahrfeld starke Kräfte schaffen. Sie meint und will Gott als ausschließliche Wirklichkeit. Dieses wird von ihr formuliert in einer so schroffen Weise, wie es mir noch nirgends begegnet ist. Alles Menschenbezügliche stört sie beim Gedanken an Gott, darum auch jede Mitteilung von Menschen über Gott, auch die der biblischen Zeugen. Auch Jesus selbst konnte ihr vorkommen als einer, dessen Bedeutung der Ausschließlichkeit Gottes Abbruch tut. Wenn dieses alles das Hilde Bahrfeld innerlich Bewegende ist, so kann ich es nur als einen von Gott gewirkten Aktivposten buchen. Wieviel wertvoller als jene Gott belästigende Frömmigkeit, die Gott gewissermaßen engagiert und vielleicht noch eine Übertrumpfung der satanischen Verheißung: „Ihr werdet sein wie Gott“ ist, weil sie eben Gott, wenn auch in demütigen Formen nötigen zu können glaubt. Die Unterredungen mit H. B. enthalten auch für mich Gewinn, werde ich doch genötigt, bei Fragen nach und um Gott länger zu verweilen, als es sonst der Fall war.
Ein zweiter Brief des Herrn Müller:
– – „Zu sehen, daß hier schon so viel Gottgewirktes vorhanden ist, erhöht die Besorgnis, etwas zu stören oder gar zu verderben. Da war die Ablehnung der Bibel. Sie ist mir nach all den Vorstellungen, die von der Bibel herrschen, nicht verwunderlich. Wie soll sich aber selbst dies lebendige Denken um Gott zurecht finden, wenn man vom Schriftzeugnis gar nichts wissen will? Wenn es bei Hilde Bahrfeld zu einem unvoreingenommenen Lesen auch nur der Evangelien käme, wäre meines Erachtens viel gewonnen.
Ganz von sich aus bemerkte Hilde Bahrfeld ein paarmal: „Ich bin keine Christin.“ Das ist eine seltene religiöse Sauberkeit. Ich glaube, Hilde Bahrfeld ist bestrebt, sich nichts vorzumachen. Ihr geistliches Denken ist Gott. Hilty meint, zuerst komme der Glaube an Gott und zuletzt der an Christus, „den umgekehrten Weg, den unser Religionsunterricht sehr oft einschlägt, daß wir zuerst an Christus glauben sollen, hat er selbst nicht gelehrt. Im Gegenteil, er läßt es einstweilen sogar als entschuldbar gelten, wenn jemand noch nicht an ihn glaubt.“ Luk. 10, 22. Ich weiß nicht, ob Hilty recht hat, glaube aber mit Ihnen, daß sich bei Hilde Bahrfeld alles an der Christusfrage entscheiden wird; möglich daß, wenn diese Entscheidung negativ ausfällt, auch der bisherige Besitz verloren geht.
Ich persönlich halte es nicht für ausgeschlossen, daß Gott der Hilde Bahrfeld etwas kundgeben kann, was er anderswo nicht hat tun können und achte bei meinen Unterredungen mit ihr auch darauf. Bei unserem letzten Zusammensein sagte ich der Hilde Bahrfeld auch folgendes, dem Sinne nach: Es mag sein, daß ein Mensch, der Gott verehrt und ihn allein gelten lassen will, glauben kann, ohne Christus auszukommen. Sobald er aber Gott in der Weise vernimmt, daß er sich ganz persönlich von Ihm angerufen weiß, dann muß ihm Gott vorkommen als ein verzehrendes Feuer. Auf Bemerkungen über das Christentum erwiderte ich, daß es heute nur ganz, ganz wenig Christen im Sinne Jesu geben wird. Bereit, offen und voll Verlangen sein nach dem, was Gott noch geben will und kann, wäre in den meisten Fällen das überhaupt Erreichbare. – Ich weiß, daß auch Blumhardt so oder so ähnlich gedacht hat, aber vielleicht hätte ich in dieser Weise zu Hilde Bahrfeld nicht sprechen sollen.
Fortgang des Tagebuches:
Ein früherer Schützling von mir ist wieder einmal aus dem Zuchthaus frei und schrieb heute. Leider kann ich nichts tun. Er sucht Arbeit. Seine Schwester nimmt sich seiner treu an, auch die örtlichen Fürsorgestellen. Ich kann ihn doch nicht wieder hierhernehmen. Es ist bei ihm alles wie immer: voll kindlichem Vertrauen zu Gott und Menschen. –
Um Mittag herum versagte Kopf und alles, und ich setzte mich trotz aller Dinge und Besuche, die getan werden sollten, auf die Straßenbahn und fuhr in den Wald. Ich bin richtig zwei Stunden heute gegangen. Das tut gut. Dann machte ich einen Gemeindebesuch. Abends waren die konfirmierten Mädchen da. Sehr fein warfen die Kinder die Frage auf, ob man auch dann Gottes Willen in die Welt hineinzurufen habe, wenn es gar nichts nützte, wie z. B. bei der Wirtschaft.
Eben sehe ich, daß vom Montag bis Mittwoch 22 Briefe bei mir journalisiert und herausgegangen sind. Ich nannte die unbeantworteten Briefe gestern die Augen eines bösen Tieres. Aber die ungemachten Besuche haben noch viel bösere Augen. Das Tier springt bald auf mich zu. Dabei in der nächsten Woche drei Predigten.
Donnerstag.
Das böse Tier der ungemachten Besuche war heute nicht mehr auszuhalten. So machte ich vormittags zwei und nachmittags fünf Besuche. Darunter war ein Gespräch mit hochgebildeter, sympathischer Frau. Ihr Materialismus sei übergegangen in Astrologie. Tatsächlich wies sie ein astrologisches Weltbild und ganz astrologische Menschenbetrachtung auf, fragt bei Lebensentscheidungen das Horoskop usw. Wenn Ungebildete von Religion nichts wissen wollen, fallen sie in plumpen Aberglauben, und wenn Gebildete von Religion nichts wissen wollen, fallen sie in feineren Aberglauben. Astrologie, Rudolf Steiner, all’ dergleichen Religionsersatz füllt dann die innere Kälte mit etwas Wärme. – Nachmittags besuchte ich eine Lungenkranke in der Klinik. Sie klagte: schon die vierte Patientin sei in dem Raum gestorben, wo sie läge. Ich finde es grausam. Ich fragte bei dem Pfarrer, der Seelsorger an der Klinik ist, nach, ob es den Tatsachen entspräche. Er bestätigte es. Es sei kein Platz. Ich besuchte auch eine brave Frau, mit der es wieder mal zur Debatte Stahlhelm-Kirche kam. Offenbar drängt diese Frage im Stahlhelm selbst zur Auseinandersetzung. Ich sagte ihr, daß das Böse durch alle Teile der Menschheit durchginge, ob Stahlhelm oder Reichsbanner oder Rot-Front-Bund. Sie konnte das so nicht zugeben. Es ist menschlich (nicht christlich) betrachtet eigentlich rührend, daß man seine Freunde und sich selbst immer für besser hält, als andere. Als ich ihr sagte: „So ist der Mensch, daß er den Sohn Gottes ans Kreuz schlägt“, erklärte sie: „Das waren doch nur die Juden gewesen.“ Auf diese Weise weicht man dem Gericht und dem Angriff des Kreuzes aus. Ich sagte ihr deutlich: „Wir, heute, den Heiland der Welt.“ Sie meinte aber weiter: „Nur Juden kreuzigen den Heiland.“ „So steht das Hakenkreuz gegen das Kreuz von Golgatha auf!“ – – Sehr interessant und traurig zugleich war ein Gespräch mit einem Arbeiter, der mich ein Stück des Weges begleitete. Sein Hauptzorn richtet sich gegen die kirchlichen Oberen. Vielleicht sollten diese (Generalsuperintendenten und dergl.) sich einmal in großen weltlichen Versammlungen zeigen.
Abends hielt ich Bibelstunde über die Schöpfungsgeschichte. Es ist doch gar nicht so ganz einfach, den Leuten klar zu machen, daß die Bibel kein Naturkunde-, kein Geschichts-, kein Astronomie-, (Ps. 19.), kein Medizin-Buch ist, sondern ein Buch, das radikal auf Gott hinweist, uns brennend zuruft: Gott hat die Menschen geschaffen, Gott die Erde, Gott die Welten, – Gott allein. Die heutige materialistische und historistische Denkweise bleibt immer am Wie und Wann der Begebenheiten hängen. Ich sprach von der Freiheit der Bibel, zwei sich widersprechende Schöpfungsberichte unmittelbar hintereinander zu stellen.
Dein besuchsberuhigter Freund.
Freitag.
Soeben suchte ich mir einen Predigttext: Römer, Kap. III, d. h. gesucht habe ich nicht. Ich las die ersten Kapitel des Römerbriefes und stockte hier. Aber – kaum ist es mir sicher, daß ich dieses Wort nehme, da befällt mich schon wieder die Last der Verkündigung. Es ist etwas Anmaßendes, Freches, wenn wir kleinen Pfarrer solche Worte – die eben nur von Gott gesprochen werden können – in den Mund nehmen … Diese Worte erdrücken den Pfarrer selbst, Und dann soll er darüber – reden? Kann er reden, wenn ein Felsblock auf seiner Brust liegt? Aber darf er schweigen? –
Hilde Bahrfeld erzählt mir heute, daß ihr Religionsunterricht auf der Studienanstalt rein historisch gewesen sei, nicht einmal vom Religiösen eine Spur, geschweige denn von Christus selbst. Heute sah ich zum erstenmal „meinem“ Kranken ins Gesicht. Ich habe ihn zwei Jahre lang besucht, wöchentlich zweimal. Nie sah ich den Kopf. Heute kam ein Bild. In dem Bad, in dem er seit ein paar Monaten weilt, hat man ihn so weit gebracht, daß er den Kopf hochhält. Zwar immer noch das Kinn auf der Brust, aber doch die Züge zu erkennen, so klein die Photographie auch war. Es war mir wie ein neuer Mensch. Die Züge so alt, so reif. Ich hatte ihn mir jünger vorgestellt. Welch ein Leben. Aber ich bitte ständig um Heilung. –
Ich vergaß, von der gestrigen Bibelstunde zu berichten. Einer protestierte gegen den Punkt meines Vortrags neulich, wo ich gesagt hatte: daß das Christentum nicht ohne weiteres gute und besonders gute Staatsbürger produziere. Ich hatte die Großen der Religion angeführt, die alle ganz oder beinahe vom Staat hingerichtet wurden. „Das seien eben die Großen“, wurde gesagt. Schließlich aber verstand man es doch, daß der Christ eben mit der weltlichen Macht in Konflikt kommen muß, weil er ja gegen die Welt, die der Staat repräsentiert, protestieren muß, weil er die Schulddurchzogenheit des Staates sieht, weil er den organisierten Machtwillen der menschlichen Mächte bekämpfen muß.
Die Redensart und stillschweigende Voraussetzung: „Der Pastor lügt“, kommt meiner Ansicht nach von den Beerdigungsreden. Der Pastor lügt über den Verstorbenen. Alle kennen ihn, nur der Pastor nicht. Der Pastor erzählt, was die Anverwandten ihm vorgelogen haben, und die Anverwandten wollen ja im Toten geehrt sein. Nun kann man von den Hörern nicht den plötzlichen Umschwung verlangen: solange der Pastor vom Menschen redet, also davon, was sie beurteilen können, lügt er – sobald er aber von der Ewigkeit spricht und von Gott spricht, also davon, was sie nicht beurteilen können, lügt er nicht mehr. Diesen Umschwung machen sie nicht mit. Es bleibt der Eindruck: Der Pastor lügt. Lügt er beim Leben des Toten, so lügt er natürlich auch bei dem anderen. Man kann es fast von den Leuten nicht besser verlangen. Ich sage darum jedesmal, ganz ausnahmslos: „Ich kann nur das sagen, was mir von den Verwandten und Freunden des Entschlafenen gesagt ist.“ Und bei dem, was diese gesagt haben, bin ich noch möglichst zurückhaltend.
Aber das sage ich wohl auch immer in irgendeiner Form, daß da ein sündiger Mensch die Augen geschlossen hat. (Übrigens – – oft ist es gerade ein Aufreißen der Augen hinüber in das andere Land.) Allerdings ist mir bei zwei „Größen“ der Stadt, die ich kürzlich beerdigte, folgendes passiert: Bei jedem habe ich erst sein gutes Tun und Wesen geschildert und dann gesagt, daß er auch „ein sündiger Mensch“ gewesen sei. Das hat wie eine Granate eingeschlagen. Richtige Empörung. Großes Besprechen. Und dann die charakteristische Bemerkung: „Hätte der Pastor wenigstens statt sündiger Mensch unvollkommener Mensch gesagt.“ Ich werde es von jetzt ab ganz scharf sagen, zumal bei Gebildeten, daß die Trauerversammlung – sofern sie einen Pastor sprechen läßt – sich unter Gottes Augen stellt, und zwar sich mit dem Verstorbenen unter Gottes Augen stellt. Vielleicht begreift man es dann eher, daß vom sündigen Menschen gesprochen werden muß.
Sonntag.
Mir ging bei dem Spaziergang heute nachmittag folgendes auf: was soll eigentlich die ganze Ketzerrichterei, der ganze juristische Ansturm gegen die Liberalen. Wie kommt man zu dem frevlen Satz: Wer liberal denkt, ist in der Kirche nur geduldet, und zwar nur als Laie, als Pfarrer ist er unberechtigt. Ich glaube, man sollte dem Geist, den geistigen Kräften freies Spiel lassen, d. h. niemals mit Zwangsmaßregeln anmarschieren. Aus zwei Gründen:
1. Die Handlanger der Ketzergerichte, die Schutzmannspfarrer bzw. Kriminaltheologen, sind unter dem Urteil – nicht eines menschlichen Spruchkollegiums, sondern unter dem Urteil Jesu. Denn wenn es nicht erlaubt ist, zu seinem Bruder zu sagen: du bist ein Narr, so ist es erst recht nicht erlaubt, zu sagen: du bist ein Ketzer, du bist ein Irrlehrer.
2. Alle fehlgehenden geistigen und geistlichen Bewegungen laufen sich selber tot. Hat es nun Wert gehabt, Herrn Jatho und Herrn Traub aus dem Pfarramt zu entfernen? Ist dadurch irgend etwas besser, lebendiger geworden in der preußischen Landeskirche? Ist das Reich Gottes dadurch einen Ruck vorangekommen? Fehlgehende geistige Bewegungen sind nur durch den Geist zu überwinden, von innen heraus, nicht aber durch äußere Zwangsmaßnahmen. Der eine Pfarrer Karl Barth oder vielmehr: der eine Fingerzeig Karl Barths hat zur Überwindung des Liberalismus mehr geleistet als alle Spruchkollegien, Ketzergerichte und bekenntnistreuen Vereinigungen zusammen. Für Spruchkollegien kann sich nur begeistern, wer an der Macht des Heiligen Geistes verzweifelt. – In unserer Gemeinde riecht es aber immer sehr nach Ketzergericht und Scheiterhaufen. Es ist immer Brandgeruch. Mit Recht sagt der alte würdige D. theol. …: „Solche Fragen, wie dem Probeprediger damals, seien nicht einmal dem Jatho von den Richtern des Spruchkollegiums gestellt.“
Gestern abend traf ich den Generaldirektor P. (Jurist). Er sagte, die Art meines Blattes sei doch heute die einzige Art, das Wort Gottes an die Menschen zu bringen. In der Kirche hätte ich nur 500 Hörer, im Blatt mindestens 15 000. Er würde es als Kirche so machen: mich nicht nach … rufen, sondern mich von Amtshandlungen befreien, mich alle 14 Tage predigen, im übrigen nur das Blatt machen lassen. Hat er recht? Die Stellung der Hamburger Hauptpastoren, die nur predigen dürfen und dazu das öffentliche Leben bearbeiten müssen, ist doch sehr, sehr anzumerken. P. sagte: man beriete in den Kreissynoden immer, wie man das Wort an die Leute heranbrächte. Die Antwort sei doch heute längst gegeben: durch das gedruckte Wort. Mit dem letzteren hat er unzweifelhaft recht, denn das sieht man an den Sekten, welche die Häuser treppauf, treppab mit Flugblättern überschwemmen. Ich glaube jedoch, daß mein Blatt anders sein würde, wenn ich nur zu predigen und für das Blatt zu sorgen hätte. Darin stünde ich ja nicht in der Not, die bei jeder Amtshandlung, bei jedem Besuch mich anschaut. Aber es ließe sich vielleicht so machen, daß ich statt 7000 Seelen 1000 Seelen bekäme. In all’ dem ist unsere Kirche ja ungemein unbeweglich. Und darum sind diese Gedanken P.s nur pia desideria.
Wir sprachen auch über die Kritik an der Kirche in meinem Blatt. Er sagte: viele Pastoren verstünden das nicht, wären wütend darüber. Er aber verstand es gut. Ich verstehe an diesem Punkte wiederum die Amtsbrüder nicht recht. Wir verlangen immer, daß alle Menschen ihre Fehler eingestehen, wir verlangen Buße und wollen als Kirche, als Pfarrer unsere Fehler den Brüdern nicht eingestehen, wollen selber nicht Buße tun. Stockholm ist da doch ein mächtiger Schritt vorwärts, wenn es in seiner Botschaft sagt: „der Ruf der gegenwärtigen Stunde an die Kirche muß ein Bußruf sein“. Nun gilt es aber, diese allgemeinen Sätze Stockholms auch im täglichen Leben der Kirche anzuwenden.
