Eberhard Jüngel, Der Tod als Geheimnis des Lebens (1975): „Der Tod kommt also keineswegs nur als das Ende des Lebens in Betracht, sondern er gilt als ein ständig im Leben selber sich bereits vollziehender Konflikt mit dem Leben. So können Krank­heit, Schwachheit, Gefangenschaft, Exil in der Terminologie des Todes beschrieben werden. Tod ist nicht nur das Ereignis am Ende, sondern wo immer das Leben sich selbst entfremdet wird, sieht der Glaube Israels bereits den Tod am Werk. Als Ereignis am Ende des Lebens bringt der Tod nur an den Tag, was im Verlauf des Lebens schon immer möglich ist und auch schon immer geschieht: nämlich die Lädierung und Zerstörung von Lebensverhältnissen. Im Tod kommt heraus, was der Mensch ausgerechnet mit seinem Leben aus dem Leben macht. Mit unserem Leben verletzen wir das Leben.“

Der Tod als Geheimnis des Lebens[1]

Von Eberhard Jüngel

Für die Theologie – als Rede von Gott – stellt sich die Frage nach dem Tod vor allem als Frage nach einer dem Tod stand­haltenden Sprache. Gibt es Worte, die dem Tod gewachsen sind? Oder können wir vom Tod eigentlich nur schweigen, so daß selbst die sachgemäßeste Rede vom Tod im besten Fall ein durch Worte präzisiertes Schweigen wäre? Daß gegen den Tod kein Kraut gewachsen, daß ihm also kein Pharmakon, keine Medizin gewach­sen ist, wissen wir. Können wir gleichwohl glauben, daß es Worte gibt, die stark sind wie der Tod und insofern auch schon stärker? Denn was so stark wie der Tod ist, ist stärker als er, der neben sich keine gleichstarke Macht verträgt. Gibt es also so etwas wie ein dem Tod standhaltendes Wort? Das ist die Frage. Schon ganz äußerlich: wie soll man und wie kann man über den Tod ange­messen reden? Man kommt ja, wenn vom Tod die Rede sein soll, nur gar zu leicht ins Stottern. Und wer hier überhaupt nicht ins Stottern kommt, der redet wohl von vornherein an der Sache vor­bei. In einem ersten Teil meiner Überlegungen möchte ich deshalb auf die Frage eingehen, warum man vom Tod so schwer sachlich reden kann und wie man es wenigstens versuchen kann. Ein zwei­ter Teil wird sich der Frage zuwenden, warum man den Tod eigentlich nur hassen kann und wie man das am besten tut: den Tod hassen. Eine dritte Überlegung gilt dann der für den christ­lichen Glauben entscheidenden Frage, was Gott mit dem Tod zu tun hat und was das für unsere Einstellung zum Tode bedeutet.

I.

Welche Worte, welche Bilder, welche Aussagen und nicht zuletzt welche Tonarten der Rede werden dem Tod gerecht? Wer redet, lebt. „Kommt, reden wir zusammen, wer redet, ist nicht tot“ – lautet deshalb eine dichterische Aufforderung zum Leben, die um des Lebens willen gar nicht oft genug wiederholt werden kann: „Kommt, öffnet doch die Lippen, wer redet, ist nicht tot“. Die Sprache und der Tod sind einander feind. Solange wir reden, strafen wir den Tod gleichsam Lügen. Und umgekehrt: wenn er eintritt, scheint der Tod das Reden über ihn Lügen zu strafen oder zumindest doch ad absurdum zu führen. Der Tod ist stumm. Und macht stumm. Wer ihn überwinden will, muß ihm gegenüber das Wort behalten. Sokrates, der sich aufs Leben und aufs Reden verstand, hatte deshalb angesichts des Todes keine größere Sorge als die: es möge nur ja die Rede nicht verenden. Verachtung des Wortes war für ihn identisch mit Verachtung des Lebens. Misan­thropen und Misologen sind deshalb Variationen derselben Kate­gorie: Sprachfeindschaft ist im Grunde Feindschaft gegen das menschliche Leben. Um so einleuchtender scheint die wiederholte Aufforderung jenes durchaus sokratischen Dichters unserer Zeit: „Kommt, reden wir zusammen, wer redet, ist nicht tot“.

