Wüste – Ort der Gegenwart Gottes
Von Gisbert Greshake
Wenn in der Heiligen Schrift von Wüste die Rede ist, so meint dies ursprünglich nicht die „Sandwüste“, vielmehr besagt der entsprechende hebräische Ausdruck soviel wie „Verlassen-Sein“, Einsamkeit, Öde. Wüste ist der Ort, wo der Mensch nicht in menschlicher Gemeinschaft geborgen, sondern dem Unbewältigten der Natur und vielen Gefahren ausgesetzt ist. Darum vermutete der alttestamentliche Mensch auch, daß die Wüste bevölkert sei von Dämonen und erschreckenden, schädlichen Wüstengeistern.
Wüste ist der Raum, wo der Mensch auf seine eigene Winzigkeit und Ohnmacht verwiesen wird. Sie ist der Ort des Bösen und des Todes. Bis heute noch ist die geologische Wüste ein solcher Ort. Überall findet man Spuren des Todes: bleichende Knochen von Kamelen, Schafen und Ziegen und zahlreiche Autowracks, die bezeugen, daß viele ihren Weg abbrechen mußten und nicht wunschgemäß ans Ziel gekommen sind. Gerade so aber, als Ort des Todes und des Bösen, ist die Wüste ein Bild jener Dimension unserer Existenz, in der wir allein sind, verlassen, ungeborgen, vielen Gefährdungen ausgesetzt. Sie ist gleichsam eine „Ikone“ dafür, daß es Augenblicke und Situationen in unserem Leben gibt, in denen wir auf unsere eigene Nichtigkeit zurückgeworfen werden und Todeserfahrung machen.
Nun geschieht aber das Paradoxe, daß nach dem Zeugnis der Heiligen Schrift gerade die Wüste, gerade der Ort der Öde und Ungeborgenheit, der Einsamkeit und des Todes, zum Ort der Geburt des auserwählten Volkes wird. In der Wüste, auf dem Weg fort von den versklavenden Fleischtöpfen Ägyptens und hin in das Land der Verheißung, wird Israel zum Volk Gottes. Im Todesraum Wüste also beginnt neues Leben, aber neues Leben von Gott her. Denn von sich aus kann Israel das Leben nicht finden und bewahren, es ist verloren im lebensfeindlichen Raum der Wüste. […]
So also läßt Gott gerade in der Wüste Leben entstehen, in der Einsamkeit Gemeinschaft, am Ort der Verlassenheit gründet er den Bund der Freundschaft und Liebe mit seinem Volk. Auch der Prophet Hosea versteht die Wüste als den Raum, wohin Gott sein Volk geführt hat, um es ungestört lieben zu können und wo der Mensch alles, aber auch alles von Gott empfängt und bei ihm Sicherheit und Geborgenheit findet. Die Wüste wird so zum Ort der Kommunikation mit Gott, zur Stätte der Zuversicht und der Hoffnung. Deshalb kann auch der Psalmist, von feindlichen Mächten bedroht, in höchster Gefahr beten: „Furcht und Zittern überkommen mich, / Entsetzen umfängt mich. / Da dachte ich: ‚Hätte ich doch Flügel wie die Tauben, / dann würde ich davonfliegen, bis ich Ruhe finde‘. / Weit fort möcht’ ich fliehen, / zur Nacht in der Wüste bleiben. / Eilen möchte ich an eine sichere Stätte / vor dem Wetter, vor dem Brausen des Sturms“ (Ps 55,7f.). So ist die „schreckliche Wüste“ zur „sicheren Stätte“ geworden, zum Ort der Geborgenheit in Gott und der Gemeinschaft mit Gott, zum Raum wahren Lebens aus dem Tod: Janus-Gesicht der Wüste!
Aber schon Israel war dieser neuen Erfahrung der Wüste als Raum der Begegnung mit dem lebendigen und lebenschaffenden Gott nicht gewachsen. Denn die Begegnung mit Gott fordert das freie Ja des Menschen heraus, es verlangt Glaube und Gehorsam, Gegenliebe und Bereitschaft zum Mitgehen. So wird die Wüste zum Ort der Entscheidung und der Prüfung darüber, ob der Mensch bereit ist, gerade hier sich von Gott „erziehen“ und führen zu lassen und ihm die gebührende Antwort zu geben. Das Buch Deuteronomium warnt: „Bleibe des ganzen Weges eingedenk, den dich Jahwe, dein Gott, nun vierzig Jahre lang in der Wüste geleitet hat, um dich zu prüfen und deinen Sinn kennenzulernen, ob du seine Gebote halten würdest oder nicht. Er demütigte dich und ließ dich Hunger leiden, speiste dich mit Manna, das du nicht kanntest und das deine Väter nicht kannten, um dir kundzutun, daß der Mensch nicht vom Brot allein lebt, daß der Mensch vielmehr von allem lebt, was aus dem Munde des Herrn kommt. Dein Gewand verschliß nicht an deinem Leibe, dein Fuß schwoll nicht an während dieser vierzig Jahre. So erkenne denn in deinem Herzen, daß Jahwe, dein Gott, dich erziehen will, wie ein Vater seinen Sohn erzieht. Halte also die Gebote Jahwes, deines Gottes, indem du auf seinen Wegen wandelst und ihn fürchtest … Vergiß nicht Jahwe, deinen Gott, der dich durch die große und furchtbare Wüste mit ihren feurigen Schlangen und Skorpionen geleitet hat, durch wasserlose, dürre Gegenden …, um dich auf die Probe zu stellen, damit er dir zuletzt Gutes erweisen könne. Denke da nicht etwa bei dir selbst: ‚Meine Kraft und meine starken Arme haben mir diesen Wohlstand verschafft.‘ Denke vielmehr daran, daß der Herr, dein Gott, dir die Kraft verliehen hat“ (Dtn 8,2-6; 14-18).