Heute zwei Taufen, zwei Gemeindebesuche, für die predigtreiche nächste Woche an Predigt gearbeitet. Morgen Pfarrwahl. Mir graut!
Dienstag.
Gestern Pfarrwahl. Der „Liberale“ wurde gleich im ersten Wahlgang gewählt. – Am erschütterndsten war eigentlich noch dies: zwei Leute der Linken Seite konnten ihn nicht wählen, enthielten sich der Stimme, weil er Demokrat ist. Man kapiert es nicht, daß Gott auch in der Demokratischen Partei etwas sagen will, daß Christus auch in der Demokratischen Partei Herr werden will. Es ist von Gott wirklich nicht zu verlangen, daß er sich an eine Partei bindet. –
Du kannst Dir denken, daß ich hinterher keine Lust mehr hatte, mich an meine Predigt zu setzen. Früh hatte ich übrigens eine stillfeierliche goldene Hochzeit in der Kirche.
Heute schwere Bußtagsarbeit. Ich muß diesen Text in seiner Radikalität sprechen lassen. Heute war ich in Schwung. Da war ich dankbar. Zum zweitenmal fertig geschrieben ist sie. Gelernt noch nicht. Morgen früh muß es geschafft werden.
Bußtag abend.
Heute sagte mir ein Konfirmanden-Vater, den ich auf der Straße traf und den ich darauf hinwies, wie sein unsittliches Leben doch die Seele seiner Tochter zerstören müsse: „Mein Kind darf so was natürlich nicht machen. Dafür sorge ich schon.“
Du bist betrübt über unseren Wahlkampf. Zu dem Thema „Jungfrauengeburt“ möchte ich Dir übrigens einen Abschnitt aus Luther überreichen:
Man findet ihr viel, die da sagen: Christus ist ein solcher Mann, der Gottes Sohn ist, geboren von einer keuschen Jungfrauen, ist Mensch worden, gestorben und vom Tode wieder auferstanden, und so fortan; das ist alles nichts. Daß er aber Christus sei, das nun ist, daß er für uns gegeben sei, ohne alle unsere Werke, ohne alle unsere Verdienste uns den Geist Gottes erworben hat, und gemacht zu Kindern Gottes, auf daß wir einen gnädigen Gott hätten, mit ihm Herren würden über alles, was da ist im Himmel und auf Erden, und darzu das ewige Leben hätten durch den Christum! Das ist der Glaube und heißt Christum recht erkennen.
Wie befreiend sind doch diese Lutherworte, wenn der kleinliche kirchenpolitische Kampf einen umtobt. –
Den Vormittag und noch eine Stunde nach Tisch habe ich an der Predigt gelernt. Man muß ja vielmehr lernen, wenn man keine Nacht dazwischen hat. Zwischendurch habe ich noch beim Vormittags-Abendmahl geholfen. Und Abendmahl nimmt immer viel, viel Kraft. Man lebt ja doch mit diesen 200 Menschen heute früh und heute abend die Schuld zusammen, bekommt sie mit aufgeladen, und hat ja auch beim Austeilen irgendwie Dienst am Wort. Ich sehe noch jetzt einzelne Gesichter vor mir. Ach, weißt Du, ich hätte sie jetzt alle gern in meinem Zimmer und läse ihnen aus dem 1. Korintherbrief vor oder aus Luther oder aus Blumhardt. Nun kann ich nichts, als all’ die Beladenen mit meinen Gedanken suchen.
Meine Predigt sprach von Einzelschuld und von Gesamtschuld. Ich habe wieder manches gesagt, was Ärgernis erregen wird: Daß das Toben draußen gegen Christentum und Kirche entstanden ist aus dem Irrewerden an der Liebe der Christen und an der Gerechtigkeit der Christen: daß in jeder Gefängniszelle unser aller Schuld angerührt wird; daß all’ die Armut und all’ das Elend unsere Schuld ist; daß es ebenso unsere Schuld ist, wenn Gott in Wirtschaft und Handel und Politik nichts zu sagen hat; daß das Böse durchgehe durch Stahlhelm, Reichsbanner, Rot-Front-Bund.
Ich sagte vor der Predigt – müde und abgespannt wie ich war – zu meiner Frau: „Man ist doch ein geplagter Mensch.“ Aber als ich die übervolle Kirche sah, da war ich doch dankbar, daß ich mich so abgeplagt hatte. Bei einer solchen Gemeinde kann man die Überarbeit wahrhaftig verantworten.
Ich höre auf, du wirst meine Schrift nicht mehr lesen können. Nach Haus gekommen, mußte ich sofort an die Totenfestpredigt denken. Ich fand einen Text.
Donnerstag nach Bußtag.
Ich wollte so gern am Vormittag an meiner Totenfestpredigt arbeiten. Totenfest ist so richtig ein Fest aus dem 19. Jahrhundert, wo es bekanntlich erst aufgekommen ist. Man dreht sich um den Menschen, noch dazu um den toten Menschen, verherrlicht sein Geschlecht – und verherrlicht den Tod. Während der Christ doch immer nur drum kämpfen sollte, sich den Tod und das Todeswesen aus dem Herzen zu reißen, sich auszustrecken nach Auferstehung und Leben, nach Auferstehungskräften und Lebenskräften. Neues soll doch in uns aufbrechen. Was macht man soviel Lärm um die Toten? Wieviel unchristliches Wesen bei den Gefallenen-Feiern! Wenn man doch soviel Wesens machte um Christus und die Lebensfeiern, die Er uns halten will. Immer geht der Blick auf die Menschen. Man steckt richtig die Nase rein in das menschliche Todeswesen und in den menschlichen Verwesungsgeruch. Statt daß wir die Augen hochrichten auf den Himmel.
Aber ich wollte Dir ja nur sagen, daß ich den Vormittag nicht zu der Predigt kam, vor lauter Menschen. – Es war gerade heute der Sohn eines Mannes hier, der zehn Jahre lang geistesgestört war. Ich kann selbst bei solchem Fall nicht mehr denken: ein Glück, daß er tot ist. Ich kann immer nur denken: wie fern sind wir vom Reiche Gottes. Mit leiser Hand führte ich den Sohn, der sehr verständig war, dazu, daß ich die übliche Trauerrede fallen lassen darf und nur Bibelworte verlese. „Nur“ schreibe ich aus Versehen, aber die Hörer werden ganz bestimmt sagen: er las bloß aus der Bibel vor. –
Freitag vor Totenfest.
Man kann nicht – ich kann nicht – Bußtag einen solchen Text zu mir sprechen lassen, wie den aus dem Römerbrief und dann Freitag schon wieder in einem neuen Text leben. Zwei Vorträge über mein psychiatrisches Spezialgebiet will ich gern in einer Woche halten, aber zweimal so predigen, daß Gott verkündet wird – das kann ich nicht. Von Toten, von toten Menschen kann man natürlich schöne Worte machen. Das ist klar. Aber von dem, der über diese toten Menschen Auferstehung ruft, kann man eben gar keine Worte machen.
Eine Familie in ganz bescheidenen Verhältnissen: Bei der goldenen Hochzeit haben die guten alten Leute von Staat, Stadt, Arbeitgeber zusammen 150 Mark bekommen. Das war der alten Großmutter so überwältigend, daß sie ankam und „für die noch Ärmeren“ etwas abgeben wollte.
Wenn doch Sonntag niemand in die Kirche käme. Aber das will ich doch sagen, nach 1. Kor. 15: Der Tod ist Gottes Feind. Wenn die Gemeinde auch sonst nichts von der Predigt hat, an dieser Einsicht der Bibel soll sie sich stoßen. An diesem Punkt kommt sie vielleicht zum Aufhorchen. – Um 2 Uhr mittags soll ich übrigens nochmal auf dem Friedhof predigen. Was? –
Totenfest.
Früh bin ich aufgestanden und habe die schwere Predigt gelernt, die Kirche war leider – natürlich an diesem Tag – übervoll, zirka 1300 Menschen, dann Abendmahl, dann Kollekte gezählt, um 12.15 Uhr kam ich nach Haus. Im Hochdruck wurde meine Predigt für den Friedhof skizziert, nach Muster einer in früheren Jahren gehaltenen, bin ½ 2 Uhr losgegangen, habe gepredigt und habe vielleicht, trotz des Freisprechens besser als um 10 Uhr gepredigt, es waren viele Menschen da, um 4 Uhr war ich zurück, habe Mittag gegessen, um 6 Uhr beim Abendmahl (250 Menschen) geholfen, einen eiligen Gemeindebesuch gemacht – und nach Tisch kam dann noch Hilde Bahrfeld, die vom Abendmahl sprach. Sie könne da nicht hingehen, dort ginge es ihr zu sehr um den Menschen, zu wenig um Gott. Sie wolle aber nur für Gott etwas tun.
Montag.
Ich schrieb Dir gestern nicht, daß ich mich gestern nach den zwei Predigten und den zwei Abendmahlsfeiern gewehrt habe gegen das Sprechen und Reden über Ihn, der doch gelebt sein will. Es ist mir nur wie ein Licht in der Dunkelheit, daß ich nächsten Sonntag nicht zu predigen habe. Und wenn sechs der mächtigsten Predigtkanonen Deutschlands auf einmal predigten – ich ginge nicht hin. Wir stellen heute den Kirchenzettel für die kommenden Wochen auf. Sonntag nach Neujahr würde ich keinen Gottesdienst abhalten, wenn es nach mir ginge. Es kommt doch wahrhaftig darauf an, wie von Gott gesprochen wird, nicht nur, daß von ihm gesprochen wird. Nach der Sprechstunde, gegen 12 Uhr, machte ich mich aber nun heute doch mal auf und ging zwei Stunden in den Wald.
Erholt hat mich der Spaziergang heute nicht. Meine gestrige Predigt ließ mir noch keine Ruhe. Was ich gesagt habe, mußte ich sagen. Nur, daß ich es nicht gestalten, nicht plastisch machen konnte. Jedenfalls war es keine Menschenverherrlichung, keine Totenverherrlichung. Tote Menschen sind nämlich Menschen. Auch tote Soldaten sind Menschen.
Mir wurde das Stenogramm einer Predigt anläßlich einer Gefallenen-Feier gebracht. Es ist ja selbstverständliche Pflicht, die Gefallenen zu ehren. Spricht dabei ein alter Offizier, so braucht er mit keinem Wort über die Gefallenen und über das Vaterland hinauszugehen. Es ist dann sachlich alles in Ordnung. Werde ich aber als Pfarrer gebeten, ziehe ich den Talar an und gehe auf die Kanzel, dann bin ich auch gebunden, gebunden durch mein Amt am Wort, daß Gott der Inhalt meiner Predigt ist. Bei der Gefallenen-Feier können mir die Toten gewiß Ausgangspunkt sein, das Ziel aber darf nur das eine sein, daß Gottes Name verherrlicht wird, daß den Menschen Botschaft von Gott und von seinem Sohn gebracht wird. – Ich kann Dir nicht die ganze Predigt des Pfarrers senden, nur folgenden Auszug. Von Gott wurde nur zweimal, und zwar ganz kurz und in folgender Weise geredet:
1. Der sie von Sieg zu Sieg geführt hat, bis hin zum schönsten Siege, da ein Mensch sich selbst bezwingt und dem Tod die Hand reicht zu einem Schicksal, dem man nicht entgehen kann – diesem Gotte sei in dieser Stunde des Gedenkens die Ehre gebracht. Mag es heute auch so sein, daß nach all den vielen Siegen eine Niederlage erfolgt ist, die alles Hoffen zerbrach und alles Wollen ersticken ließ – das eine steht doch fest, der Gott, zu dem wir aufschauten in der Anfangskriegszeit, von dem wir nicht ließen in der Kriegsbetstunde all’ die 4 Jahre, dieser Gott hat es nicht zugelassen, daß deutsches Land und deutsches Glück von den Feinden zerrissen und zertreten würde und darum – – – danken wir dir und denken deiner in treuer Liebe.
2. Denke daran. den Ehrlichen läßt es Gott gelingen und für die Ehrlichen im deutschen Volk, für die Aufrichtigen und Geraden, da hat unser Herrgott schon längst Kronen bereit gestellt, die unvergänglich sind. Amen.
Was für eine Theologie! So lange Sieg war, hat Gott geführt. Dem Gott, der Sieg bringt, soll die Ehre gebracht werden. Und wenn er die Niederlage bringt, das Gericht – nun, dann sagt man sich: das hat er nicht gebracht, das haben die Sozialisten gebracht. So entzieht man sich gerade der Stimme Gottes, die jetzt am lautesten spricht: der Stimme. des Gerichtes. So hält man sich krampfhaft – während man den Talar anhat und auf der Kanzel steht – die Ohren zu vor der Stimme des ewigen Richters. Und merkwürdig, sehr merkwürdig: in Deutschland läßt Gott es nicht zu, daß das Land zertreten wird – aber in Frankreich, im Elsaß (das NB. auch Deutschland gewesen ist, und Ostpreußen ist auch immer noch Deutschland), in Rußland, in Belgien – da läßt derselbe Gott es zu? Ach, es ist ja eben der deutsche Gott, der da gepredigt wird. Und sehr merkwürdig: in England und Amerika, bei den Feinden der Deutschen, hat er es auch nicht zugelassen. Ob der Ewige nicht auch den Ehrlichen im französischen Volk Kronen bereitstellt? Ganz deutlich ist es hier: solange Sieg, ist Gott da. Solange Niederlage, ist er nicht da. Das heißt, Er muß uns zu Willen sein. Er muß unsere Sache führen. So sind wir also noch immer drin in der schlimmsten gottfernen Kriegstheologie. Das sieht man auch aus folgenden Sätzen:
Wenn in dieser Stunde des Gedenkens eins uns traurig machen könnte, dann könnte es nur das eine sein, daß wir heute nicht an ihre Gräber wallfahren (!) können und daß unsere Klage das Wort der Maria von Magdala ist, als sie den Heiland suchte und den Gärtner fand und dann zu ihm sagte: „Herr, weißt Du nicht, wo sie ihn hingelegt haben? Mir haben sie mein Liebstes genommen, und ich weiß nicht, wo sie es hingetan haben.“ Aber im Geiste, da gehen wir jetzt an die Gräber …
Die Toten in Vergleich gestellt mit dem Gekreuzigten. Ferner:
Ein Märchen ist es und das sei über den Gräbern der Gefallenen noch einmal gesagt: das Märchen von Deutschlands Schuld! Keiner glaubt mehr daran.
Doch, Herr Pfarrer, einige glauben doch daran. Einige wissen, daß solch furchtbares, gottwidriges Geschehen aus der Schuld aller herauswächst. Einige wissen, daß Gott über dem Kriege spricht: so seid ihr Menschen auf der Erde, so fern meinem Willen, so dem Teufel verfallen, daß ihr so gegeneinander losgeht. Einige spüren, daß der Krieg das Werkzeug des Teufels ist, und daß wir dem Teufel nicht ein, auch nicht ein Zugeständnis machen dürfen. Krieg ist die Verkörperung der Sünde. Weil wir – ja auch wir Deutschen, sündigen, darum ist Krieg. Krieg ist die Offenbarung des bösen Wesens der Menschen. Weil wir Menschen – auch wir Deutsche – so böse sind, darum ist Krieg. Gott aber will die Menschen anders und will darum Friede. Solche Worte aber, wie die folgenden, sind doch direkt ein Schlag ins Gesicht der Bibel:
Diesen allen (den Gefallenen) rufen wir zu mit den Worten der Bibel: Ihr habt einen guten Kampf gekämpft, ihr habt die Treue gehalten.
Ließe er die Sanktionierung durch die Bibel fort, so wäre alles in Ordnung. Aber es macht sich besser, wenn man seine eigenen Gedanken mit der Bibel schmückt, wenn man so tut, als sagte die Bibel es – auch wenn man die Bibel dabei verdreht. Denn die Bibel spricht laut und deutlich vom guten Kampf des Glaubens. Will man tatsächlich behaupten: Alle Gefallenen hätten den guten Kampf des Glaubens gekämpft? Es waren unter den Gefallenen wirklich auch genug, die von keinem Glauben wissen wollten. Wozu diese Menschenverherrlichung? Es gab auch genug Gefallene, die gar nicht tapfer gestorben sind, sondern sehr feige im Gefecht waren und sehr feige starben. Wozu diese Lüge? Zum Schluß kam immer wieder: „Deutschland, das muß bestehen!“ Und dann erfolgte die Gleichsetzung:
Der Kampf um die Weltanschauung ist entbrannt, der Kampf um Heimat oder Welt, um Glaube oder Unglaube… Jetzt gilt es, den Kampf um Glaube oder Unglaube, Vaterland oder Vaterlandslosigkeit. Du, mein Stahlhelm, setze deinen Stahlhelm auf, den Helm des Heils! Du sollst die Waffe, die du nicht mehr führen kannst mit der Hand, jetzt führen mit der Kraft deines Geistes, mit deinem deutschen Herzen und christlichen Glauben.