Aber können wir den Tod wegreden? Wegreden vielleicht. Doch der weggeredete Tod kehrt wieder; er kommt bestimmt. Die bloße Tatsache, daß geredet wird, kann den Tod jedenfalls nicht überwinden. Und die Tatsache, daß geschrieben wird, wohl auch nicht – obwohl schon sehr früh das geschriebene Wort sich als ein ktẽma eis aeí empfahl und im Barock gar behauptet wurde, daß „nichts Tauerhafters vnd vnsterblichers ist, als eben die Bü­cher“. Die Bibliothek als Ort der Unsterblichkeit? Wohl kaum! Bleibt also die Frage, ob es Worte gibt, die das tödliche Schwei­gen, das Schweigen des stummen und stummachenden Todes brechen können? Wer die Frage beantworten will, muß wissen, was das eigentlich ist: der Tod. Denn dann wüßten wir, welche Worte den Tod wirklich treffen. Im konkreten Fall, wenn wir um einen Toten trauern, hilft uns vielleicht das Ritual. Oder hilf­reiches Schweigen, in dem wir dann unsere Verlegenheit verstecken. Aber schon, wenn es im konkreten Fall „noch nicht so weit ist“, wenn der Tod eines uns Nahestehenden vielmehr erst bevor­steht, wenn man sieht, wie er kommt und das Leben dahingeht, dann fehlen uns in der Regel Worte und Ritual. Und das Schwei­gen ist hilflos. Von der Lüge zu schweigen, die gerade in solchen Situationen nur zu sehr triumphiert.

Die objektivierende Sprache der Wissenschaft ist da besser dran. Denn sie geht dem Tod selbst notwendigerweise immer nur nach, oder aber sie kommt ihm zuvor: sie hat es entweder mit dem schon Toten zu tun, oder aber mit dem noch Lebenden. Die wis­senschaftliche Aufmerksamkeit gilt – auch da, wo die Grenze zwischen Leben und Tod unscharf geworden und in diesem Sinne sogar so etwas wie eine zeitweilige „Rückkehr ins Leben“ bedingt möglich geworden ist – immer nur dem noch Lebenden oder aber dem schon Toten. Dem Tod selbst kann die Wissenschaft nur entweder zuvorkommen oder aber hinterdreinschauen. Sie begegnet ihm nicht. Wissenschaft redet vom Toten und vom Lebendigen. Den Tod selber deutet sie allenfalls an. Aber indem sie andeutend spricht, verläßt sie bereits den wissenschaftlichen modus loquendi, begibt sie sich ihrer wissenschaftlichen Art.

Es ist freilich ein Eingeständnis in dieser wissenschaftlichen Selbstbeschränkung: nämlich dies, daß sich der Tod wissenschaft­lich nicht begreifen, daß er sich nicht definieren läßt, mors definiri nequit. Das hat der Tod mit dem Leben gemeinsam. Und – je­denfalls nach alter Überlieferung – mit Gott und mit der Liebe. Leben und Tod, Gott und Liebe lassen sich nicht definieren. Was sich nicht definieren läßt, muß deshalb freilich noch nicht unver­ständlich sein. Es gibt undefinierbare Geheimnisse, die man durch­aus verstehen kann. Und je besser man sie versteht, desto geheim­nisvoller und interessanter werden sie. Wir kennen die Liebe als solch ein Geheimnis, das um so geheimnisvoller und interessanter wird, je mehr man davon versteht. Im selben Sinne verdient auch Gott ein, ja das Geheimnis schlechthin genannt zu werden. Auch er wird um so geheimnisvoller und interessanter, je besser man ihn versteht.

Gilt das auch vom Tod? Ist auch er ein undefinierbares Geheimnis, das man gleichwohl verstehen kann? Daß er interessant zu sein, ja regelrecht zu faszinieren vermag, ist leider wahr. Selbst die scheinbare Nüchternheit, mit der Wissenschaftler sogenannte „Fälle“ darstellen und dabei das Wort „Karzinom“ möglichst un­beteiligt aussprechen, bewahrt den ebenso nüchtern Zuhörenden keineswegs davor, unmittelbar berührt zu werden. Zumindest heimlich wird ihm unheimlich zumute – und nicht selten will der so nüchtern Redende genau eben diesen Effekt.

Aber auch die das Geheimnis des Lebens aussagende Sprache der Dichtung kommt ohne die Faszination, des Tods nicht aus. Ja, je mehr sie das Leben in seiner Lebendigkeit zum Sprechen bringt, desto näher kommt sie dem Tod. Und die das Leben feiernde und genießende Sprache der Liebe kommt dem Geheimnis des Todes gar am nächsten, erinnert am intensivsten an ihn. Gerade als der schärfste Gegensatz des Lebens gehört der Tod offensichtlich zum Leben.