Der Mensch wird in der Wüste also auf die Probe, vor eine Entscheidung gestellt: Will er sich ganz und gar als von Gott abhängig verstehen, oder möchte er sich seiner eigenen Kraft verdanken? Will er sich sein Leben selbst besorgen, oder überläßt er sich der Erziehung und Führung durch Gott? Will er mit der Wüstenerfahrung seines Lebens selbst fertig werden, oder stellt er sich gerade hier der Begegnung mit dem lebendigen Gott? So steht in der Erfahrung der Wüste alles auf dem Spiel. Hier müssen Entscheidungen fallen.
Und wir wissen aus der Heiligen Schrift, wie Entscheidungen in der Wüste aussehen können: Israel beginnt von Gott abzufallen; es tanzt um das goldene Kalb; statt mit Gott in die Freiheit zu ziehen, sehnt es sich zurück nach dem überschaubaren, gesicherten Leben an den Fleischtöpfen Ägyptens; es buhlt mit fremden Göttern und vergißt, von wem es das Leben hat und wie es das Leben bewahren kann, indem es nämlich mit Gott durch die Wüste in das Land der Verheißung zieht. […]
Obwohl menschlichem Versagen die Strafe angedroht wird, bleibt die Wüste Ort der Gegenwart Gottes und der Verheißung seiner Nähe. Darum muß der Gott untreu gewordene Mensch auch zurück in die Wüste, um dort Gott neu zu finden: „Ich will sie (= das Gottesvolk, unter dem Bild der vermählten Frau) locken und sie in die Wüste führen und ihr dort zu Herzen reden … Dann wird sie dort willfährig werden, wie in den Tagen ihrer Jugend, zu der Zeit, da sie aus dem Land Ägypten heraufzog“ (Hos 2, 16). Gott läßt sich also in der Wüste immer wieder finden, dort kommt er auf den Menschen zu.
Deshalb ist auch ein bei den Propheten immer wiederkehrendes Symbol für die Vollendung der Schöpfung durch Gott das Bild der „fruchtbaren Wüste“. Es ist die Wüste, die sich für die Ankunft Gottes bereiten muß, da Gottes Herrlichkeit gerade in ihr erscheinen will. Vom neuen endzeitlichen Tempel wird das Wasser ausgehen, das die Wüste zu einem fruchtbaren Garten macht. „Und alles soll gesund werden und leben, wohin der Strom dieses Wassers kommt … Und an seinem Ufer auf beiden Seiten werden allerlei fruchtbare Bäume wachsen; und ihre Blätter werden nicht verwelken und mit ihren Früchten hat es kein Ende. Sie werden alle Monate neue Früchte bringen, denn ihr Wasser fließt aus dem Heiligtum. Ihre Früchte werden zur Speise dienen und ihre Blätter zur Arznei“ (Ez 47,9 f.). Wie die Wüste der Raum ist, wo der Auszug aus der Knechtschaft Ägyptens in die Freiheit anhebt und wo neues Leben gestiftet wird und heranreift, so ist die Wüste auch der Ort, wo sich das neue Leben in Gottes Herrlichkeit vollendet.
Die Heilige Schrift des Alten Bundes stellt uns also immer wieder den Doppelcharakter der Wüste vor Augen. Sie ist Raum des Todes oder Raum des Lebens: in jedem Fall aber die Stätte, wo die Entscheidung darüber zu fallen hat, ob der Mensch im Tod oder im Leben steht, ob er in sich und seiner Nichtigkeit bleibt oder die Gemeinschaft mit Gott sucht.
Dieser „Doppelcharakter“ der Wüste geht auch weiter im Neuen Testament. Nach dem im Alten Testament Entfalteten ist es nicht erstaunlich, daß der Beginn des Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohn Gottes, mit der Stimme des Rufers in der Wüste anhebt: „Bereitet den Weg des Herrn“ (Mk 1,1). Die umkehren und sich taufen lassen wollen, haben zu Johannes in die Wüste hinauszuziehen, hier müssen sie den neuen Anfang ihres Lebens besiegeln, vor allem aber: hier läßt sich Jesus finden (vgl. Joh 1,35 ff.).