Du denkst vielleicht, ich schriebe Dir in dieser Abendstunde zu ausführlich. Aber ich sehe solche Reden, wo man Unglaube und Vaterlandslosigkeit – nicht nur in der Wortzusammenstellung, im Ganzen der Rede! – auf eine Ebene stellt, als typisch für derartiges „Christentum“ an. Es ist deutscher Gott, deutsches Christentum – sicher sehr warm und begeistert gemeint, aber eben doch nicht Evangelium. Evangelium ist Gericht über alles menschliche Wesen, auch über das deutsche Wesen, über das deutsche Wesen der Toten und der Lebendigen. Evangelium ist die Botschaft in aller Derbheit, daß wir Gott zu gehorchen haben und allein Gottes Willen tun, aber nicht um des Dankes an die Gefallenen willen. Ich schrieb Dir neulich, wie mir aufgegangen sei, welch ungeheure Verantwortung die Stahlhelm-Pastoren haben, wie mit unheimlicher Deutlichkeit von ihnen gefordert wird, daß sie Gott verkünden und Gott allein. Hier hast Du das Resultat. – Und das andere Resultat war: die Menschen waren wild begeistert.
Das wären Dinge, wo die Generalsuperintendenten eingreifen müßten. Sie müßten sich die Stahlhelm-Pastoren einmal zu besonderer Freizeit einladen und ihnen die Verantwortung, die die Verkündigung des Wortes von Gott in sich schließt, mit der ganzen Wucht der Sache auf die Seele legen. Die Kirche müßte hier Seelsorge an den Seelsorgern treiben.
Aber es ist wahrhaftig Zeit, daß ich schließe.
Dienstag.
Ich muß Dir noch einmal vom Stahlhelm schreiben. Die schlimmste Amnaßung ist doch die, daß die Stahlhelmleitung Kreuze verleiht. Orden kann eine Privatvereinigung von mir aus soviel verleihen, als sie will, meinetwegen auch mit Brillanten. Aber Kreuze. Es ist ja schon sehr diskutabel, ob die Kirche ihren Führern Kreuze, ausgerechnet Kreuze, als Amtstracht zulegen soll. Aber daß ein politischer, rein irdischer Privatverein Kreuze verleiht, das zeugt nicht nur von unglaublicher Überheblichkeit, sondern auch von völligem Mißverständnis des Christentums. Daß aber Pfarrer diese Kreuze noch anlegen, sogar über dem Talar anlegen – wie mir gesagt wurde – dafür finde ich keine Worte. Ich kann nur sagen: eine Theologie, einen Kirchenbegriff können diese Pfarrer sich doch nicht erarbeitet haben. Es ist ja allerdings auch leichter, die Stahlhelmidee anzunehmen, als sich eine Theologie zu erringen.
Dazu noch eine sehr bezeichnende Zeitungsanzeige: „Sonntag, den 26. August … Feldgottesdienst auf dem … Platz in Gegenwart des Generals der Infanterie von K …“. Offenbar ist Herr von K. eine Art Lockmittel, um den „Feldgottesdienst“ anziehend und schmackhaft zu machen. Ohne Herrn von K. würden wahrscheinlich viele nicht am Feldgottesdienst teilnehmen. Ob wohl einem der Teilnehmer aufgegangen ist, daß die Gegenwart Gottes doch eigentlich das Entscheidende bei einem Gottesdienst ist, und daß Herr von K., wenn die Gegenwart Gottes Wirklichkeit ist, auch nicht ein Haar mehr ist als sein Bursche? Es ist wirklich alles sehr schlimm.
Auf dem andern Flügel geschah etwas genau so Schlimmes und Trauriges: In dem Rundbrief der sozialistischen Theologen steht der üble Satz: „Ich fordere die Freunde auf, sich energisch am Wahlkampf zu beteiligend Die religiösen Bedenken müssen einfach zurücktreten vor den taktischen Notwendigkeiten.“ Der Satz ist aber charakteristisch dafür, wohin alles Bindestrich-Christentum (hier religiös-sozialistisch) treibt.
Noch eine dritte Verbindung zwischen Christentum und Welt beschäftigt mich jetzt stark. Es ist das Logenchristentum. Du schreibst ja auch gerade davon. Du sagst, das Logenideal wäre „Selbsterziehung und Erziehung des anderen zu allen Tugenden“, und meinst, daß sich bei den Logen der Dämon „Selbstvervollkommnung“ zwischen Gott und Menschen schiebt. Hier sind die Logen für einen ganz hohen Prozentsatz der gebildeten Männer der Kirchenersatz. Das Charakteristische ist nur dies: Man kann einem begeisterten Logenbruder theologisch sagen, was man will, er antwortet immer: „Das haben wir auch in den und den Symbolen.“ Der Ansatzpunkt gegen die Logen ist m. A. n. ein doppelter. Einmal ist den Logen klarzumachen, daß Symbol und Inhalt des Symbols keinesfalls identisch sind. Man kann das Sterben des Menschen in wundervollen Symbolen sehr schön erleben, ohne von dem wirklichen Sterben eines Luther in der Klosterzelle auch nur eine Ahnung zu haben. Man kann bei den Logenzusammenkünften das Kreuz vor sich hängen haben, ohne irgendwie von dem Tod Jesu einen Schimmer zu haben. – Der zweite Ansatzpunkt ist der: Die Logentheologie ist blanker Synkretismus: Aus allen Religionen und ihren mystischen Sektoren sind in die Loge Ströme geflossen. Es ist alles zusammengemengt: Nationalismus, Idealismus, Gnosis, Mystik, Rechtfertigung, Selbsterlösung, Erlösung. Aber gerade dieses Gemengsel geht nicht. Hier haben wir, scheint mir, wirklich die Aufgabe, auf theologische Sauberkeit zu halten und einmal klar und deutlich zu sagen: Entweder – Oder. Entweder Christus oder Religionsmischmasch. Entweder Christus oder Religiosität. Entweder Erlösung oder Selbsterlösung. – Und noch ein Drittes ist mir bei der Debatte mit einem Logenmann dieser Tage klar geworden: In einem Punkte mußte der Logenbruder nun doch schweigen und damit bekennen: „ja, das haben wir nicht.“ Und das war gerade der Zentralpunkt der Verkündigung Jesu: das Reich Gottes. Das findet in der Logentheologie keinen Platz. Und gerade hieran muß die Kirche jedem Logenmann die Entfernung der Logentheologie von der Bibel deutlich machen.
Mittwoch.
Das Übliche: Viele Menschen in der Sprechstunde und viele Briefe. Dazu eine Beerdigung, wo ich glatt sprach, nicht gerungen habe. Vermutlich fanden es die Leute sehr schön. Aber der Pfarrer nicht. Ich bin eben urlaubsreif. Hinterher hatte ich eine Taufe, wo ich schärfer von der Anforderung durch Christus sprach. Abends hörte ich einen Vortrag im Gemeindehaus, wo der Vortragende ganz richtig schilderte, wie der Proletarier keine Kurve habe, keinen Aufstieg. Es fehlt ihm jede Möglichkeit, zu gestalten. Außerhalb der engsten Familie sieht und erfährt er nirgends Liebe.
Donnerstag.
Wie eigen ist es doch wieder zwischen Dir und nur. Was mich z. Zt. theologisch am stärksten beschäftigt, schreibst Du mir heute in Deinem Brief, nämlich die Frage der Schöpfungsordnung. Sie hängt natürlich mit unserer Stahlhelmfrage zusammen. Ständig höre ich Leute sagen: dies und jenes ist Schöpfungsordnung (z. B. daß es reiche und Arme gibt). Im Pfarrerkreis wurde nicht nur jegliche Art von Volkstum als Schöpfungsordnung hingestellt, sondern sogar die Gewalt. Du kannst Dir denken, daß ich dagegen angegangen bin. Mir scheint da immer folgender Fehler gemacht zu werden: was auf dieser Welt nötig ist (z. B. die Gewalt) identifiziert man mit Schöpfungsordnung, mit Gottes Willen. Man vergißt eben total, daß man in einer Welt lebt, die unter dem Fluche steht, die gefallen ist, die nicht mehr schöpfungsgemäß ist. Es ist so manches hier in der Welt ganz unumgänglich, was deshalb nicht Schöpfungsordnung ist, ja, gegen die Schöpfungsordnung ist. – Schöpfungsordnung und Paradies sind rückwärts gesehen genau dieselbe Sache, wie Reich Gottes vorwärts gesehen. Nur das ist Schöpfungsordnung, was auch im Reiche Gottes Raum hat. Da nun im Reiche Gottes keine Gewalt sein wird, so ist auch Gewalt nicht Schöpfungsordnung. Da es im Reiche Gottes nicht verschiedene Volkstümer geben wird, so ist auch Volkstum nicht Schöpfungsordnung. Beim Volkstum ist es eigentlich so deutlich: die verschiedenen Sprachen und Farben sind doch wahrhaftig nur ein Zeichen für die Zerspaltung des Menschengeschlechtes. Ich finde immer, der Turmbau zu Babel macht als Bild sehr fein klar, wie die Sache wirklich liegt: alle Spaltung ist wider Gott und ist Folge der einen Ursünde, daß nämlich der Mensch sein will wie Gott. Der Turmbau zu Babel steht mit der Geschichte vom Sündenfall völlig auf einer Linie: der Mensch will sich verherrlichen, sich einen Namen machen, will sein wie Gott, will bis an den Himmel reichen. Und wo der Mensch sich so um sein Ich dreht, da spaltet er sich von den anderen Menschen ab, ja – er zerspaltet sich selbst. Wie die Völker in verschiedene Volkstümer zerspalten sind und einander nicht verstehen, so verstehen sich innerhalb des Volkstums die Glieder desselben Volkes nicht mehr: Der Arbeiter versteht nicht die Sprache des Bauern, der Angeklagte nicht die Sprache des Richters, der Pfarrer nicht die Sprache des Proletariers. Das alles aber ist nicht Schöpfungsordnung, sondern ist Folge des titanischen Übermutes des Menschengeschlechtes, ist Zorn Gottes, ist Bußruf Gottes an seine Geschöpfe. Wo der Mensch aber Gott gehorcht und in Christus ist, da ist „nicht Jude noch Grieche“ wie Paulus sagt. Da ist Überwindung des Volkstums. –
All solche Gedankengänge kann aber nur der verstehen, der sich Welt und Menschen mit den Augen der Bibel ansehen will. Wie schwierig ist es doch, solche biblischen Wahrheiten unseren heutigen Gemeinden nahezubringen. Und wenn sie uns vorläufig überhaupt nicht verstehen – sagen müssen wir doch, wie die Bibel Welt und Menschen anschaut. Heute nur noch: Gute Nacht.
Freitag.
Heute, lieber Freund, war Menschen-Tag. Darum bin ich heute abend beruhigter. Mehr Menschen als heute sprechen konnte ich wirklich nicht. Zweimal wurden heute Streitigkeiten mit Nachbarn an mich herangebracht. Unser Menschenweg ist wirklich voll Herzeleid. Beide Sachen liegen so verfahren, daß man im Augenblick gar nichts tun kann. In beiden Fällen konnte ich nur raten, zunächst einen Bogen um den Feind zu machen und jeden Zusammenstoß zu vermeiden. In den nächsten Tagen will ich dann einmal zu dem Feind hingehen. – So zart und fein sprach eine junge Frau von ihrem „ungläubigen“ Mann. – Ein Kaufmann klagte über die Pastoren: „Müßten die Pastoren sich durch ihre Arbeit ihren Unterhalt selbst verdienen, so würden viele mehr tun und vieles würde besser sein.“ An der Masse des Tuns liegt es meiner Ansicht nach gar nicht. Faul sind, so denke ich mir wenigstens, nur Vereinzelte. Da liegt die Not nicht. Sondern darin liegt es, daß Gott ihnen nicht ständige und alles immer wieder neu machende Wirklichkeit ist.
Endlich habe ich es herausgekriegt: die treue Seele, die mir seit Jahren für die Armen jeden Monat ganz pünktlich eine Summe in den Briefkasten steckt. Durch Zufall bekam ich es heraus. Ich besuchte sie heute. Natürlich ist es eine, die selbst leidet. Eine fast taube, pensionierte Lehrerin. Sie hat sicher kein großes Gehalt, versteht in der Kirche nichts, aber liest das Gemeinde-Blatt.
Dabei wohnt sie gar nicht in meinem Bezirk. Wenn doch nur alle in meinem Bezirk, die über 7000 Mark Jahreseinkommen haben, mir 5 Mark monatlich für die Armen geben wollten, dann könnte man wirklich helfen.
Günther Dehn schreibt: „Es ist ja so, daß man in einer normalen Gemeinde nicht sagen darf, daß es in der Bibel auch Märchen gibt. Man sollte es aus pädagogischen Gründen in der Tat auch nicht tun. Wer überwindet denn die Buchreligion? Wer in der Gemeinde ist imstande, einen lebendigen Begriff von Offenbarung zu gewinnen? Nicht einmal die Pfarrer können das. Man muß viel von dem, was man weiß, für sich behalten.“ – Ich stimme ihm darin nicht ganz zu. Schweigen wir, dann reden die Steine – nämlich die Freidenker.
Sonnabend.
Guten Abend, lieber Freund. Ich genieße die predigtfreie Woche und mache Besuche, zwar nur die allerwichtigsten und allereiligsten. Aber ich mache doch wenigstens welche, dazu die Briefe. Heute erreichte ich Tagebuch-Nr. 1000 d. h. das sind nur die wichtigen, die journalisiert werden müssen und die ich selbst journalisiere. Die andern macht die Pfarrgehilfin postfertig. – Bei dem Besuch ist es immer rührend zu sehen, wie die Leute sich freuen. Auch dort, wo ich keine kleine Spende hinterlasse, ist die Freude sichtlich. Es ist wohl dies dabei, daß die Menschen sich freuen, wenn sich überhaupt mal einer nach ihnen umsieht. Sie vermuten da so etwas (ohne es zu wissen) die Gemeinde, die ihre Glieder trägt. Leider gewinnt die Gemeinde ja in den Augen der meisten nur Gestalt im Pfarrer. Interessanterweise sagte mir gestern jemand: den Besuch der Pfarrgehilfin sehen die Leute nicht als vollwertig an, sie wollen den Pfarrer selbst. Ja, und wenn man dann da ist, dann sprechen sie doch nur von ihrem Leben, ihren Lasten, ihren Sorgen und die haben wir einfach mitzutragen. Ich denke immer, es soll mit den Hausbesuchen so sein, wie mit den Besuchen in den Gefängniszellen. Der Pfarrer sucht erst einmal das menschliche Verhältnis herzustellen, sucht ein gewisses Vertrauen von Mensch zu Mensch – damit sie dann auch auf ihn hören, was er in der Predigt sagt. Die Freude über den Pfarrerbesuch zeigt sich schon an den Kindern: sie strahlen, sobald sie nur die Tür aufmachen. Dahinter liegt wohl unbewußt: der Pfarrer muß Liebe bringen. Er ist der Mann, von dem Liebe auszugehen hat. Wie oft werde ich diese Erwartung enttäuschen. – Eine Lehrerin meinte gestern, sie habe jetzt herausgefunden, was ihr in meiner Predigt fehle, sie sei nicht individualistisch genug. Ich gebe zu, daß sie das oft nicht ist. Mir liegt ja gerade daran, den Blick vom Individuum loszureißen – einerseits auf die Gesamtheit hin, andererseits auf Gott hin. Damit wir loskommen von dem Ich-Menschen.
Heut die häufige Folge: Beerdigung – Taufe. –
Morgen der erste Advent. Laß uns unsere Tore weit machen und – was an uns liegt –, auch die Türen in der Welt hoch machen, daß Er, Er selbst einziehe.
Sonntag. 1.Advent.
Einen wirklichen Advent, einen Wirklichkeitsadvent voll „Wartens und Eilens“, voll Hoffnung und Angriff, wünsche ich Dir, lieber Freund, und allen Menschen.
Aus einem Brief: „… unser Gespräch neulich abend – das passiert wohl nur immer einmal in vielen Jahren, daß man einmal aus dem Raum und der Form notwendiger Diszipliniertheit heraustritt – zu seelsorgerlichem Gespräch. So ein Gespräch kann und darf nicht verlängert werden, ganz einfach letztlich deshalb, weil ein Mensch nicht zu eitel war, sich in seinem ganzen wirren Menschsein zu zeigen.“ Recht hat derselbe Briefschreiber: „Wir ernten heute den Fluch unseres ganzen naturwissenschaftlichen Denkens: es läuft alles im großen notwendigen Gesetz. Niemand ist verantwortlich, alles was geschieht, ist natürlich und zu verzeihen. So ist kaum ein Sinn dafür da, daß wir in unserem Leben persönlich beansprucht werden könnten – so völlig verantwortungslos sind wir geworden.“
Gleich hinterher machte ich einen Brief einer deutschen Kirchenbehörde an mich auf, mit der erhebenden Überschrift: Ew. Hochehrwürden usw. Dieser Titel erweckt in mir immer nur ein fröhliches Lachen. Wann kommen wir endlich aus diesem Unsinn heraus? Es ist beim besten Willen kein Grund dafür einzusehen, warum ein Pfarrer hoch, voll Ehren, voll Würden sein soll. Dieser ganze Titel schlägt doch unserem eigentlichen Beruf, nämlich jedermanns Diener zu sein, ins Gesicht. Manchmal quälen sich ganz einfache Leute mit diesem Titel ab und reden einen sogar so an. Dann sage ich ihnen immer, sie sollten dieses Ungetüm von Titel in der Versenkung des 19. Jahrhunderts ruhen lassen. Wann wird ein Kirchenführer auftreten und sagen: Von heute ab hören in der Kirche, weil sie evangelische Kirche sein will, alle Titel auf – wann?
Es war ein leichter, freier Sonntag heute. Predigtfrei! An solchem Tag wird mir handgreiflich klar: nicht die Fülle der Arbeit ist es, sondern die Verkündigung, die sich auf den Pfarrer legt, mit eisernen Gewichten. In der letzten Zeit ist mir aufgegangen, daß wir Pfarrer in Gefahr sind, ausschließlich die Predigt als Verkündigung aufzufassen – den Konfirmandenunterricht aber nicht.