Insofern ist der Tod keineswegs nur ein Rätsel, das man wissen­schaftlich zu lösen versuchen kann und muß. Denn sterben müssen wir auch dann, wenn wir viel mehr oder gar alles wüßten, was sich über den Tod wissenschaftlich erkennen läßt. Und dies, daß wir sterben müssen, bleibt uns trotz aller Aufklärung über den Tod unendlich befremdlich. Wir wissen es, aber wir glauben es nicht. Wir wissen zwar, daß der Tod wie sonst nichts zu uns selber gehört. Man kann uns alles nehmen, man kann uns sogar das Leben nehmen — den Tod kann uns niemand nehmen: er ist unser Ureigenstes. Doch gerade als unser Ureigenstes ist er uns unendlich fremd. Und nur in dieser Fremdheit gehört er zu uns. Nur indem er uns zutiefst befremdet, geht er uns an. Daran wird auch aller Wissensgewinn nichts ändern – so notwendig und hilf­reich genaueres Wissen über Sterben und Tod für die Lebenden ist. Der Tod ist in der Tat ein bleibendes Geheimnis des Lebens, das er beendet.

Über das Rätsel des Todes redet die Wissenschaft, indem sie es zu lösen versucht. Wie aber soll man über den T od als Geheimnis des Lebens reden? Epikur meinte zwar, mit einem scheinbar schlagenden Satz uns dieser Sorge entheben zu können; denn „solange wir sind, ist der Tod nicht da, und wenn er da ist, sind wir nicht da“. Dodt gegen diesen allzu ernst gemeinten Witz ist einzuwenden, daß der Tod als Widerspruch zum Leben das Geheimnis des Lebens selber ist. Wer das Leben verstehen will, muß deshalb auch vom Tode reden.

Um so dringender wird freilich das Bedürfnis nach einer Sprache, in der jeder Mensch unverkrampft vom Tod reden kann. Wir können schließlich nicht nur die Dichter reden lassen! In einer einen jeden so unausweichlich und so höchst persönlich angehen­den Angelegenheit kann man sich auch sprachlich nicht einfach vertreten lassen. Gewinnen wir doch mit Hilfe unserer Sprache nicht nur unsere Vorstellungen, sondern vor allem unsere eigene Einstellung zu den Dingen und Menschen und ebenso zu Leben und Tod. Wir werden also sprachlich gefordert, wenn wir unserem eigenen Tod, aber auch dem Tod anderer Menschen nicht ein­stellungslos gegenübertreten wollen. Deshalb noch einmal: wie soll man und wie kann man über den Tod angemessen reden? Die Antwort ist alles andere als selbstverständlich. Machen wir die Probe aufs Exempel!

Als schicklich, wenn nicht gar als geboten gilt, vom Tode ernsthaft zu reden. Er ist ja, wenn wir einmal vom lachenden Erben ab­sehen, ein trauriges Ereignis. Moll erscheint angebracht. Und doch ist da – mit Ernst Bloch zu reden – „das schlechthin paradoxe Dur im Trauermarsch“. Und dann sind da, aus älterer Zeit, aber nicht weniger paradox anmutend, die Totentänze. Höchst unfreiwillig zwar wird da getanzt, aber doch eben getanzt: „Drumb sperrt Euch nicht, ihr muest darvon,/ Und tantz’n nach meiner Pfeiffen Thon“ heißt es höchst paradox im Totentanz von Basel. Eine Erinnerung an die tiefernste Ursprungsbedeutung allen Tanzens? Ein bewegter Kontrapunkt gegen die Starre des Todes? Ein ma­kabrer Tanz auf jeden Fall – der Totentanz!