Jesus selbst wird nach seiner Taufe vom Heiligen Geist in die Wüste geführt und bleibt dort vierzig Tage lang. „Dort wurde er vom Teufel versucht, inmitten der wilden Tiere, und die Engel dienten ihm“ (Mk 1,12.13). Auch hier also ein Doppeltes: Jesus ist in der Wüste der Versuchung des „Teufels“ und der „wilden Tiere“ ausgesetzt, aber hier macht er auch die Erfahrung der – im Bild der Engel ausgesagten – gütigen Nähe Gottes. Diese Nähe hat er auch zeit seines Lebens immer wieder in der Wüste, in der Einsamkeit und Stille gesucht, wie uns die Evangelisten durchgehend berichten.
Aber noch an einer anderen, nicht auf den ersten Blick eingängigen und deutlichen, aber doch sehr wichtigen Stelle thematisiert das Neue Testament den Zusammenhang von Christus und der Wüste. Im Hebräerbrief heißt es: „Jesus hat, um durch sein eigenes Blut das Volk zu heiligen, außerhalb des Lagers gelitten“ (13,12). Diese Aussage ist nur zu verstehen auf dem Hintergrund des alttestamentlichen großen Versöhnungstages, von dem uns das Buch Leviticus (16) berichtet: Einmal im Jahr wurden zum Zeichen der Reue und Umkehrbereitschaft die Sünden und Verschuldungen des Volkes über einen Bock („Sündenbock“) ausgerufen und dieser dann, gleichsam mit der Schuld beladen, aus dem Lager heraus in die Wüste getrieben (Lev 16,21). Anschließend wurden zum Zeichen der Sühne Opfertiere geschlachtet, deren Fleisch gleichfalls außerhalb des Lagers, also in der Wüste, verbrannt wurde. Der Verfasser des Hebräerbriefes sieht in diesen Riten ein Vorzeichen und einen Hinweis auf das, was in Jesus Christus zur eigentlichen Erfüllung kommt. Er ist der, der, mit unserer Schuld beladen, in die Wüste, in unsere Wüste geht, um uns Versöhnung und Frieden zu schenken. Darum ergeht an uns die Aufforderung: „So laßt uns denn zu ihm hinausgehen vor das Lager und seine Schmach tragen“ (Hebr 13,13). „Vor das Lager gehen“, das heißt: Nicht dort, wo wir geborgen und abgesichert sind, nicht dort, wo uns die Welt „das Begehren des Fleisches, das Begehren der Augen, das Prahlen mit dem Besitz“ vorhält (1 Joh 2,16) und diesem Erfüllung verheißt, finden wir Christus, sondern in der Wüste, wo er unsere Schuld trägt und uns den Zugang zum Vater vermittelt.
Darum muß – wie es in der Geheimen Offenbarung des Johannes heißt – auch die Kirche, die Frau, die „in guter Hoffnung in Geburtsschmerzen und Kinderwehen schreit“ und vom Bösen verfolgt wird, in der Zeit zwischen der Auferstehung ihres Herrn und seiner herrlichen Wiederkunft in die Wüste fliehen: hier hat sie „eine von Gott bereitete Stätte“, wo sie ein wenig ausruhen kann, zugleich aber wird sie hier auch in den Kampf mit den Mächten des Bösen verwickelt (Offb 12). Janus-Gesicht der Wüste!
Die Zweideutigkeit und Widersprüchlichkeit der Wüste ist nicht nur etwas, was sich oft bei unseren Wüstenaufenthalten bestätigt hat (und wovon noch mehrmals die Rede sein wird), sie ist auch nicht nur etwas, wovon uns die Schrift in Bild und Gleichnis berichtet, sondern sie ist auch für jeden von uns erfahrbare Gegenwart. Immer, wenn wir „Wüste“ in unserem Leben erfahren, wenn wir an unserer Einsamkeit und Erfolglosigkeit leiden, uns an unserer Ungeborgenheit und Ohnmacht reiben und in den Mühen und Versuchungen unseres Lebens zu verzweifeln beginnen, sind wir gefragt, ob wir aus eigener Kraft durchkommen wollen, sei es, daß wir in die tägliche Routine und Oberflächlichkeit flüchten, sei es, daß wir uns der Verzweiflung und Resignation überlassen, oder aber, ob wir gerade hier und so uns Gott übergeben, uns seiner Nähe und Liebe öffnen und die „Wüste“ als Chance und Aufgabe verstehen, um Gott zu suchen, den Nächsten zu lieben und in den Anfechtungen reif zu werden. So kann auch die Wüste unseres Lebens Raum des Todes oder Raum des Lebens sein.
Quelle: Gisbert Greshake, Die Wüste bestehen. Erlebnis und geistliche Erfahrung, Freiburg i.Br.: Herder, 1990.