Es kommt dies wohl daher, daß wir da stillschweigend einen Gradmesser anlegen: wichtiger und unwichtiger, Erwachsene wichtiger, Kinder unwichtiger, Lehrer wichtiger, Schüler unwichtiger. Gewiß überragt die Predigt. Aber auch der Konfirmandenunterricht soll doch Verkündigung sein, auch den Kindern soll die Botschaft Gott gebracht werden. Und das ist ebenso schwer wie bei Erwachsenen und ebenso verantwortungsvoll. Es stimmt etwas nicht in unserem Unterricht, wenn wir ihn nie als Kampf nehmen. Heute also ein stiller Sonntag. Nur die kurze Reise im D-Zug nach … zur Besprechung. In drei Stunden war ich zurück. Vorher hatte ich eine Taufe, aber eine besondere. Denn ich hatte mit der Mutter vorgestern ausführlicher und ernster reden können. Und nun empfand ich, sowie ich die Kapelle betrat, wie bewegt die junge Frau war. Ihr innerliches, mütterliches Wesen ging auf Pfarrer und Paten über. Man versteht es wohl, warum die alten Meister immer wieder die Mutter mit dem Kind malen mußten.
Dienstag.
Nun kommst auch du noch dran. Was waren das heute alles für Menschen. In der Konfirmandenstunde bekam ein Junge einen epileptischen Anfall. Eigene, furchtsame Spannung danach über den Kindern, über der Stunde. Dann war bei mir, oder ich bei ihnen: ein typischer mittlerer Beamter (böse auf seine Behörde); eine um ihr Kind besorgte Mutter; eine, ihre Hochzeit anmeldende Braut; eine Unterstützung erbittende Rentnerin; ein über Nachbarskinder (Konfirmanden) wütender Mann; eine Fürsorgerin des Jugendamtes; eine lügenhafte, Unterstützung erbettelnde, frömmelnde, geschiedene Frau; eine ehemalige Krankenschwester, von mir dahin zu überreden, daß sie sich morgen unbedingt beim Psychiater zur Behandlung gibt, dies nach drei Telephongesprächen erreicht; ein herzkranker, um sein Leben besorgter alter Beamter; ein Theologiestudent; eine innerlich zerrissene Telegraphensekretärin; ein Primaner, dem ich nach seiner Veranlagung das Theologiestudium nahelegen sollte und mußte; ein nervenkranker, argwöhnischer Kaufmann, der mich in seinem Zank mit seiner Firma um Vermittlung anrief; ein kirchenpolitischer Pfarrer; ein sehr kluger Metallarbeiter, der eine andere Arbeit sucht; eine ästhetische, künstlerisch hochgebildete, moderne, sensible, anthroposophische, wohlhabende Frau, die ich mal etwas beunruhigen wollte; dazu nachmittags nochmal Konfirmandenstunde Und Hilde Bahrfeld, mit ihren von Gott wachgerufenen Fragen nach Christus. Und nach der Bibel. Nun stehen sie alle vor mir, nun in der Stille der Nacht, und sehen mich an. – –
Ich las heute den schönen Satz: „Alles läßt sich verstaatlichen, nur die Liebe nicht.“ Alles läßt sich auch verkirchenpolitisieren, nur Christus nicht.
Gestern schrieb ich nicht. Im D-Zug von … und nach … las ich „Der Kaiser“ von Walter Rathenau. Mit fernsehenden und mit tiefsehenden Augen schreibt dieser Mann. Er sieht über seine Zeit hinaus und mußte darum wohl auch ermordet werden. Er schreibt und damit mußte ich an die heutige deutsche Universität denken: „Es gibt eine große Gefahr intellektual überstarker Naturen. Da sie vorwiegend die Fragen der Verstandessphäre sehen, unbeschwert von tiefen Zweifeln, Ahnungen und Gesichten, da sie sich auskennen in der Bewältigung solcher Fragen und mit anderen Vergrübelten und Versonnenen ein leichtes Spiel haben, so wächst mit dem Erfolge eine beherrschende Überlegenheit, und Sicherheit geht in Sorglosigkeit über.“ Ließe sich das nicht für einen sehr großen Prozentsatz der Universitätsprofessoren auch sagen? Und was Rathenau über die Erziehung der Prinzen schreibt, kann man ziemlich ebenso über die frühere Erziehung des wohlhabenden Bürgertums schreiben. „In kindlicher Abgeschlossenheit entstehen die entscheidenden Vorstellungen. Man lebt in einem schmerzlich abgesperrten, geschützten Paradies. Draußen brandet ein böses, schmutziges Volk … Oberstes Gesetz ist Abschluß, Schutz gegen Luftzug, Ansteckung, Erkältung.“ Eine Freude bleibt ja immer, wie tapfer sich der Kronprinz gegen diese Erziehung gewehrt hat (siehe seine Erinnerungen). Kamen nicht aus dieser Sphäre bis 1918 die „Führer“ des Volkes? Nicht zu vergessen: aus dem Bürgertum und allein aus ihm kamen auch die – Pfarrer. Kann man sich wundern über die bei den meisten Pfarrern restlos bürgerliche Umfangenheit ihres Wesens? Können sie je die Not und die Freude, die Qual und die Orgie des Proletariats begreifen?
Mittwoch.
Weißt Du, man hat in dem bürgerlichen Kirchenchristentum doch so manches einzureihen. Das ist ja heute die Lage. Der Kampf für Gott geht den Weg der Kritik, Kritik an der kirchlichen Frömmigkeit und an der Kirche, an der bürgerlichen Gerechtigkeit und an der Wirtschaft. Den Leuten den Boden unter den Füßen wegziehen – das ist der Weg. Verstanden wird er natürlich falsch. Aber wann wurde der Weg des Evangeliums verstanden?
Ich hörte heute: die Unterprima einer Studienanstalt raucht allgemein Zigaretten. Wenn die Mädels zusammenkommen, dann rauchen von 18 Mädels 16. Sehr charakteristisch.
Ein Sohn meldet die Beerdigung seines Vaters an, erzählt, wie treu, wie gut, wie fürsorglich der Vater immer gewesen sei (wörtlich). Plötzlich unterbreche ich ihn: „Warum haben Sie sich mit Ihrem Vater so schlecht vertragen?“ (ich hatte es zufällig und glücklicherweise gestern gehört). Da wendet er sich mit einem Ruck zu mir: „Na, weil er immer so garstig war.“ Die erste Aussage war für den Pfarrer und für die Beerdigungsgäste berechnet, die zweite war echt und war seine Entschuldigung, und – – stimmen werden schließlich beide.
Ganz schlimm ist doch folgendes: der Arzt sagt zu M. S.: „Ich habe mir soviel Mühe mit Ihnen gegeben. Das kann ich Ihnen sagen: mit Kassenpatienten tue ich das sonst nicht.“ Es ist gut, wenn ein Mensch so schamlos seine Geldgier aufdeckt. Man hilft den Kranken heute, aber nur solange, als es Geld gibt. Nur ein Glück, daß es doch noch andere Ärzte gibt wie z.B. unser Professor. – Den ganzen Nachmittag habe ich auf dem Basaar der Gemeinde verbracht. Solch ein kirchliches Institut ist sehr stark Tribut an die Welt. Man trinkt Schokolade pp. – für die Armen. Ohne Schokolade gäbe man das Geld nicht. – Pfarrer sollen aber wenigstens sagen, daß das sehr weltlich ist. In meiner Eröffnungsansprache tat ich es, – wie ich hörte, zum großen Entsetzen der Anwesenden. Abgesehen davon hat der Basar auch sein Gutes: der Pfarrer kann mit vielen Gemeindegliedern sprechen.
Donnerstag.
Ein typischer 65jähriger Bettler war bei mir. Was ich so oft erlebe: wenn der Bettler an irgendeiner obskuren Körperstelle eine Narbe hat – Kriegs-, Operations- oder Unglücksfall-Narbe – er enthüllt die Stelle sofort. Alles Beteuern, daß man ihm die Sache glaubt, auch wenn er nicht Rock und Hose auszieht, nützt nichts. Es ist immer ein gewisser Stolz auf die Narbe dabei. Aber warum dieses typische Vorzeigen der Narbe? Nur aus Stolz? Aus Gegenwehr gegen unser geheimes, ihm schon hundertmal begegnetes Mißtrauen? Aus der Absicht, Mitleid zu erwecken? Gleich hinterher kam ein junger Mann und bat um Stiefel und Geld. Es ist immer etwas Grausiges, daß ein junger Mensch, in der ganzen Kraft seiner 23 Jahre, bettelt, die Bettlergebärde schon halb angewöhnt, die verhaltene, eintönige Bettlersprache schon erlernt – wird er sich das Betteln je abgewöhnen? Glücklich zog er mit ein Paar Stiefeln ab. Wird er sie versetzen??? Besuch machte ich auch gerade heute bei meiner ärmsten und heruntergekommensten Familie. Solch ein Schmutz, solche Krankheiten, solche Verwahrlosung, soviel Kinder sah ich wohl selten auf einem Haufen. Das Jugendamt ist auch ganz verzweifelt. Zum Mittagessen sind es 13 Personen. Sie leben von Heimarbeit, sind große Kommunisten, nehmen aber die Stahlhelmspeisung an. Anfangs waren sie ganz vernünftig, klagten verhältnismäßig wenig. Der Mann ignorierte den Pfarrer, gab mir nur notgedrungen die Hand und fütterte, während ich mich mit der Frau unterhielt, mit rührender Sorgfalt einen Kanarienvogel. Ich mußte doch Geld dalassen, wenn ich kam. Aber sowie ich es auf den Tisch gelegt hatte, hörte das nette Wesen auf und sie wurden schmierig. Wir haben ihnen von der Gemeinde aus Mittagessen verschafft. Die Kinder sind, wenn sie das Essen holen, pfiffig und munter. Als ich die Tür schloß, schüttelte ich den Kopf: Hoffnungslos. Alles hoffnungslos: der Dreck, die Armut, die Krankheiten, – hoffnungslos die Kinder. Werden sie je aus all’ dem Elend herauskommen?
Unmittelbar darunter im selben Haus, genau das Gegenteil, wie zum Hohn gegen oben: Sauberkeit, Ordnung, Gesundheit, Arbeit. Von da aus ging ich zu einer sich sehr vornehm dünkenden Familie.
Das war mal wieder ein buntes Durcheinander.
Nach Tisch den guten – garstigen Vater beerdigt. Ein ganz kleiner Kreis.
Von dem, was in unserer Gemeinde jetzt geschieht (in Sachen Pfarrwahl) will ich nicht zu viel schreiben. Aber das muß ich Dir doch sagen: mitten aus diesem Gemeinderiß, der einen beschwert, gegen den man aber machtlos ist, heraus eine Adventspredigt machen ist keine Kleinigkeit. Unwillkürlich gehen die Gedanken immer wieder zu den armen verblendeten Blinden-Leitern. Ich will, muß, dagegen einfach ganz stark Christus stellen, Ihn allein, Ihn den Kommenden, Ihn, der einziehen will. So wie es in unserer Gemeinde ist, kann er bestimmt nicht einziehen. Blumhardt sagt so nüchtern: „Es gibt keine Gemeinde Jesu Christi, die rein wäre in ihrer Gesinnung,“ – keine, keine. Unser Herr braucht einen Strom von Barmherzigkeit für seine Gemeinde. Und bei alle dem fühle ich, wie Er vor der Welt steht, fühle, daß Er die Welt umbrandet wie ein Feuermeer. Er wartet nur, daß ihm etwas geboten wird, was Funken fängt. Es scheint aber noch alles Eisen zu sein. Und doch dürfen wir es nie vergessen: Er steht vor der Welt. Drum will ich auch predigen über: Macht die Tore weit und die Türen in der Welt hoch, daß er einziehe. Wird man diese Kunde hören?
Sonnabend.
So ruhig wie heute müßte es am Sonnabend immer sein: den ganzen Tag waren nur fünf Menschen da, und das Telephon hat auch nur selten geklingelt. Da konnte ich schön ruhig über meiner Predigt sitzen. Was ist es doch für ein ding um die Predigt: man muß reden von Dingen, von denen man genau weiß: die Gemeinde versteht, erfaßt sie nicht; sie liegen ihr ganz fern; die Gemeinde wird aus der Kirche gehen und denken: damit kann ich nichts anfangen. Das weiß man als Prediger und muß doch so sprechen. Wir haben uns ja nicht nach dem zu richten, was die Gemeinde versteht und was sie hören will. Wir haben Gottes Kommen hineinzurufen.
Wie anders ist doch das gesamte religiöse Denken, wenn man von dem Kommenden weiß. Unser heutiges Christentum weiß viel von dem, der da war, ein Weniges von dem, der da ist, und gar nichts von dem, der da kommt. Christentum ist heute eine ruhige, abgestandene, historische Sache aus der Zeit vor 2000 Jahren, die man anstandshalber schon glauben muß. Das ganze Christentum bekommt einen Ruck, eine Wendung, wenn man vorwärts schaut, auf den Kommenden. Mit dem Gewesenen kann man schließlich fertig werden – aber mit dem Kommenden? Seitdem diese Wirklichkeiten in mich hineingekommen sind, ist es mir immer, als hätte sich mein ganzes Weltbild geändert. – Aber ich will Dir die Predigt lieber ganz schicken.
Sonntag.
Ich habe heute gern gepredigt. Der Text ist so klar in seiner Verkündigung des Kommenden. Ja, ja, hinterher sagt man: ich habe gern gepredigt. Vorher? –
Gleich nach dem Gottesdienst mußte ich zwei Besuche in der Gemeinde machen. Dabei kam ich durch meine proletarische Straße. Da sprang es vor mir wieder (wir sprachen ja schon oft darüber) wie ein Blitzlicht auf: vor einer Stunde war Kirche. Die Kirche war voll. Ja – aber alles Bürgertum. Hier sitzen sie in ihren engen Wohnungen, lichtlosen Höfen, ohne Choralgesang, ohne Chorgesang, ohne den Namen Gottes zu hören, ohne angestoßen zu sein von Ihm, ohne angestrahlt zu sein von der andern Welt. Und dabei ist Advent. O, ich hätte am liebsten die Orgel und die Kanzel mitten in die Straße gestellt und den Prediger dazu. Ich las gerade, was Du schon manchesmal geraten hast, vor ein paar Tagen von einem Pfarrer, daß er in die Höfe zieht, einen kleinen Chor singen läßt und eine Ansprache hält. Ich könnte dieses nicht, ich würde da gänzlich unwirksam sein.
Heute nachmittag hörte ich aus dem Kindergottesdienst: ein Junge bekommt Prügel, wenn sein Vater erfährt, daß er in den Kindergottesdienst geht. – Ferner: Eine Mutter erlaubt ihren Jungen nur dann, daß sie um 4 Uhr ins Kino gehen, wenn sie um 2 Uhr zum Kindergottesdienst gehen. Da ist mir der prügelnde Vater noch lieber.
Dienstag.
Gestern war Pfarrerkonvent. Das Interessante darin ist nicht, was gesagt wird, sondern wie es gesagt wird, ich meine: Von welcher Ecke aus die einzelnen Pfarrer an die Dinge herangehen. Der eine geht immer vom Gesetz, von der kirchlichen Ordnung aus (er wirkt darum immer etwas staatsanwaltsmäßig), der andere von der Tradition aus, der dritte von der Kirche aus, der vierte vom Volke aus, der fünfte von seinem eigenen Subjekt aus usw. Die Schau der einzelnen ist das Interessante.
Abends ging ich in eine der kirchenpolitischen Rechtsvereinigungen, zu den sog. Bekenntnistreuen. Auch dort das übliche Bild: 75 % Frauen. Durchschnittsalter schätze ich: 55/60 Jahre. Gänzlich Kleinbürgertum. Es ist eigentlich nicht gut, diese braven Frauen gegen die schrecklichen liberalen Pfarrer aufzuputschen. Es werden dadurch nur Haßinstinkte wach, die sonst vielleicht schlafen würden. Im übrigen war bei den meisten Rednern und bei dem Vortragenden eine gewisse Freundlichkeit und eine Weite des Blicks zu bemerken, die ihnen die liberalen Gegner samt und sonders nicht zutrauen würden.
Nur eins: man redete immer, man müsse Bekenner sein. Dabei nahm man das Bekennen doch sehr verbal. Daß man mit dem Munde bekennen, sehr laut und sehr viel „Herr, Herr“ sagen und doch dabei in die Hölle wandern kann, wurde leider sehr übersehen. Daß das Bekenntnis zu Jesus ein Bekenntnis des ganzen Lebens sein muß, trat doch allzusehr zurück. Auch das trat ganz zurück, daß nur Gott entscheidet, was wirklich ein Bekenntnis zu Jesus, als dem Sohne Gottes ist. NB.: wenn ich Leute so prononciert von dem Sohne Gottes reden höre, so sage ich mir: ihr könntet auch ruhig mal daran denken, daß es Gottes Sohn ist, nicht nur Sohn – sondern Gottes.
Mittwoch.