Makaber erscheint aber erst recht das ernsthafte Gespräch, der seriöse Diskurs über den Tod. In der Überlegenheit des Seriösen verschleiert solche ernsthafte Rede über den Tod nur gar zu leicht, wie hilflos der Mensch dem Tod gegenüber ist. Und weil sich solche Verschleierung nicht durchhalten läßt, weil mit Penetranz sich doch die Einsicht Geltung verschafft, daß gegen den Tod eben kein Kraut gewachsen ist, zerreißt der Schleier angemessener Ernsthaftigkeit immer wieder, und die verletzte Überlegenheit des Seriösen flüchtet sich in Sarkasmus und Ironie, um in diesen Fluchtburgen die verletzte Überlegenheit gegen den zu verteidigen und zu pflegen, dem man am Ende doch unterliegen muß. Unsere Sprache changiert, unser Reden bricht gleichsam aus sich selber aus, wenn vom Tod die Rede ist. Der Tod – uns unendlich be­fremdend und doch gerade so unser Ureigenstes – ist einfach zu ernst, ernster als erträglich, so daß jede nur ernste Rede über ihn seinen Ernst wieder mindern würde. Gerade indem der Tod uns nötigt, lebend mit ihm irgendwie fertig zu werden, ohne doch jemals mit ihm fertig werden zu können, erzwingt er so etwas wie Ausbruch aus dem Todernsten, wird er sogar zum Ursprung und zur Quelle von Ironie überhaupt.

Und doch kann auch Ironie sich dem Tod gegenüber nicht be­haupten, ohne alsbald dabei schal zu werden. Selbst die seltene Heiterkeit, jene zuweilen dem Tod vorangehende hilaritas eines sich lösenden menschlichen Geistes, vermittelt sich sachlicher Rede vom Tode in ihrer Unbefangenheit nicht. Wer vom Tod redet, ist per definitionem befangen. Er spricht nicht nur immer auch in eigener Sache, sondern eben zugleich von dem befremdendsten aller Sachverhalte, der wegen seiner Befremdlichkeit erst recht und in ungewohntester Weise befangen macht. Die menschliche Rede vom Tod ist befangen, weil die Menschen selber Gefangene des Todes sind. Der alte St. Gallener Hymnus sagt es anthropologisch tref­fend: „Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen“.

Luther war allerdings der Meinung, man könne nicht nur, sondern müsse sogar den Satz auch umkehren: „media vita in morte. kers umb. media morte in vita sumus. sic dicit, sic credit Christianus“[2]. Eine kühne Umkehrung! Und eine andere, eine neue Sprache ge­genüber dem Tod! Woher diese Umkehrung? Und woher diese andere, neue Sprache gegenüber dem Tod? Woher diese Zuver­sicht, daß wir mitten im Tod vom Leben umfangen sind? Auf diese Fragen soll im dritten Teil der Vorlesung zu antworten versucht werden. Zuvor soll jedoch in einem zweiten Teil deutlich gemacht werden, daß diese theologische Umkehrung, dergemäß nicht das Leben vom Tod, sondern der Tod vom Leben begrenzt wird, alles andere als eine Verharmlosung des Todes ist. Die Bibel kennt den Tod ganz im Gegenteil als einen Feind, der durch und durch hassenswert ist. Und im Grunde kann man ihn doch wohl nur hassen: den Tod. Das Gegenteil jedenfalls, der Ruf der Falange „Es lebe der Tod!“ ist nichts als obszön. Die Achtung, die wir den Toten erweisen, gilt es dem Tod gerade ganz und gar zu ver­wehren.

Zwar behaupten einander liebende Menschen mitunter, ausgerech­net im Ereignis der Liebe von der Unmittelbarkeit des Todes berührt worden zu sein, so daß der lebendigste Höhepunkt per­sonalen Daseins wie eine Vorwegerinnerung des Todes erscheint. Liebeslyrik ist oft genug Todeslyrik. Und der Sehnsucht nach Liebe seltsam verwandt ist die tödliche Sucht, die Sucht nach dem Nichts. Zwar ließ der sterbende Sokrates dem Asklepios einen Hahn opfern, um den Tod als Genesung von der Krankheit des irdischen Lebens zu verstehen zu geben. Zwar singen nach Platon die sterbenden Schwäne ihren Schwanengesang nicht aus Trauer über den bevorstehenden Abschied von der Welt, sondern aus Freude über die bevorstehende Heimkehr zu ihrem Gott, zu Apoll. Zwar denkt Philosophie seit alters und immer wieder den Tod als den eigentlichen Fortschritt in die Freiheit. Zwar läßt Johann Sebastian Bach auch den Glaubenden singen: „Ich freue mich auf meinen Tod. Ach hätt’ er sich schon eingefunden!“

Doch biblisch ist das alles nicht. Der Mensch, in dem die Christen Gott verehren, sprach angesichts seines bevorstehenden Endes: „Meine Seele ist zu Tode betrübt“ (Markus 14, 34). Und er ge­riet (nach Lukas 22, 44) „in Todesangst“ – so sehr, daß ihm „der Angstschweiß wie Blutstropfen zu Boden tropfte“. Jesus fürchtete sich vor dem Tod. Spätere Zeiten wollten das freilich nicht wahr­haben und strichen den Satz kurzerhand aus der Bibel. Man wollte nicht wahrhaben, daß der Gottessohn Angst gehabt haben soll vor dem Tod. Der „schöne“ Tod ist also keine moderne Erfindung. Die Abscheulichkeit des Todes wenigstens aus der Sterbeszene des Heilands wegzuschminken, war schon den Alten ein Bedürfnis. Gerade damit aber wird unfreiwillig eingestanden, wie abscheulich der Tod ist.

Auch Liebeslyrik kann und soll darüber nicht hinwegtäuschen. Denn auch sie ist ein unfreiwilliges Eingeständnis der Macht, die der Tod hat und die alles andere als die Macht befreiender Frei­heit ist. Sublime Liebeslyrik zeigt auf ihre Weise nicht weniger deutlich als der brutalste Krieg, wie sehr der Tod zu herrschen versteht: mit Drohung und Ängstigung nicht nur, sondern auch mit Verlockung und Verführung und gerade so sich selber vorweg ständig eingreifend ins schöne Menschenleben.

Eben dieser sein absoluter Herrschaftscharakter aber macht den Tod so hassenswert. Denn er macht uns zu Unterworfenen. Solan­ge der Tod herrscht, bleiben am Menschen Züge der Knechtschaft, gegen die es aufzubegehren gilt wie gegen die Majestät eines Tyrannen. Und der Tod hat maiestas wie nur sonst eine Macht!

Niemand also sollte sich darüber hinwegtäuschen lassen: der Tod ist widerlich. Zu ihm gehört als eines der charakteristischsten signa mortis der Gestank der Verwesung, an dem der Beigeschmack von Süße am beleidigendsten in die Nase sticht.

Es ist also keineswegs würdelos, den Tod zu hassen. Der Haß auf den Tod gehört vielmehr zur Würde des Menschseins. Und es gehört zum Eifer um die Würde des Menschseins, daß man sich nur ja nicht mit voreilig besänftigenden Bildern und Vorstellun­gen um die Einstellung betrügt, die der Tod als das gemeine Faktum, das er nun einmal ist, verdient. Dem letzten Rock, der bekanntlich keine Taschen hat, näht man solche nicht an, um bunten Mohn hineinzutun. Kierkegaard hat selbst vor dem bibli­schen Bild des Todes-Schlafes gewarnt: das sei Stimmung, nicht Ernst. Der Mensch betrügt sich aber nicht nur um den Ernst des Todes, sondern auch um die Lebendigkeit des Lebens, wenn er sich durch beruhigende Bilder und Vorstellungen den bitteren Tod versüßt und die urlebendige Reaktion auf den Tod einschläfert: den Haß.

Allerdings: auch das Hassen will verstanden sein. Blinder Haß gegen den Tod kommt dem Leben nicht zugute. Unverstandener Haß auf den Tod ist zwar auch etwas, ist aber doch nur ein bloßer Ausbruch des Lebens, mithin unverarbeitet und deshalb eine nur bedingt menschliche Lebensäußerung. Und schon gar keine christ­liche!

Der christliche Glaube jedenfalls schafft Todesangst und Todeshaß nicht einfach ab, aber er nimmt beidem die Blindheit. Und so nimmt er dem sicherlich urheidnischen Haß auf den Tod das Heidentum. Er versucht ihn zu verstehen. Eine entscheidende Ver­stehenshilfe sind bei diesem Versuch für den christlichen Glauben die biblischen Texte. Mit ihrer Hilfe versucht er den urmensch­lichen Widerwillen gegen den Tod so aufzuklären, daß eine neue Einstellung zu Leben und Tod möglich wird. Wie also redet die Bibel über den Tod?

Dem Leser des Alten Testamentes fällt auf, daß der Tod dort als ein Konflikt des Lebens mit dem Leben erscheint. Leben aber heißt: in Beziehungen da sein. Leben heißt: ein Verhältnis haben, nämlich zum Nächsten, zum Volk, zu sich selbst und in dem allem zu Gott. Denn der ist der Inbegriff der Lebendigkeit, ist schaffen­des, schöpferisches Leben. Leben ist deshalb für Israel der Güter höchstes. Und der Satz, das Leben sei der Güter höchstes nicht, ist für den alttestamentlichen Menschen nicht nachvollziehbar. Vielmehr gilt umgekehrt: die Höchstschätzung des Lebens voll­zieht sich als eine Absage an den Tod.