Die Weihnachtsbescherung, obwohl sie noch ein gut Stück entfernt ist, wirft schon ihre Schatten voraus. Ich bekomme heute einen anonymen (!) Brief mit der Unterschrift: „Alle Hausbewohner“, ich solle die und die Familie nicht unterstützen. Die Töchter kauften sich, sowie sie Geld hätten, seidene Strümpfe und die Eltern verzehrten alles Geld an einem Tage, sowie sie Geld in den Fingern hätten. Diese „liebevollen“, heimtückischen „alle Hausbewohner“ vergessen, daß der Mensch, der in Not versinkt, sich ab und zu eine Orgie verschafft. D. h. es brennt im Proletarier die dunkle Glut: nur einmal frei von Sorgen sein, nur einmal essen können, kaufen können, was man möchte. Und manchmal entlädt sich der proletarische Druck, wie bei jedem Gefangenen (ich weiß es aus meiner eigenen Gefangenschaft und aus dem Gefängnis) in einer Orgie, d. h. die dunkle Glut wird entfacht zu plötzlich hoch aufflackernder Flamme. Ich schrieb es schon mal: da man durch den Alkohol am bequemsten in eine Orgie hineinkommt, wird am ehesten zu ihm gegriffen. Einmal, eine Stunde lang, für eine reiche junge Dame angesehen zu werden, eine Stunde lang die proletarische Gefangenschaft abgeworfen zu haben und gekleidet zu sein wie die ehrbaren, sauberen Bürgertöchter – warum versteht man dies im Bürgertum, oder vielmehr in der Christenheit nicht? Auch ein Massenumzug mit roten Fahnen und berauschenden Schlagwörtern auf herumgetragenen Schildern ist solch eine Orgie: man ist mal etwas, man bedeutet mal etwas, man wird mal angesehen und gar angestaunt, man wird mal gefürchtet. Ich verstehe das so gut: nur einmal die Illusion der Freiheit vom proletarischen Druck haben. Und darum helfe ich auch, ihr anonymen „alle Hausbewohner“, trotz der seidenen Strümpfe (für 95 Pfennige) und trotz des vielleicht alle vier Wochen gestatteten Bratens. – Wir geistigen Menschen leisten uns ja auch öfters eine geistige Orgie. Wir haben es doch wahrhaftig leicht, uns schlicht und unauffällig zu kleiden und das Essen als Nebensache zu betrachten, wo das Geistige unser Leben so reich macht.
Früh hatte ich eine besondere Trauung. Die jungen Leute selbst hatten sich nicht trauen lassen wollen, aber die Mutter hatte es verlangt. Ich glaube, ich traf hier mal den Ton und rührte die Herzen an. Es waren außer dem Brautpaar nur noch zwei Zeugen (ob diese noch Glieder der Kirche oder Ausgetretene?). Alle vier waren tatsächlich dankbar und äußerten es in drolligen Worten. Der eine z. B.: „Es war wunderbar.“ Ich spreche überhaupt bei so kleinen, stillen Trauungen besser als bei Paradetrauungen.
Donnerstag.
Das war wieder ein toller Tag heute. Um 4 Uhr nachmittags konnte ich meine Morgenpost öffnen. Ununterbrochen von 9 – ½ 2 kam ein Besuch nach dem andern. Sehr interessanter Besuch dabei: in der bekenntnistreuen Versammlung neulich hatte ich gesagt, daß das wirkliche Bekennen doch wahrhaftig nicht nur ein mit dem Munde Bekennen sei, daß ich aus der Versammlung Leute kennte, die sich bekenntnistreu nennten und doch dabei Betrügereien machten. Gleich kam heute ein Mann, der sich getroffen gefühlt hatte. Ich sagte ihm offen, daß er nicht lange zu reden brauchte, daß ich schon wüßte, daß jeder Mensch (und wenn es der das Caesarea- Philippi-Bekenntnis sprechende Bekenner Petrus ist) gut und böse sei, das Gute wollend, aber das Vollbringen nicht findend, das Gesetz Gottes und das Gesetz der Sünde in sich tragend, daß ich aber gemeint hätte: wirkliches Bekennen sei eben ein Bekennen mit dem Leben, mit dem ganzen Sein. Sonst bliebe es ja ,,Herr, Herr“ sagen. Ich brauchte ihm nicht scharf ins Gewissen zu reden. Sein Gewissen war ja getroffen. Er kam. Das genügte, denke ich. Es war schon mehr als ich zu hoffen gewagt hatte. Wir Pfarrer sollten vielleicht öfters so deutlich sprechen. D. h. machen kann man ja so etwas nicht. Es kam im Augenblick aus mir so scharf, ohne daß ich es vorher überlegt und gewollt hatte.
Einer war über die 3 Mark, die ich ihm gab, ganz ausgelassen und geradezu drollig dankbar. Offenbar hatte er nur 1 Mark erwartet. Oder er freute sich so, weil er dachte, ich hätte ihm alles geglaubt. Aber das tat ich gar nicht. In Not ist er jedenfalls. Wenn er es auch übertreibt.
Abends hatte ich mir Eintritt in die Mitgliederversammlung der S.P.D. verschafft, wo ein sozialistischer Pfarrer über Kirche und Sozialismus sprach. Bedingung war, daß ich in der Diskussion nicht spräche. Wenn ich Dir neulich von der ungeheuren Verantwortung der Stahlhelm-Pastoren sprach, so heute von der ebenso großen Verantwortung der S.P.D.-Pastoren. Da es deutsch-nationale Pfarrer gibt, muß es natürlich auch sozialistische Pfarrer geben. Jedoch, es müssen eben wirklich Verkündiger, Boten, Bringer einer Botschaft von Gott sein. Der hier sprach, war aber noch so gefangen in einen verblichenen Nationalismus von anno 1790, daß von Gott wahrhaftig nichts zu spüren war. Wörtlich: „Gott in der eigenen Brust – anders können wir ihn uns nicht vorstellen. Die Hauptsache ist die Menschenliebe. Die Propheten haben das Menschliche in den Vordergrund gestellt (!).“ Er erklärte, wir könnten nur anthropozentrisch denken, Gott nur rein immanent uns vorstellen. Du, ich muß gestehen: einen so alten, abgestandenen Nationalismus hatte ich nicht mehr für möglich gehalten – bei Pfarrern nicht, vielleicht noch bei sozialistischen Journalisten und Lehrern, die populäre philosophische und theologisierende Heftchen lesen. Aber ein Pfarrer? Ferner sagte er wörtlich: „Die ersten werden die letzten sein – diesen Satz könnte man mit Diktatur des Proletariats bezeichnen.“ Der religiöse Minusgehalt war erschütternd. Gut war lediglich, wie er den Sozialisten Buße predigte und dann erklärte: „Der Materialismus ist die Religion des Großkapitals, davor mag sich die Arbeiterschaft hüten. Klassenverräter ist, wer an sich denkt. Opferwilligkeit heißt die Religion des Arbeiters. Diese Opferwilligkeit lernen wir aus der Bibel.“ Sehr anständig bei seiner Einstellung war, wie er die Kirche in diesem Kreise verteidigte. In der Diskussion kam zuerst der Chefredakteur des sozialistischen Blattes. Du kannst Dir denken, daß uns Pfarrern die Materialisten allemal über sind, solange wir um einen transzendenten Gott nichts wissen. Und mit Recht.
Immerhin schuf der Chefredakteur (nicht der Pfarrer!) eine an das Gewissen packende, geradezu religiös zu nennende Atmosphäre, als er sehr eindringlich den Genossen zurief: „Überlegen Sie einmal, was das bedeutet: liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Überlegen Sie, wie weit, weit jeder davon entfernt ist. Überlegen Sie, was das für eine Umwälzung gäbe, wenn das Wirklichkeit würde: liebe deinen Nächsten, wie dich selbst.“ Dann gab er dem Pfarrer drauf: „Opferwilligkeit gab es, ehe es die Bibel gab und gibt’s bei den Gorilla, die die Bibel nicht kennen. – Der Proletarier büßt genug, braucht vom heutigen Christentum nicht zur Buße gerufen zu werden. – Der Sozialist lehnt die Trauung der Kirche ab, weil die Kirche Ehen segnet zwischen einem reichen, bald sterbenden Gecken und einem jungen Mädchen.“ Er schloß: „Dem Menschen Jesus Christus unsere Hochachtung, der evangelischen Kirche unser Kampf.“ – Als wir seinerzeit mit den Sozialisten über Christentum und Sozialismus gerungen hatten, brach die Debatte spät nachts bei der Frage Diesseits-Jenseits auseinander. Aber da war auch von Gott gesprochen worden und nicht bloß von dem Gott in der eigenen Brust. Tieftraurig war dieser Abend für Gottes Sache. Ich riet dem S.P.D.-Pfarrer am nächsten Tage dringend, er solle Rudolf Otto, Karl Barth und Blumhardt lesen, damit er loskäme von seinem verheerenden Rationalismus. Er nahm es mir nicht übel, ist überhaupt eine ehrliche Haut. – Es fiel übrigens in der ganzen Versammlung kein Wort gegen Jesus Christus, nur gegen das heutige Christentum und gegen die Kirche.
Interessant ist ja überhaupt der Wechsel in der Haltung des Sozialismus, auch des rein materialistischen Sozialismus, gegenüber dem Christentum. Früher (bis 1914) gab es nur Ironie und Verachtung alles Religiösen. Heute werden von Christus aus Forderungen an das Christentum gestellt, von Christus aus Anklagen gegen das heutige Christentum erhoben. Man muß sozialistische Zeitungen regelmäßig lesen, dann sieht man es. So traurig solch ein Abend war, so vergesse ich dabei doch nie: daß die Gewerkschaftsbewegung mehr für den Arbeiter, also mehr gegen die Not und gegen das Unrecht getan hat als die Kirche – also Gott darin mehr gehorcht hat als die Kirche. Wenn die Gewerkschaften es auch selbst nicht wissen und nicht wissen wollen.
Montag.
Heute abend war ein Krippenspiel der ehemaligen Konfirmandinnen für die jetzigen. Ich habe wieder gestaunt: manche, die im Unterricht keinen Ton sagt, ganz artig und still dasitzt, ist außerhalb des Unterrichts wild, ausgelassen, wie ein zweiter Mensch. Am liebsten nähme ich meine ganze Gesellschaft und zöge mit ihr 14 Tage in ein Forsthaus im tiefen Wald; unterrichtete sie, aber lebte vor allen Dingen mit ihnen, und spielte und tollte mit ihnen, um zu sehen, wie sie eigentlich sind. Ich tue es auch noch einmal. Ich habe eine Entdeckung gemacht. Bei uns ist der Jesu-Königs-Gedanke durch Blumhardt lebendig geworden und wird immer stärker ausgegriffen. Auch im Katholizismus ist er lebendig geworden. Der freundliche hiesige Dechant sandte mir auf meine Bitte die Enzyklika des Papstes „Quas primas“ vom Dezember 1925 über Einsetzung des Christi-Königsfestes. Derselbe Gedanke in beiden Konfessionen! Da kannst Du deutlich sehen: Christus schreitet vorwärts, schreitet durch die Konfessionen hindurch. Er bindet sich nicht an den menschlichen Kirchenpunkt. Obwohl die katholische Kirche sich sicher nicht von Blumhardt beeinflussen läßt, bricht in ihr doch dasselbe auf wie bei uns: der Kampf dagegen, daß sich menschliche Gebiete dem Einflusse Christi entziehen (Staat, Wirtschaft, Politik). Die katholische Kirche nennt das „Laizismus“. Wir reden von dem Wahn der Eigen-Gesetzlichkeit der Politik, der Wirtschaft. Gegen diesen Wahn steht Christus auf.
Vexilla regis prodeunt!
Dienstag.
Ich kriege kaum zusammen, was alles los war. Von einem Konfirmanden bekam ich eine Predigt nachgeschrieben. Ganz phrasenhaft, so richtig „erbauliches“ Geschwätz. Woher so ein Junge das wohl hat? Ich rede im Konfirmandenunterricht doch nie so und in meinen Predigten kommen solche Ausdrücke niemals vor. Die religiöse Phrase ist scheinbar auch ein Stück Natur, ein Stück Fleisch. Aber irgendwo muß so ein Junge doch auch solch Geschwätz gehört haben. Wir Pfarrer und Lehrer können gar nicht nüchtern, gar nicht herb genug reden, sonst glauben die Kinder niemals, daß eine Wirklichkeit hinter unseren Worten steht. Leider ist bei unserer gestrigen Weihnachtsfeier Geld gestohlen. Das macht uns sehr sorgenvoll. Bei einem Krippenspiel von ehemaligen Konfirmandinnen. Warum vertreiben die Weihnachtslieder den Teufel nicht?
Abends war ich mit einigen Pastoren zusammen. Es kam dabei zur Sprache, daß selbst so ein Mann, wie der Theologie-Professor … immer gesprochen hat vom hochseligen Kaiser Friedrich, vom seligen Tholuck und vom verstorbenen Ritschl. Überall dasselbe: Die theologische Erkenntnis unterliegt der politisch-patriotischen und der kirchenpolitischen Erkenntnis. Der Himmel unterliegt der Erde; es siegt die Welt.
Donnerstag.
Ein Pfarrer erzählte, daß in seiner Konfirmandenstunde Stinkbomben geworfen wären. Was in würdigen Stadtverordnetenversammlungen geschieht, macht der Jugend natürlich Mordsspaß. Übrigens täuscht man sich doch immer wieder über seine Konfirmanden: ein Junge, der ungefragt noch nie eine Antwort und gefragt sehr mäßige Antworten gab, schrieb mir ganz famos eine Predigt auf und mit so selbständigen Ausdrücken und so den Kern der Predigt erfaßt habend, daß ich wirklich gestaunt habe Die Tage sind wieder so, daß eins das andere hetzt und wir äußerlich nichts mehr zu Ende besprechen, geschweige denn innerlich verarbeiten können. Die Vorbereitungen zum Fest machen uns schon viele Wege, Briefe und dergl.
Sonnabend Nacht.
Eine außerhalb verheiratete Frau, der ich in früheren Jahren manchmal die Wahrheit sagen mußte, schreibt heute zum erstenmal an mich unter dem frischen Eindruck eines Todesfalls: „Wenn auch manche Ihrer Ansichten meinen Beifall nicht fanden, so ist doch das, was Sie mir von Gott und seinem Wort sprachen, in meiner Seele bewahrt geblieben.“ Den ganzen Tag habe ich mit Weihnachtsvorbereitungen zugebracht. Zirka 250 Menschen sind es, die ich zu bedenken habe! Guterhaltene Kleidungsstücke habe ich viel, aber Geld fehlt. Im übrigen durchjagt das kirchliche Leben eine Weihnachtsfeier nach der andern, ein Krippenspiel nach dem andern und nimmt damit nur weg, was die häusliche Feier des heiligen Abends erst schenken soll.
Morgen der 4. Advent. Ob es schon klingt in den Herzen der Gemeinde? Ob sie nur an Essen und Geschenke denkt, oder daran, daß ein Strahl aus der Ewigkeit aufleuchten will?
Mir ist heute ganz adventlich. So grüße ich Dich.
4. Advent.
Heute keine Predigt. Aber es scheint, als sollte es mir gar deutlich zu Gemüte geführt werden, daß ein Pfarrer auch am predigtfreien Sonntag im Amt ist. Ich hatte auf einen ruhigen Tag gehofft, wollte mal was lesen und an meine Weihnachtspredigten denken. Aber von 11 – 3 kamen – mit kurzer Mittagessen-Unterbrechung – Menschen. Zu seltsam, als ob sie wüßten, daß ich heute nicht zu predigen, also für sie dazusein hätte. Um ¾ 4 Haustaufe, dann Besuch in der Gemeinde, dann in der Klinik und als ich zurückkam, saß Frieda K. schon da, die bis 8 Uhr blieb. So konnte ich endlich am Abend das früh Angefangene weiterlesen. Manchmal – und heute und gestern war es so – kommen Leute zu mir, die meinen Rat erbitten. Ich rate ihnen, aber sie tun es doch nicht. Ja, es scheint mir, als wüßten sie schon beim Eintritt ins Zimmer, daß sie meinen Rat doch nicht befolgen. Und doch müssen sie fragen. Innerlich haben sie sich eigentlich schon entschieden. Aber sie wollen noch etwas hören, sei es Zustimmung oder Widerspruch, mit dem sie sich auseinandersetzen wollen.
Unangenehm ist mir immer, wenn Menschen meine finanzielle Hilfe oder sonstige Fürsorge beanspruchen. Geradezu herrisch fordern sie meine Hilfe, und danken nicht, oder so gut wie nicht. Aber wenn es mir auch unsympathisch ist – im Grunde haben sie ja recht mit ihrem Anspruch. Wir „habenden“ sind verpflichtet zu helfen. Und wahrscheinlich ist es ein Stück Pharisäertum in uns, daß wir gebeten, daß wir hübsch bescheiden angegangen sein wollen: unsere Höhe soll anerkannt werden, unsere Güte soll doch herausspringen. Wir wollen gebeten, wollen gnädig sein. Allenthalben steckt das Pharisäertum in uns.
Wenn man in seinem eigenen Haus sieht, wieviel Mühe kleine Kinder machen, dann weiß man, daß junge Frauen und Mütter am Sonntag vormittag eigentlich gar nicht in die Kirche gehen können. Vielleicht versuche ich es in meiner neuen Gemeinde einmal, eine Einrichtung ganz in der Nähe der Kirche zu treffen, wo die Mütter ihre Kinder abgeben und unter sicherer Obhut spielen lassen können. Gestern schrieb ich nicht über meine Besuche. Es war ein Kaleidoskop. Vom elegantesten Haus mit schönstem Teppich ging’s in die schmutzigste Wirtschaft, von da zu einer Witwe, Beerdigungsbesuch (sie war auch keine Spur traurig über den Verlust, aber erklärte auch ehrlicherweise, daß eine Lücke nicht entstanden sei.). Von dort in ein Haus, wo ich übermorgen trauen soll und zum Schluß zu einer wirklich besorgten Mutter: ihr Sohn leidend, wohl bald sterbend. Diese Gegensätze! Aber sie sind gut; so bekommt der Pfarrer Augen, um zu sehen.