II.

Methodisch wird eine theologische Besinnung auf den Tod folg­lich vom biblischen Verständnis des Lebens auszugehen haben. Denn der Tod zehrt vom Leben – in jeder Hinsicht.

Inbegriff des Lebens ist für die Bibel Gott. Er ist es als Ursprung alles Lebens. Insofern ist Gott Inbegriff schöpferischer Lebendig­keit. Das geschaffene Leben partizipiert auf seine Weise an dieser Kreativität. Leben ist kreatives Sein — wenn nun auch unter dem Vorzeichen einer schöpferischen Rezeptivität und Passivität. Je­denfalls gilt für das Menschenleben, daß der Mensch nur als ein sein eigenes Leben Empfangender und sich selbst als Empfan­genden Bejahender seinerseits schöpferische Lebendigkeit ist. Die­ses Ineinander von Rezeptivität und Spontaneität, von Sich-nehmen-Können und Sich-geben-Können bringt man am besten auf den Begriff, indem man den Menschen ein Wesen nennt, das sich lebend zu sich selbst verhält, weil und indem anderes sich zu ihm und er sich seinerseits zu anderem verhält. Menschenleben heißt: sich zu sich selbst verhalten. Eben dies aber kann der Mensch erstlich und letztlich nur weil und insofern sich schon immer ein „ganz Anderer“ zu ihm verhält, der eben deshalb der Schöpfer heißt. Leben besagt also: Kommunizieren, Verhältnisse haben, nämlich zum Nächsten, zum Volk, zu sich selbst und in dem allem zu Gott. Und die spezifische Menschlichkeit des Menschenlebens besteht nach biblischer Auffassung darin, daß Gott diese Kom­munikation mit dem Menschen durch das Wort sprachlich vollzieht. Die Ansprechbarkeit macht das Leben menschlich. Als von Gott und seinen Mitmenschen Angeredeter und als der seinem schon immer Angeredetsein seinerseits Ent-sprechende ist der Mensch in seiner Lebendigkeit nicht tierisch, sondern menschlich. Elemen­tarster Ausdruck für das göttliche und menschliche Leben ist des­halb in der Bibel das Wort. „Wer redet, ist nicht tot“. „Die Toten aber loben den Herm nicht mehr“ (Psalm 115, 17). Sie sind stumm und in ihrer Unfähigkeit zu reden tot.

Der Tod ist dementsprechend verstanden als Negation der Kom­munikationsfähigkeit des Menschen. Dabei wird jede Lädierung der Menschlichkeit des Lebens auch als unmittelbare Beeinträch­tigung der Lebendigkeit des Menschenlebens verstanden. Für den Glauben Israels beginnt daher der Tod schon da, wo der Mensch unansprechbar wird – sei es, daß er von niemandem mehr ange­redet wird, sei es, daß er sich selbst unansprechbar macht. Deshalb trägt der Glaube vor allem Sorge dafür, daß die sprachliche Kom­munikation nicht abreißt, nicht zerstört wird, sondern so gut wie möglich gelingt. Deshalb so merkwürdige Aufforderungen wie: „Betet ohne Unterlaß!“ Deshalb bietet der Glaube dem Einzelnen und der Gruppe Sprachhilfen an, die über psychische und soziale Sprachbarrieren und elementare Sprachhemmungen hinweg das menschliche Leben zu Worte und so zu sich selbst kommen lassen: zum Beispiel Psalmen, in die das um eigene Worte verlegene Ich einstimmen kann, um in der Geborgenheit schon formulierter Sprache die Freiheit zum eigenen Wort zu erlangen. Nur indem wir uns in schon gesprochener Sprache unterbringen, werden wir selber des Wortes mächtig, das sich dann auch durchaus kritisch gegen die schon gesprochene Sprache richten kann und wohl auch immer gegen sie richten muß. Aber dergleichen kritische aktive Sprachfreiheit (Freiheit zum Wort) gelingt eben nicht ohne die schöpferische Passivität des (von etwas oder von jemandem) Angesprochenseins – wie denn auch die aktive Verwirklichung der lebendigen Selbstbezogenheit des Menschen nicht gelingt, wenn das Ich nicht aus den Beziehungen anderer zu ihm sich sozusagen selber jeweils neu bezieht.

Wer nicht empfangen will, wer vor allem sich selbst nicht emp­fangen, sondern nur sich selbst produzieren will, wird sein Leben gerade verwirken. In der rücksichtslosen, verhältnislosen Selbst­verwirklichung beginnt der Selbstverlust.

Der Tod kommt also keineswegs nur als das Ende des Lebens in Betracht, sondern er gilt als ein ständig im Leben selber sich bereits vollziehender Konflikt mit dem Leben. So können Krank­heit, Schwachheit, Gefangenschaft, Exil in der Terminologie des Todes beschrieben werden. Tod ist nicht nur das Ereignis am Ende, sondern wo immer das Leben sich selbst entfremdet wird, sieht der Glaube Israels bereits den Tod am Werk. Als Ereignis am Ende des Lebens bringt der Tod nur an den Tag, was im Verlauf des Lebens schon immer möglich ist und auch schon immer geschieht: nämlich die Lädierung und Zerstörung von Lebensver­hältnissen. Im Tod kommt heraus, was der Mensch ausgerechnet mit seinem Leben aus dem Leben macht. Mit unserem Leben verletzen wir das Leben. Deshalb müssen-wir sterben. Doch weil wir das Leben verletzen, um rücksichtsloser, beziehungsloser unser eigenes Leben leben zu können, weil wir das Leben also um un­seres eigenen Lebens willen verletzen, deshalb können wir nicht eigentlich sterben. Und so existiert der Mensch nach biblischem Urteil zwischen dem Zwang, sterben zu müssen, und der Unfähig­keit, sterben zu können. Sterben zu müssen, ohne doch sterben zu können – das ist die Hölle, die der Mensch sich mit seinem Leben immer dann bereitet, wenn er rücksichtslos sich selbst zu verwirk­lichen trachtet und so in die Beziehungslosigkeit drängt. Ein solcher Drang in die Verhältnislosigkeit ist tödlich, obwohl er gerade um des eigenen Lebens willen geschieht. Doch der Mensch kann nicht menschlich leben, ohne sich in der Kommunikation von anderen her zu beziehen und auf andere hin zu beziehen. Wer es dennoch versucht, kann im Grunde weder leben noch sterben.

Der Tod erscheint deshalb im biblischen Verständnis in einer spe­zifischen Affinität zu der Schuld, mit der der Mensch im Laufe seines Lebens sein Leben unheimlich belastet. Der Tod wirft demnach nicht nur seinen Schatten auf das menschliche Leben. Vielmehr ist der Schatten des Todes nur die unheimliche Vergrö­ßerung des ursprünglicheren Schattens, der von unserem Leben her auf unser Ende und von da dann auf unser schuldig werdendes Leben zurückfällt.

Nach biblischem Verständnis macht also erst der Mensch den Tod zu einer unheimlichen Macht, die nicht nur den Einzelnen, sondern ganze Völker, ja die Welt bedroht. Mit seinem Leben hat der Mensch das Ereignis seines Lebensendes, hat er den Tod dä­monisch aufgeladen – zu einer Macht, die ihresgleichen sucht, die zur Unzeit kommt, zu einer Macht, die sich nur gar zu gern miß­brauchen läßt: kriegerisch, mörderisch, individuell und kollektiv – so daß dem Menschen eigens eingeschärft werden muß: Du sollst nicht töten! Nun muß der Mensch sterben, ohne doch sterben zu können.. Die Rede vom Tod wird zur Klage.

Damit ist aber auch schon gesagt, daß es eigentlich nicht so sein müßte. Der Tod müßte nicht dies sein, daß wir sterben müssen, ohne sterben zu können. Der Tod müßte nicht die Hölle sein, müßte nicht Fluch sein. Er müßte nicht vorzeitig, unzeitig, zur bösen Zeit kommen, sondern er könnte zur rechten Zeit sich einstellend das rechte Ende sein. Eigentlich müßte der Mensch sterben können. Diese Utopie ist in eindrücklicher Schönheit Hiob 5,26 zur Sprache gebracht: „Du gehst in Vollreife zum Grabe ein, gleichwie die Garbe eingebracht wird zu ihrer Zeit“.