Montag.
Ich machte heute wieder die Erfahrung: wenn ich im Konfirmandenunterricht zum Schluß bete, dann gehen die Kinder ganz still und leise heraus. Würde ich jedesmal beten, dann würde es ihnen gar keinen Eindruck machen. – Es war mir übrigens neulich sehr schwer, ihnen sagen zu müssen, daß ich sie nicht konfirmieren würde.
Eine kluge Frau schreibt mir heute, meine letzte Schrift sei gefährlich, die Menge sei nicht reif dafür. Ich wundere mich über solche Gesichtspunkte. Man fragt immer gleich nach der Wirkung und dem Erfolg, statt danach zu fragen, ob es wahr ist. Nur danach dürfte doch gefragt werden. Ist es aber wahr, dann muß es auch gesagt werden und die Wahrheit wird immer irgendwie freimachen. Man sollte nicht immer soviel Angst haben. Und die Menge? Ich kann nicht sehen, daß sie soviel unreifer ist, als der einzelne.
Natürlich weiß ich von Massenhypnose und Massenpsychose. Aber die setzt auch bei Dingen ein, welche die Verächter der Menge für gut befinden, z. B. beim Ausbruch des Krieges 1914. Spricht man von Menge, so hat man, scheint mir oft, eine wirre Vorstellung von dummen, habgierigen Menschen und will damit sagen, daß man selbst natürlich nicht dumm und nicht habgierig ist.
Dienstag.
Den zu Beschenkenden habe ich heute Geld in Umschläge getan, habe dabei immer abgewogen: 5 Mark oder 10 Mark oder gar 15 Mark, habe einen Gruß beigelegt, die Adressen geschrieben. Eine ganze Reihe von Stunden dauerte es. Und an meinem Sinn gingen all’ die Menschen vorüber: Kranke und Alte, Abwegige und Notleidende – gerade solche sind es ja, zu denen Jesus gekommen ist. Des Nachmittags hatte ich Trauung im Haus. Eine Haustrauung ist mir immer viel zu eng. Dann Weihnachtspakete für Menschen gemacht, die kein Geld brauchen, aber doch einen Gruß vom Pfarrer haben sollen, Bücher usw. Dann habe ich das Christvesper-Programm ausgearbeitet, es muß morgen in Druck. Wenn meine Pfarrgehilfin nicht die Kleider und Lebensmittel auf die 250 Menschen verteilte, müßte ich jetzt, ½ 2 Uhr nachts, damit anfangen. Es klingelt in diesen Tagen an der Haustür ununterbrochen. Die arme Hausgehilfin soll dabei kochen und reinemachen. Und doch ist es schön im Pfarrhaus, wenn alles so voll liegt und so viel Sachen gebracht werden. Heute erfuhr ich von einem Menschen, dem ich sehr viel an Zeit und Geld gegeben habe, viel Undankbarkeit. Es schmerzt, aber ich gebe mir Mühe, mir zu sagen: wir helfen nicht, um Dank zu ernten. Das wird wieder eine kurze Nacht.
Mittwoch.
Und meine Predigten? – Diese drei Worte schrieb ich gestern nacht noch hin. Denn bei all’ dem Trubel, dem vielerlei der Menschen und Gedanken, die einem durch den Kopf gehen, ernsthaft an der Weihnachtspredigt arbeiten, ist schier unmöglich. Heute vormittag begann das Austragen der Geschenke durch Konfirmanden. Dreißig weitere Pakete habe ich eben noch gemacht. Ich bekam einen Brief aus dem Rheinland. Die evangelische Kirche dort ließe sich ganz vom Gegensatz gegen den Katholizismus bestimmen und leiten. Wenn das wahr wäre, so wäre das ein Zeichen des Untergangs. Vom Negativen zu leben, ist unmöglich.
Eben habe ich meine Christvesperansprache gemacht. Sicherlich anders, als die Menschen erwarten. Sie erwarten doch meist sentimentales Zeug. Aber ich darf da nicht nachgeben.
Heiligabend.
Vor mir sehe ich noch immer die Menschenfülle in der Kirche. Ein Meer von Köpfen: so sah es sich von der Kanzel aus an. Einzelne Menschen waren nicht mehr zu unterscheiden. Der Chor sang so zart und fein, daß ich mich gar nicht getraute, in die Stille, die er geschaffen, hineinzusprechen. Vom Altar aus sah ich die Augen, von den Kerzenlichtern erhellt – nicht die Menschen, nur Augen – alle in unbestimmte Ferne gehend, alle weite Wege überschauend, wandernd und suchend Bethlehem. Nie ist die Kirche so voll wie zur Christvesper. Ich hatte 1500 Programme drucken lassen. Sie reichten bei weitem nicht. Hunderte von Menschen sollen umgekehrt sein. An sich ist solche Fülle beängstigend, sicher polizeiwidrig und gefährlich. Und doch ist sie schön. Denn warum kommen sie? Doch nicht um die Bäume zu sehen – die haben sie zu Haus – sondern um zu hören, was es denn eigentlich auf sich habe mit Weihnachten, um zu hören, daß Gott, der Unsichtbare, Ferne, Verborgene sich der Erde naht – – und im Kinde naht. Zu Hause veranstaltet der Mensch heute Familienfest. In die Kirche geht er, um von dem eigentlichen Weihnachtsgeschehen zu hören, – ganz gleich ob er weiß, daß er deshalb geht oder nicht.
Hinterher ging ich in die Herberge zur Heimat. In der Kirche sprach ich nach aufgeschriebenem und gelerntem Manuskript, in der Herberge frei. Und doch sprach ich diesmal in der Herberge viel besser. Ob es nicht an den Ausgestoßenen, Heimatlosen lag? Da saßen sie vor mir: alte Männer mit grauen Bärten und junge Männer, ganz junge, bartlose. Natürlich lehnten sie innerlich zunächst den Pfaffen ab, aber nach ein paar Worten horchten sie auf. Das Kind ist ja zu den Armen, Nichtshabenden gekommen, zu den Hirten in dem Stall – „kein Raum in der Herberge“. Mir war es so beweglich, wenn ich daran dachte, wie gut ich es habe: ich ging nach der Herbergsfeier zu meiner Familie, in meine Wohnung, zu meinen Kindern, zu meinem Baum. Und sie haben das alles nicht. Als ich ihnen das gleich im Anfang sagte, ich hätte es so viel besser, als sie, da wurden sie innerlich still hörten zu. Seltsam: vormittags kamen Leute – nur, um sich für die Weihnachtsgaben zu bedanken, auch Pastorentöchter dabei. Da sah ich wieder, wie wenig sich die Menschen in unseren Beruf hineindenken können. Wenn ich um 5 Uhr die Christvesper habe, mich dann am Vormittag zu besuchen. Und um 1 Uhr hatte ich noch eine Beerdigung. Die fiel mir schwer am Heiligenabend. Ich wollte so gern, daß auch in diese dunkle Stunde um den Sarg herum das ewige Licht hereinginge. Es gibt der Welt einen neuen Schein. – O, möchte es scheinen, scheinen.
1. Weihnachtsfeiertag.
Gestern abend habe ich von ½ 8 Uhr an nur meiner Familie gehört. Innerlich allerdings, da durchzuckte es mich vor den brennenden Kerzen doch immer wieder: Morgen nachmittag mußt du predigen, von dem Wort sprechen, das Fleisch wurde. Heute vormittag habe ich nun fleißig und im Hochdruck gearbeitet – bis um 5 Uhr und dann gepredigt. Es hat mich gewundert, daß es heute nachmittag so voll war. Ich ginge am 1. Feiertag nachmittags nicht in die Kirche, wenn ich nicht müßte. Was mögen es für Leute sein, die da kommen? Einsame? Manches fremde Gesicht schien mir da unten zu sitzen. Auch manche ausgesprochene proletarische Gestalt zeigte sich, die ich sonst nicht gesehen habe. – Das Schönste war gestern übrigens mein Gang von der Herberge nach Haus. Ich ging langsam durch die Straßen meines Bezirkes und sah meine Gemeindeglieder unter dem Baum, grüßte still in die Fenster hinauf und bei manchen auch ernst. Da fühlte ich mich so eng mit meiner Gemeinde verwachsen.
Auch dieser Abend hat ganz meiner Familie gehört. Allerdings, um richtig Familienvater zu sein, dazu war ich doch zu müde.
Nun wünsche ich Dir den hellen Schein.
2. Feiertag.
Selbst heute war ich nicht ganz frei, denn es kamen Leute und meldeten zwei Beerdigungen an, auch wurde eine Trauung angemeldet, dann hatte ich eine Haustaufe, eine Weihnachtsfeier und schließlich erschienen noch zwei Sorgenkinder.
Ich bekam dieses Jahr wieder ein Grauen davor, wie oberflächlich und betriebsmäßig zu Weihnachten gefeiert, getanzt, gefußballt wird. Jedes Vereinchen muß „Weihnachtsvergnügen“ machen und einen Baum dabei anzünden. Der Baum aber gehört in die Kirche und ins Haus. Weihnachtsbäume als Reklame in Schaufenstern und als Schmuck zu Tanzvergnügen sollten geradezu verboten sein. Wunderes Dich, daß man im Kommunismus und Sozialismus gegen dieses bürgerliche Weihnachtsfeiern protestiert? Haben die Protestierenden nicht einen Funken Wahrheit? – Aber um so weniger dürfen wir es uns verdrießen lassen, bei den Feiern, zu denen wir gebeten werden, zu sprechen und auf die Tat Gottes hinzuweisen, die da in der heiligen Nacht geschehen. Oben sagte ich: gebt uns Pfarrern auch einmal stille Weihnachtstage und hier muß ich nun selbst sagen: Wir wollen das Wort von dem eigentlichen Weihnachten hineinrufen. Menschliche Kraft und die Aufgabe des Amtes geraten da schon wieder in Konflikt.
3. Feiertag.
Heute Beerdigung, morgen Trauung und Beerdigung, übermorgen zwei Trauungen und Taufen. Übrigens dieses letzte Paar – Mann und Frau sind Arzt – hat sich den Text ausgesucht: Was sichtbar, das ist zeitlich, was unsichtbar ist, das ist ewig. Schön, nicht? Da werde ich gern sprechen. „Nach dem Fest haben Sie ruhige Tage“, meinte neulich ein Bankbeamter. Ich merke nichts davon. Morgen habe ich mir für drei Stunden eine Stenotypistin bestellt. Solcher Wust von unaufgearbeiteter Post liegt da. So will ich nicht in das neue Jahr.
Heute war eine Mutter bei mir: sie und ihr Sohn dürften für das Mittagessen nicht mehr als 30 Pf. ausgeben. Sonst kämen sie im Monat nicht durch. Zwei erwachsene Menschen essen zusammen für 30 Pfennige!
Ein Studienrat beklagte sich, daß die Leute schon in der Kirche anfingen, ihr Urteil über die Predigt abzugeben, statt diese erst einmal in sich nachklingen zu lassen.
Ein Mann war heute hei mir, der sich über die in seiner Fabrik eingerichtete Fließarbeit beschwerte und sagte, daß seine physischen und psychischen Kräfte einfach nicht ausreichten, ob ich ihm nicht eine andere Stelle verschaffen könnte. Fließarbeit stellt tatsächlich die raffinierteste Ausnutzung der menschlichen Arbeitskraft dar. Der Mensch wird behandelt wie ein Stück Maschine. Daß er an dem einen Tag weniger leistungsfähig ist, als an dem andern, wird nicht in Betracht gezogen. Er muß sein Pensum schaffen, ob er an dem einen Tage vielleicht krank ist, ob er die ganze Nacht an dem Bett seines kranken Kindes gewacht hat, all das spielt keine Rolle. Er muß das Pensum schaffen. Die Fließarbeit holt alles aus dem Menschen heraus, was sich nur herausholen läßt. Frühe Abnutzung, frühes Alter sind die unausbleiblichen Folgen. Und der Mensch ist dabei zur Maschine geworden. Das Band ist der Herr, dem unbedingt gehorcht werden muß. – Der Metallarbeiter, der bei mir war, lehnte sich einfach innerlich gegen diese Vermechanisierung seines Lebens auf. Für mich steht da ganz deutlich gegenüber: Christus und die Arbeit.
Donnerstag.
Bei einer Taufe, die ich hatte, entdeckte ich im Schlafzimmer, wo ich mir den Talar anzog, zweimal 30 Flaschen = 60 Flaschen Bier. Es waren 6 Herren geladen. Kindertaufe nicht sub specie aeternitatis, sondern alcoholis. Ach, es wird mir überhaupt das Taufen manchmal so schwer. Man lädt dem Kindlein das Schwerste auf, das Kreuz. Mit der Taufe begraben in den Tod. Und manchmal, da muß ich mich doch sehr bemühen, um innerlich zu hören, daß Gott in der Taufe spricht. – Selten gelingt es mir auch, in meiner Taufansprache hinaufkommen über das „Ich glaube an Gott den Schöpfer“. Es liegt natürlich an den Hörern; denn wer denkt heute in der Christengemeinde überhaupt bei der Taufe an Gott? Man denkt an Geburt, Kaffee, Kuchen, Bier, ans Familienfest, das der Pfarrer verbrämen muß. Manchmal suche ich die Familienfeststimmung zu durchbrechen durch ein herbes Bibelwort, das ich den Fräcken und seidenen Kleidern zurufe. Mag’s ihnen, den Eltern oder Paten, ruhig ein Ärgernis sein, daß man so etwas bei der Taufe sagt.
Sylvester.
Gerade bin ich mit meiner Sylvester-Ansprache fertig und ehe ich sie lerne, ein Wort zu Dir. An sich scheinen diese Ansprachen leicht; natürlich sind sie es auch, weil eine bestimmte Empfänglichkeit der Gemeinde vorliegt. Aber um so größer ist doch die Gefahr für den Prediger, daß er die Gemeinde in ihrer Stimmung bestärkt, statt sie vor Gott selbst zu stellen. Es ist überhaupt die ständig immer neu zu überwindende Gefahr des Predigertums, daß wir eine schöne Predigt halten wollen, daß wir uns selbst mit Gott groß machen. In jeder Predigtvorbereitungssekunde stehen wir an diesem Abgrund. Wenn es irgendeinem gilt, dann uns Predigern: sterbet, daß Jesus lebe – wie Blumhardt erkannte und rief. Sterbet ihr Pfarrer, damit Er groß werde, so höre ich über uns Pfarrer rufen. Wenn die Menschen die Predigt „schön“ finden, so ist das für uns immer eine Warnungshupe: Paß auf, ob nicht der Teufel mit am Schreibtisch saß und mit auf der Kanzel stand. Wer braucht soviel Vergebung wie der Pfarrer?
Nun will ich die Predigt lernen.
Am 1. Januar.
Wie dieses Jahr für mich anfing? Um 6 Uhr gestern hatte ich Sylvesterfeier, die Kirche war ganz voll. Wie ich geahnt, war eine bewegliche Stimmung über den Menschen. Ein Studienrat sagte mir: „Sylvester ist mein liebster Kirchgehtag, da würde ich nie fehlen.“ Folgendes Gespräch vor der Sakristeitür hörte ich mit an: Er vielleicht 22, sie etwa 18; sie (schmeichelnd): „Komm doch bitte mit mir mit, bitte, bitte, bitte“; er: „Und wenn ich nie in die Kirche gehe, Sylvester gehe ich rein.“ Sie grollend, er bleibt dabei. Schließlich geht sie böse weg. Vom Weg aus ruft sie nochmal zurück: „Komm wenigstens hinterher zu uns.“ Es gehört viel dazu, gegen den Willen seines Schatzes in einen Gottesdienst zu gehen – wenn man sonst nie hineingeht. – Ich las statt der Liturgie nur Schriftstellen vor. Zwischendurch sang die Gemeinde viele Verse, hinterher war stilles Abendmahl. Nach dem Abendbrot mußte ich mich an meine Neujahrspredigt setzen, denn heute um 10 Uhr hatte ich ja wieder zu predigen. Gestern abend um 6 Uhr – heute um 10 Uhr. Es ist doch eigentlich ein Wahnsinn. Wir dürfen uns über das Phrasenmachen der Pfarrer nicht mehr erregen und es auch nicht mehr ironisieren. Man zwingt sie ja dazu. Denn wie viele Jahre hält man solche Arbeitsart aus, wie ich jetzt? Der Geist mag willig sein, aber das Fleisch ist doch zu schwach. Ich habe in diesen Tagen richtig Mitleid mit phrasenreichen Pfarrern. Das Schlimme ist natürlich, daß die offizielle Kirche das Überangebot an Predigten nicht abstellt.
Sollte nicht der Evangelische Oberkirchenrat es einfach verbieten, daß ein und derselbe Pfarrer Sylvester, Neujahr und am 2. Januar predigt, wie Du es tun mußt? Man macht ja da aus dem Wort absichtlich Worte, ein Geschwätz – und bloß weil der gregorianische Kalender so läuft. Wenn es einen Pfarrer treibt, drei Tage hintereinander zu predigen, dann muß er es natürlich tun. Aber sonst ist es Erziehung zum Geschwätz. – Also ich setzte mich gestern abend nach 8 Uhr hin. Familie? Fällt für den Pfarrer aus. Um ½ 2 Uhr war ich mit brennendem Kopf und mit brennenden Augen mit dem Entwurf fertig. Es wurde nur Entwurf, denn richtig ausarbeiten und aufschreiben konnte ich nicht in den 5 ½ Stunden. Nach schlechtem Schlaf bin ich um 7 Uhr aufgestanden, habe die Predigt nach dem Entwurf mir ein paarmal aufgesagt und dann um 10 Uhr sozusagen frei gesprochen. Denk mal, es gab eine ganze Reihe Leute, die gestern abend und heute früh da waren. Es kommt aber nicht viel dabei heraus, wenn man ganze Predigten frei spricht. Sie sind nicht so erkämpft, nicht so abgerungen, wie die, bei denen man jedes Wort überlegt. – Um 12 Uhr läutete die Glocke unserer Kirche. Ich stand ein paar Augenblicke still am Fenster und dachte der Gemeinde, der alten und der künftigen und dachte aller Menschen. Schlimmerweise hatte ich heute noch Trauungen und Taufen: ich war so ab, daß ich beim Sprechen naß wurde wie ein Pudel, der ins Wasser geworfen, und mußte hinterher noch ein paar Besuche machen.
2. Januar.
Heute früh sehnte ich mich richtig nach Stille. Ich schwankte den ganzen Tag zwischen Nervosität und Mattigkeit. Aber beides darf ja nicht sein. Der Kopf ist wie ein Motor. Also heute früh waren trotz des Sonntags drei Menschen in der Sprechstunde und dazu drei Beerdigungsanmeldungen. Um ½ 1 Uhr ging der letzte. Um ½ 2 Uhr hatte ich eine Taufe. Als dann schon in der Sakristei Mitglieder des Gemeindekirchenrates warteten, um mit mir zu reden, mußte ich mich ordentlich zusammennehmen, um noch höflich zu sein.
3. Januar.
Heute drei Beerdigungen: um ½ 2, um 2, um 3 Uhr. Der normale Erdenbürger ist von einer Beerdigung innerlich aufgewühlt. Der Pfarrer jagt von einer zur anderen. Rein äußerlich: sich ein Bild dieser drei Menschen machen, die man alle drei nicht gekannt hat (!) und über sie sprechen. Und dann das Andere, Tiefere. Dreimal hintereinander ein Vaterunser beten. Dreimal von Gott sprechen, von dem Gott, der Auferstehung über alle Toten ruft, so sprechen, daß es gehört wird, so sprechen, daß ein Auferstehungsfunke in die Herzen fällt. Und wenn er gar nicht fällt, was hat dann die ganze kirchliche Feier für Sinn? – Wenn ich mir nicht alle drei Ansprachen genau ausgearbeitet hätte, wäre es ein wirres Zeug geworden.
Als ich hohl und leer und abgekämpft nach Hause kam, wurde ich schon zu einer Tuberkulosekranken geholt, sie wird bald sterben, aber sie ist tapfer und klar.
Dann war ich am Nachmittag noch bei einer ganz verwahrlosten Familie. Alles verwahrlost – innerlich und äußerlich. Der Mann natürlich arbeitslos am Ofen stehend. Oh, diese arbeitslosen Ofensteher. Die ganze Sinnlosigkeit einer Erdenwanderung packt mich da. Was soll man in dem Fall sagen? Der normale Bürgersmann würde von Aufraffen, von Willen, von Hocharbeiten usw. reden. Aber sie haben ja noch nie gestanden. Drum gibt es hier auch kein Fallen. Sie standen ja nie. Keiner von der ganzen Stube. Heute abend arbeitete ich. Da kam um 10 Uhr Dr. U., das Kirchenratsmitglied, noch und fragte die Hausgehilfin: „Was, arbeitet Herr Pastor noch?“ Und er kennt doch die Pfarrerarbeit. Aber eine wirkliche Vorstellung hat doch niemand. Als er um ¾ 11 wegging, da ging’s bei mir erst noch richtig los, denn Sonntag habe ich ja Abschiedspredigt.
4. Januar.
Weißt Du, was gut wäre? Man machte die ganze Kirche zu und sagte: wer zur Kirche gehören will, gebe eine Erklärung ab. Ich war nämlich heute früh bei Gliedern der Kirche, d. h. getauften und kirchensteuerzahlenden, die seit ihrer Konfirmation nicht im Gottesdienst waren – mit einer Unterbrechung: Trauung. Und nun melden sie natürlich ihr Kind zur Taufe an. Gerade heute früh hatte mir Fräulein R. folgenden Brief geschickt, den ihr ein junger Pfarrer aus dem Thüringischen schrieb:
„Die größte Last aber ist die Erfahrung mit der Kirche, und mit dieser hängt alles andere zusammen, auch das, was ich persönlich erlebte. Z. Z. bin ich völlig ratlos dem Ganzen gegenüber und sehe nicht, wo es hinausführt, weil es dunkel ist, was ich tun soll. Es ist eine große Verwahrlosung in der Kirche, so groß, daß die Menschen alle krank erscheinen, die drinnen und die draußen. – Und sie sind ja auch krank, aber es ist kein Arzt da. Jede Predigt macht mich hilfloser. es hört keiner, weil ich nichts sagen kann. Dabei bilde ich mir noch immer ein, es besser als die anderen zu machen, eine ‚richtigere‘ Theologie zu haben. Es ist in auch das so. Aber es ist ein Privatvergnügen der Theologen, der überflüssigsten Menschen, die es heute gibt, gemessen an ihrer Tätigkeit. ‚Überflüssig‘ ist ja noch kein Urteil; aber überflüssig aus Mangel an Ernst und Sinn für das Wirkliche! Ich würde heute dem, was Herr Pfarrer … (der Vf. des Tagebuches), damals in seinem Blatte schrieb, etwas anders gegenüberstehen. Es lag doch jedenfalls die Erkenntnis in seinen Feststellungen, daß die Verkündigung dort hineingreifen soll, wo das Leben sich heute abspielt: in die ‚Wirtschaft‘. Freilich, nur ‚aufdeckend‘ wie es im Hebräerbrief 4,13 heißt, an den Tag bringend die Ungerechtigkeit, die sich dann von selbst richten wird. Aber wer hat heute die Kraft dazu, wer darf das? Denn im Grunde liegt hinter dem, was die Pfarrer heute tun, immerhin ein Eingeständnis ihres Unvermögens, etwas anderes tun zu können, während wir, die ‚Gnostiker‘ vielleicht auch besser nichts anderes unternähmen, da ein ganzer Einsatz, der der Erkenntnis entspricht, doch fehlt. ‚Wir‘, ich meine mich und ähnliche Pfarrer. Doch es sträubt sich alles dagegen, und ein Rest von Glauben an das Wort, an die Verheißung, die ihm gegeben ist, hält wohl auch zurück. Was alles geschieht, und getan wird in der Kirche, wissen Sie ja ebenso aus Westfalen. Nur eins: ‚Bei den einfachen Leuten kann man mit dem Wort nichts anfangen; da ist’s besser, ihnen im Film Bilder vorzuführen‘, sagte gestern ein Pfarrer zur Begründung seines ‚Familienabends‘ in seinem Dorf. Dies Beispiel kann alles erhellen, auch vielleicht trägt es mir Entschuldigung ein für meine doppelt scharfe Opposition, die ich so gern ablegte, aber es nicht kann. Die Kirche ist nicht mehr, als ein Geschäftshaus, wo man mit billigen Waren die Kunden fangen will. Und das nennt man – Liebesdienst. Doch ich will jetzt davon aufhören. Denken Sie bitte nicht, daß ich zu ungeduldig oder zu befangen bin. Ich bin sicher beides, ungeduldig und befangen. Aber gibt es nicht eine Grenze für die Geduld und muß man nicht – das frage ich jetzt – auch öffentlich solche Dinge beim Namen nennen? Doch auch das ist keine Frage; man wird es tun, wenn es Zeit ist. Nehmen Sie das Ganze als einen Bericht meines Ergehens“
Als ich diesen Brief gelesen hatte, hatte ich doch eine große Freude darüber, daß es heute solche Pfarrer zu geben beginnt. Ein neues Theologengeschlecht bricht an. Menschen kommen, denen Gottes Gericht an der Kirche, in der sie arbeiten und die sie lieben, unmittelbar lebendig ist. Solch Mann, wie der Briefschreiber, hat einen schweren Weg. Aber ist es nicht symptomatisch für das vergangene Jahrhundert und für viele alte und viele mittelalterliche und auch für viele junge Pfarrer, daß sie in den Pfarrberuf hineinrutschen, wie in jeden weltlichen Beruf? Wenn ich aber solch einen Brief lese, dann bin ich dankbar und voll großer Hoffnung. Ich hoffe eine neue Kirche …
Eine merkwürdige Sache passierte heute bei der Beerdigung. Stumm fuhren Mutter und Tochter des Verstorbenen mit mir zur Beerdigung. Plötzlich sagt die Mutter zur Tochter: „Siehst Du, Papa ist doch nicht gern gestorben.“ Auf mein erstauntes Gesicht antwortete sie mir: „Es regnet doch draußen.“ Ein mir bis dahin unbekannter Aberglaube: wenn es bei der Beerdigung regnet, dann ist der Tote nicht gern gestorben. Der Verstorbene war Logenmitglied, sehr beliebt und sehr – liberal.
Mittwoch.
In der Art unseres Gebens müssen wir doch immer denkbar vorsichtig sein. Ich bekam heute einen Beschwerdebries über einen Verein unserer Gemeinde, zu dem ich allerdings keine Beziehung habe; es heißt darin: „es gibt superchristliche Leute, die von Unsereins verlangen, daß man die Spende zu einer bestimmten Zeit und zwei Treppen hoch sich abholen soll. Solche Taktlosigkeit löst Arger, aber nicht Freude aus. Andere, die sich nicht christlich nennen, muten mir, der 72jährigen nicht zu, ihre jahrelang gewährte Altershilfe abholen zu müssen.“ Hier trifft man das Gegenteil von dem an, was ich Dir neulich schrieb: Überempfindlichkeit beim Annehmen von Spenden. Aber man lernt aus solchen Fällen immer wieder. Und empfindet immer wieder, daß es etwas Menschen-Unwürdiges ist, von den Gaben anderer leben zu müssen – sofern diese nicht gegeben werden, wie sie Kinder ihren alten Eltern geben und Brüder ihren Schwestern. Würden die „superchristlichen Leute“ auch ihre alten Eltern auffordern, sich die Sachen abzuholen? Auch alle Weihnachtsbescherungen mit Pastoren-Ansprache, mit reichgekleideten Wohltätigkeitsdamen hier und den Bedürftigen dort sind immer nur für den Pastor und die Wohltätigkeitsdamen ,,schön“, für den Empfänger qualvoll, weil ihre Bedürftigkeit ihnen dabei grell zum Bewußtsein kommt. Heute lange Sprechstunde, viel (8!) Besuche gemacht, Trauung und Kirchenratssitzung, die relativ kampflos verlief – meine letzte in der Gemeinde. Hinterher setzte ich mich dann an meine Predigt, meine Abschiedspredigt. Heute bekam ich den anliegenden Brief. So ganz anders, als der gestrige und doch auch so fein. Ein Prozent Kirchgänger ist „Aufschwung“!! Ob es immer noch Leute gibt, die glauben, es wäre mit unserer Verkündigung und unserem Bekenntnis alles in Ordnung?
Nun Schluß für heute.
Der anliegende Brief lautet:
Gern nehme ich die Gelegenheit wahr, um Ihnen für so manches aus Ihren Predigten, dem … Kreis und dem Blatt zu danken. Vieles geht still mit mir und wirkt sich in der Arbeit an der eigenen Gemeinde aus. Ich habe hier eine Kirche mit ca. 1100 Seelen in 3 Dörfern, 2 Gutsbezirken und einem Forstbezirk. Die großen Entfernungen bringen es, zusammen mit außerordentlich schlechten Wegeverhältnissen mit sich, daß nur langsam die persönliche Fühlung mit der Gemeinde durch Hausbesuche gewonnen wird. Die Verhältnisse hier waren und sind noch außerordentlich trübe – es ist auch viel an den Leuten gefehlt worden. Dann kam die Revolution und hat die Leute völlig der Kirche entfremdet; als ein „Aufschwung kirchlichen Lebens“ erscheint es den Kirchenältesten, daß wir schon an gewöhnlichen Sonntagen einen Besuch von 1 % (!) im Durchschnitt (ca. 4 Männer und 7 Frauen) haben. Die Festsonntage, besonders Totenfest, zeigten allerdings einen Besuch von 15 %, und man merkt den Leuten dann das Staunen an, wenn man das bloße Evangelium verkündigt. Aber es scheint doch ein Bann über den Leuten zu liegen. daß sie gleichsam den Spott der andern fürchten. So erlebte ich das Seltsame an einer Abendmahlsfeier am Abend des Totensonntags, daß nur 35 Mann sich anmeldeten, aber 95 erschienen waren. „Sie wollten nicht von den andern gesehen werden und seien nachher selbst erstaunt gewesen, so manchen zu treffen, vor dessen Spott sie sich gefürchtet hätten,“ erklärte mir ein Ortskundiger. – Furchtbar sind teilweise die sozialen Verhältnisse, besonders bei den Arbeitern auf den größeren Gütern; erst heute war ich bei einem kranken Arbeiter, der mit Frau und 3 Kindern nur ein Bett und 2 Lumpenhaufen hatte. Vielfach sind in solchen Familien ein oder auch mehrere Kinder zu besser gestellten Verwandten in die Stadt gegeben. Eine soziale Fürsorge von der Gemeinde aus gibt es kaum. Unterstützungen werden kaum gewährt, wenn die Gemeinde mit zu den Lasten beitragen muß; älteren Leuten kann z. B. das Zuzugsrecht verwehrt werden, wenn die Möglichkeit besteht, daß sie einst der Gemeinde zur Last fallen. Die Arbeiter bei der – – – (Industrie) A. G. sind in weit besserer Lage. Sie treiben fast alle nebenher Landwirtschaft bis zu 20 Morgen. Aber geradezu bewundern muß man die Arbeitsleistung, die dahinter steht. Um 4 Uhr müssen sie fort zur Hütte, und um 7 kommen sie zurück und dann ging’s in der Ernte noch aufs Feld. Wer ein Rad hat, spart am Arbeitsweg hin und zurück je eine Stunde. Trotz dieser ganz immensen Arbeitsleistung scheint es mir, als ob gerade diese Verbindung von Landbesitz mit eigenem Haus, Hof, Vieh und Bergarbeit die soziale Frage in der Praxis besser gelöst habe, als manche Theorie. Aber zu dieser Lösung gehört ein hartes Geschlecht, und die Jugend ist es auch hier nicht mehr; die wandert ab in die großen Städte, wo sie bessere Arbeitsbedingungen hat, aber meist tiefer ins Proletariat hinabsinkt.
Ein Gutes ist hier für mich, daß ich mich von allem Anfang an von der Politik ferngehalten habe, denn die politischen Kämpfe zwischen Stahlhelm und Rot sind hier sehr erbittert gewesen, verstärkt noch dadurch, daß jeder des anderen Verhältnisse genau kennt. So habe ich denn auch Zutritt bei den Linksorientierten und eigentlich gerade bei denen. Ganz unaufgefordert erklärte man mir hier, sie seien keine Kommunisten (sie wählen aber doch so), denn sie seien nicht aus der Kirche ausgetreten. Tatsächlich ist hier nur ein einziger aus der Kirche ausgetreten, als er anderwärts in Arbeit war, hat aber hier, damit’s niemand erführe, ruhig seine Kirchensteuer gezahlt; denn auch über die Steuerverhältnisse weiß hier jedermann Bescheid vom andern. Man steht vor einem völligen Rätsel, wenn man demgegenüber die vollständige Kirchengleichgültigkeit sieht, – das sind nur ein paar Schlaglichter; man steht in einer ganz fremden Welt und die Rätsel werden eigentlich immer mehr.
Donnerstag.
Heute hatte ich die letzte Konfirmandenstunde mit den Mädels. Wie anders ist der Abschied gewesen, als er es dicht vor der Konfirmation zu sein pflegt. Solch Auseinanderreißen acht Wochen vor der Konfirmation ist eigentlich nicht zu verantworten. Das Tiefste, das ich zu sagen habe, haben sie noch nicht gehört, und mein Nachfolger muß sich erst an die Kinder gewöhnen und die Kinder an ihn. Ebenso wird es mir in der neuen Gemeinde gehen. Selbst der doch ganz weltliche Bankherr A. war über dieses Auseinanderreißen durch die Kirchenbehörde ganz empört und aufgeregt.
Heute hatte ich noch mal eine Beerdigung. Hinterher traf ich den feinen Herrn V., Typus des wirklich gebildeten Industriellen. Er ging spazieren und ich dachte, diese klare Winterluft dürfte meiner Abschiedspredigt wirklich nicht schaden und begleitete ihn. Wir kamen gleich ins soziale Gespräch, wo er sich immer soviel von mir sagen läßt. Als ich ihm von der allgemeinen Stimmung der Arbeitnehmer gegen die Arbeitgeber berichtete, sagte er (selbst er!): „Die sind eben verhetzt.“ Das Schicksal wollte es, daß uns gerade in diesem Augenblick eine ganze Menge Arbeiter entgegenkam. Ich sagte: „Sehen Sie einmal die Gesichter an.“ Er schwieg. Dann fragte ich: „Meinen Sie, daß die verbitterten Gesichtszüge alle von der Verhetzung kommen? Dann müßten ja die Gesichter der Bürgerlichen ebenso aussehen. Denn wie verhetzt wurde und wird das Bürgertum in seinen politischen Zeitungen und in seinen Gesprächen. Allein die Hetze gegen Ebert und die gesamte S.P.D., gegen die Republik und den neuen Staat. Warum schlägt sich diese Verhetzung nicht so beherrschend auf den Gesichtern nieder?“ Da sagte er ganz von sich aus, ganz ruhig und bestimmt, wie das so seine Art ist: „Sie haben schon recht, diese Gesichter kommen von der Not. Wenn man so um sein tägliches Brot sich sorgen muß, jahraus, jahrein – der Existenzkampf ist eben für die Leute zu schwer.“ Es war so fein, daß er das sagte. Ich sagte da nichts mehr und wir gingen ziemlich still nach Hause.
Spät Nachmittag und Abend konnte ich dann ruhig an meiner Abschiedspredigt arbeiten. Ich nahm als Text Lukas … Ich kann eben auch bei der Abschiedspredigt keinen sanften, friedvollen Text nehmen sondern nur einen, der schon als solcher anstößt.
Freitag.
Es ist spät. Und der Kopf brennt noch von der Sitzung. Ich sprach zu scharf, obwohl ich es gar nicht gewollt hatte. Aber man bekam nur 5 Minuten Redezeit. – Aber nicht nur davon brennt der Kopf, sondern von den beiden Fragen, die sonderbarerweise beide heute an mich gestellt wurden.
1. Frage: Er Anfang der Dreißiger, sie ebenso. Er ist gelernter Arbeiter, hat drei Kinder und schlägt sich tapfer durch. Aber mehr Kinder – das könnte er nicht verantworten, um seiner Frau und seiner Kinder willen nicht. Nie könnte er vier Kinder ernähren. Aber beide Eltern sind kräftig und vollblütig. „Können Sie es mir verdenken, wenn ich Präventiv-Mittel anwende?“
2. Frage: Er Oberinspektor. Ganz trockener Geselle, der in seinem Dienst aufgeht und nur Akten und Akten sieht. Sie, Mitte der Dreißiger, lebenshungrig und leidenschaftlich. Er brachte mich die Treppe herunter. Beim Aufschließen fragte ich ihn: „Sie beide waren ja heute so kratzbürstig zueinander?“ Er gibt sich einen Ruck und sagt: „Ich begleite Sie noch ein Stück.“ Dann bricht die geheime Qual dieses Mannes heraus, ohne daß ich eine Frage tun muß. Er sei ganz kalt im Geschlechtlichen, sie ganz das Gegenteil. Kinder dürften nicht mehr kommen. Nun verlangt sie, daß er unter Anwendung von Mitteln mit ihr verkehrt. Und er mag das nicht. Die Ehe droht auseinanderzubrechen. – Von der Höhe einer katholisch festgelegten Moral aus ist es leicht, hier zu raten. Aber haben wir das Wort, das das Geschlechtsleben heiligend durchdringt?
Siehst Du, da liegt eine unheimliche Eiterbeule unseres Berufes: Von allem Gleichgültigen reden die Menschen mit dem Pfarrer, aber über das, was sie quälend umtreibt, sprechen sie kein Wort zu ihm. Da laufen sie zum Arzt und mehr noch zum Kurpfuscher. An diesem Punkte ist der Pfarrer ausgeschaltet. Wie selten werden wir darin gefragt. Und in den beiden Fällen heute ist es auch mehr Zufall. Und es ist richtig, daß wir heute noch nicht gefragt werden. Wir haben keine Antwort. Wir haben im Bestfalle moralische Verhaltungsmaßregeln. Alles Modische aber wird und ist Gesetz und daher wirkungslos, nicht heilend und nicht heiligend. Das ganze Leben, gerade das täglich-natürliche soll doch dem Willen des Schöpfers gehorchen. Gerade das aber ist durchzogen von Dämonischem, Entartetem, Verkrampftem, Vergiftetem. Das Geschlechtsleben ist Schöpfung und doch ist – wo wir hinsehen – allenthalben nur gefallene Schöpfung.
Wenn wir Pfarrer nun gefragt werden, dann dürfen wir doch nicht antworten aus dem Gesetzbuch und der bürgerlichen Moral heraus, sondern müssen antworten aus – ja, kann man es anders ausdrücken – aus dem Geiste des Evangeliums.
Ich habe heute abend das Gefühl, daß ich sehr allgemein geantwortet habe, von Geist und Leib als Einheit geredet habe, von der Verantwortung gegenüber dem Leib – vom Haben, als hatte man nicht – von der Entscheidung, die die beiden Paare zusammen vor Gott treffen möchten. Aber ich habe jedenfalls kein moralisches Gesetz hingestellt.
O wie verantwortungsvoll unser Reden in solchen Stunden.
Sonnabend.
Abschiedspredigt. Fertig ist sie eben geworden. – 11 Uhr. Nun will sie noch gelernt werden. Ich hatte heute noch zwei Trauungen, zwei ganz entgegengesetzte.
Sonntag.
Die letzte Predigt. Sie war nicht freundlich und nicht tröstlich und gar nicht persönlich, sondern anstoßend, für viele sicher anstößig. Ob wohl oft über diesen Text gepredigt wird? Höchst charakteristischerweise nimmt die Perikope nur das Sanfte, Freundliche und läßt das Ernste, Schroffe derselben Rede fort. Der Mensch, auch der höchst menschliche Perikopenauswähler, will sich eben immer mit Gott das Leben verschönen und verlieblichen. Aber in Wirklichkeit wird unter Gottes Augen das Leben bitter ernst. Und die Bibel sieht das Leben nur unter diesen Augen.
Also Abschiedstag. Es saßen da unten viele, mit denen ich noch nie ein Wort gewechselt. Aber dessen bedarf es im Grunde auch nicht. Es bedarf nur, daß sie und ich uns unter Gottes Augen stellen. Dann ist Gemeinschaft.
Nach meiner Predigt sprach ein Kirchenrats-Mitglied als Vertreter der Gemeinde – so sachlich und so verständnisvoll und so ernst, wie ich es mir nicht schöner wünschen konnte. Nach dem Gottesdienst war noch Abendmahl. Dann hatte ich die Gemeindekirchenräte in meine Wohnung eingeladen, damit die oft so feindlichen Brüder mal nebeneinander sitzen und – essen und den persönlichen Weg zueinander nicht vergessen. Es ist ja so, daß die Mitglieder des Gemeindekirchenrates von der einen Partei mit allen möglichen christentumsfernen Menschen freundlich und gesellschaftlich verkehren, aber mit den Gliedern des Kirchenrates von der anderen Partei den Umgang meiden, obwohl sie ihnen doch tausendmal näher stehen sollten. Das Zusammensein verlief denn auch völlig harmonisch.
Am Nachmittag mußte ich dann schleunigst den Abschiedsartikel für mein Gemeinde-Blatt verfassen. Im Hochdruck! Zwischendurch war noch einer da und erzählte, es wäre schade, daß ich wegginge, man habe sich oft bei Tees und Abendgesellschaften über meine Predigten die Köpfe heiß gestritten. Schade, daß man solche Auseinandersetzungen nicht erfährt. Man würde doch daraus lernen. Du kannst Dir denken, daß ich mich an diesem Tage immer frage, woher so etwas nur kommt, und was das zu bedeuten hat, daß zwei Sexualfragen an einem Tag an mich kommen und sonst monatelang nicht. Psychologisch könnte ich es mir ja noch erklären: weil einem die erste Frage noch in Gemüt und Gliedern liegt, ahnt instinktiv der zweite Fragende eine gewisse Empfänglichkeit im Pfarrer gerade für diese Frage. Aber das ist ja nur die psychologische Seite. Die Hauptsache ist doch: was es zu bedeuten hat, daß zwei gleiche Dinge am selben Tage an den Pfarrer herantreten? Es ist doch Stimme, die zur Aufmerksamkeit ruft. „Duplizität der Fälle“ ist nur medizinische Feststellung des Tatbestandes. Aber die metaphysische Gesetzmäßigkeit, oder besser noch: die metaphysische Aufforderung, die darin liegt, zu ergründen – da versagt der Menschenverstand.
Nachdem der Abschiedsartikel fertig geschrieben und die übrigen Artikel druckfertig gemacht waren, ging ich noch einmal durch die Straßen meiner Gemeinde und nahm Abschied. Aber ein solcher Gang ist ja nicht nur Abschiednehmen.
War es etwa Zufall, daß ich gerade in dieser Nacht Franz T. traf, Jungsozialist, der zu meinem besonderen Schmerz gerade kurz vorher aus der Kirche ausgetreten war, obwohl er mich in seinem Kreise einen Vortrag über das Christentum hat halten lassen. Ebenso: trotz meiner guten, langjährigen Freundschaft zu dem sozialistischen Arbeiterpaar H., mit denen beiden ich mich du nenne, wo ich getauft habe und meine Frau Pate ist – zu mir in den Gottesdienst gekommen sind sie nie. So fern ist die Kirche dem Proletariat, eben eine bürgerliche Institution, mit der sie eine Berührung sich gar nicht vorstellen können. Mit dem einzelnen Pfarrer – ja da geht es noch, aber mit der Kirche? Ganz umkehren muß die Kirche, ganz neu beginnen muß die Christenheit, auferstehen muß unsere Verkündigung. Die Wege weiß ich nicht. Aber Metanoia, Buße als Kirchenglied, das war mein Abschiedsgang durch die Gemeinde.
Wenn mich etwas ein klein wenig zum Abschied tröstet, dann ist es dies, daß H.s wenigstens aufmerksamst mein Blatt gelesen haben. Gerade heute traf ich übrigens den sozialistischen Pfarrer X. aus E. Dieser bestätigte die alte Erfahrung, daß die Sozialisten nicht zu ihm in die Kirche kämen. Sie fühlten sich in der Kirche zu fremd, könnten sich innerlich und äußerlich nicht hineinfühlen. Sie sind eben so sehr auf die Masse eingestellt, denken und empfinden aus der Masse heraus, daß sie als einzelne Individuen keine Schritte tun. Ginge die Masse der Sozialisten in die Kirche, geschlossen, in gleichem Schritt und Tritt, dann wäre der einzelne auch durchaus dabei. Er sagte, daß er im Gewerkschaftshaus die freundschaftlichsten Beziehungen zu den einzelnen hätte, und daß sie dort auch auf ihn hörten. Nur einen Erfolg hat seine Stellung: die Presse stellt sich freundlicher zur Kirche und nimmt sogar verhältnismäßig objektiv Artikel von ihm auf.
Ob nicht in dieser Sachlage eine Kritik an der individualistischen Frömmigkeit des Kirchenchristentums verborgen liegt? Ich habe schon oft gewünscht, daß wenigstens einer der hiesigen Pfarrer ,,eingeschriebener Sozialist“ wäre, und habe schon manches Mal bedauert, daß ich es nicht sein kann. Aber daß der Erfolg so gering sein würde, habe ich allerdings nicht gedacht.
Sonnabend.
Über die letzte Woche gebe ich Dir summarisch Bericht.
Montag war Konfirmandeneltern-Versammlung. Ich sage dabei den Eltern genau, wie und was ich unterrichte. Und eine Reihe sagt mir dann jedesmal hinterher: wie anders es zu ihrer Zeit war, wieviel schöner es jetzt sein müsse. Genau so wird es den jetzigen Konfirmanden auch gehen. Wenn ihre Kinder dran sind, dann werden sie staunen: wie anders es zu ihrer Zeit war und wieviel schöner jetzt. Nach einer solchen Versammlung denke ich immer: Konfirmandenunterricht für die Eltern ist mindestens so wichtig, wie Unterricht für die Kinder.
Es standen heute wieder soviel Entlassungen in der Zeitung. Verschiedene Betriebe haben Dutzende von Menschen zu Arbeitslosen machen müssen. Hoffentlich, hoffentlich sieht der Unternehmer an solchem Tag all’ die bekümmerten Frauengesichter und die sorgend-fragenden Kindergesichter vor sich. Hoffentlich legt es sich ihm in der Nacht wie eine unheimliche Last auf die Seele.
Ich habe noch viel, viel Abschiedsbesuche gemacht. Ein Kollege sagte: predigen sei ihm größte Lebensfreude. Ich könnte das so nicht sagen. Ich konnte immer nur sagen: predigen ist mir größte Lebenspein und größte Lebensfreude. – Einmal stieß ich, als ich den nicht antraf, den ich besuchen wollte, in seinem Nachbar auf einen klugen, gebildeten Arbeiter, der mir freundlich aufmachte und mir freundlich Bescheid sagte. Als ich ihm den Titel „Pastor“ sagte, schlug der ganze Mann um. Er wurde kalt, verschloß sich ganz, hielt den Haß nur mühsam zurück. Geradezu wie eine Lohe von Haß schlug es mir entgegen. Ich konnte nur weniges noch mit ihm reden, fragte ihn etwas nach seinem Leben und Tun und Gesundheit (es war nicht in unserer Gemeinde), aber er blieb der Eisig-ablehnende. Viel feine Gespräche waren es noch in dieser Woche. Am besten hat mir doch wieder K. gefallen, der sagte: „Werden Sie nur in Ihrer neuen Stellung kein Salonpastor; das ist die Gefahr aller Prediger in Ihrer Stellung dort.“ Was das bedeutet aus dem Munde eines Großindustriellen. – Am Freitag ließ er mich auf seinen Werken herumfahren. Ich sah Fabriken und Gruben usw. Ich tauchte so den ganzen Tag unter in eine mir fremde Welt. Das sollten wir Pfarrer öfters tun. Wir würden dann merken, wie fern unsere Predigt dem Leben ist, wie stark unsere Hörer sich umstellen müssen. Nicht daß unsere Predigt deshalb anders werden sollte, sich nach den Hörern richten sollte, aber wir dürfen die Spannung zwischen Predigt und Maschine nicht übersehen, zwischen Prediger und Hörern. Ich habe viel gelernt an diesem Tag. Ich möchte wohl wissen, wie Du meine Predigten beurteilen würdest, wenn Du den ganzen Tag einen Kran bedient und so 11 Stunden Lärm um Dich gehabt hättest, oder wenn Du von 6 Uhr morgens bis 3 Uhr nachmittags unter Tag im Kohlenstaub gestanden hättest.
Mein Abschiedsartikel: Die Verkündigung von Gott muß ins Leben hineingreifen, dorthin, wo sich das Leben abspielt, ist mir nun noch ganz anders wirklich und plastisch geworden. Ich wäre heute dafür, daß jeder Pfarrer einmal im Vierteljahr untertaucht in einen industriellen Betrieb. Aber eins muß ich Dir auch noch gestehen: ich habe selten so stark gefühlt, – wie Gott in diese Welt einbrechen will, wie Er wartet, daß diese Maschinenwelt sich ihm öffne. Es war mir ordentlich wie ein Druck von oben, gegen den der ungeheure Atmosphärendruck in den Pressen ein Hauch war. Meine beiden Gruppen konfirmierter Mädchen und meine Arbeitsgemeinschaft hatte ich auch noch einmal zu einem Abend versammelt. Du siehst, es war eine menschenreiche Woche. Und oft versagte die Fähigkeit, so in die Tiefe zu gehen, wie die Abschiednehmenden es erwarteten. Ich habe zur Zeit geradezu eine Abneigung gegen Tiefengespräche. Kannst Du das verstehen? Viele Menschen schreiben Abschiedsbriefe. Ich kann ihnen nicht antworten. Banales Zeug zu schreiben, dazu habe ich weder Lust, noch wäre es richtig. Und ernst zu schreiben – dagegen wehrt sich alles in mir. Ich bin zu angespannt durch Menschen und Schicksale und – – durch inneres Erleben. Es ging mir nämlich sonderbar in diesen Abschiedstagen. Ich sah sozusagen über die Menschen, von denen ich Abschied nahm, hinüber, sah sogar über die Stadt hinweg. Mein Blick ging in die Zukunft – in die zukünftige Gemeinde und in die neue Stadt, aber stärker noch in die Zukunft der neuen Kirche, der lebendigen Kirche, welche der Welt ganz bestimmt von Gott geschenkt werden wird. Und noch über diese lebendige Kirche hinaus sah ich in die Zukunft dessen, der da kommt. Es packte mich richtig eine Sehnsucht nach dem Kommenden, nach dem Reiche Gottes, nach der neuen Erde. Ich empfand, als ich gleichsam zwischen zwei irdischen Städten stand, sehr stark, wie wir zwischen den Zeiten stehn, zwischen der Erdenzeit und der Ewigkeit, zwischen der Menschenzeit und der Gotteszeit. Hier ist alles voll trüber Vergänglichkeit – dort ist alles voll leuchtender Ewigkeit. Jetzt ist auf der Erde alles geplagt mit Leid und Versagen und Schmerzen – im Reiche Gottes werden Tränen, Leid, Geschrei aufhören. Am stärksten empfand ich es vorgestern nacht: In der Stille der Nacht sah ich noch einmal vom Berge herab über die Häuser meiner Gemeinde. Alles war dunkel und schlafend. Das wurde mir zum Bild: dunkel die Welt und lichtarm die Kirche. Da sehnte ich in die große Dunkelheit Licht herein, Licht von oben her, Lichtstrahlen aus dem Reich, das kommt. Ja, ich muß gestehen: die Verheißung, daß dieses Reich kommt, war mir in der stillen Nacht schon wie ein Strahl, der aufleuchtete über alles Dunkel.
Dies ist mein letzter Brief aus der und über die … Gemeinde, die wir beide so lieben.
Dein Freund.