Man hat in Nachbarschaft zu dieser schönen Utopie dem Tod nun doch noch eine versöhnliche Dimension abgewonnen und ein Ver­ständnis des Todes entwickelt, das diesen geradezu als letzten und eigentlichen Akt menschlicher Selbstverwirklichung begreift. So hat der alte Schelling zum Beispiel den Tod „eine Essentification“ ge­nannt, „worin nur Zufälliges untergeht, aber das Wesen, das was eigentlich der Mensch ist, bewahrt wird.“[3] In anderer Wendung desselben Gedankens hat Ernst Bloch vom Tod als „Verwesentlichung“ gesprochen – im Sin­ne einer „Verneinung dessen, was in der Welt nicht zur Utopie gehört; er schlägt es weg, so wie er sich selber … wegschlägt.“[4]

Was sollen wir dazu sagen? Zunächst positiv dies: daß in solchen Gedanken durchweg etwas enthalten ist von der zur Würde des Menschen gehörenden Auflehnung gegen den Tod. Hier wird der Tod sozusagen um sich selbst betrogen. Als Existenzabbruch ent­schlüpft ihm das Wesentlichere: die Essenz. Indem der Tod sei­nem vernichtenden Geschäft nachgeht, gebiert er Unvernichtbares. Was daran besticht, ist die Verspottung des Todes. Der Haß auf den Tod ist hier nicht mit Hilfe betäubender Vorstellungen und Bilder unterdrückt, sondern verarbeitet. Und doch ist gegen diese Todesauffassung ein schwerwiegendes Bedenken geltend zu ma­chen. Denn sie verkennt, daß der Mensch den Tod immer nur er­leidet.

Sterben – das ist als Akt, als Tat des sterbenden Subjektes noch durchaus vorstellbar. Allerdings ist Aktivität in einem solchen Fall doch stets schon durch eine vorgegebene Passivität ganz und gar bestimmt. Sterben als Akt des Lebens, als letzter Akt des Lebens, ist allemal Verarbeitung eines Zwanges, der dem Men­schen widerfährt, ist Verarbeitung einer Passiv-Situation. Eben deshalb erscheint uns ja ein von selbst und nicht notwendig her­beigeführtes Sterben, also der Akt der Selbsttötung so absurd oder zumindest doch tragisch. Wobei auch der Selbstmord, obwohl er als Akt der Selbsttötung keinem Zwang zum Sterben unterlag und deshalb auch als „Freitod“ bezeichnet wird, doch nur auf eine andere Zwangssituation reagiert – auf eine Zwangssituation, die man eben nicht mehr lebend verarbeiten und unverarbeitet nicht ertragen zu können meint. Gerade der Selbstmörder ist alles andere als das freie Subjekt eines freien Aktes. Er handelt unter Zwang – nur eben nicht unter dem Zwang, sterben zu müssen. Selbstmord-Verhütung kann deshalb am allerwenigsten durch blo­ßen Appell geschehen, sondern nur durch ein Eingehen auf die

Zwangssituation selbst – eine Hilfe, die wir zum Beispiel an den Hochschulen den Studierenden nur allzu schuldig bleiben. Die Statistik spricht in ihrer schrecklichen Nüchternheit eine ankla­gende Sprache.

Sterben ist also als Verarbeitung des Sterben-Müssens durchaus ein menschlicher Lebensakt. Der Tod selber ist demgegenüber je­doch eine dem Menschen widerfahrende Beendigung, ein anthro­pologisches Passiv. In ihm verhält sich der Mensch gerade nicht mehr. Nach biblischem Verständnis ist der Tod vielmehr Abbruch aller Verhältnisse und Beziehungen, Eintritt und Ereignis totaler Verhältnislosigkeit. Als Ereignis vollendeter Verhältnislosigkeit ist der Tod das genaue Gegenteil einer Freigabe von so etwas wie einem unzerstörbaren Person-Kern und erst recht das genaue Ge­genteil eines sich selbst vollendenden oder essentifizierenden menschlichen Aktes. Im Tod wird der Mensch vernichtet. Deshalb hassen die Menschen den Tod. Deshalb ist der Tod der hoffnungs­lose Fall.

Hoffnung angesichts des Todes gäbe es nur dann, wenn da, wo alle Verhältnisse zerstört sind und alle Beziehungen enden, wo reine Verhältnislosigkeit und insofern also Nichts ist, wenn genau da eine neue Beziehung entsteht und neue Verhältnisse geschaffen werden. Daß dies geschehen ist, glauben die Christen. Denn das christliche Bekenntnis zum gekreuzigten Christus besagt genau dies: daß Gott sich mit diesem Toten identifiziert hat und daß deshalb mitten im Tode Gott selber ist. Das ist nun freilich nicht mehr ein „sehr großer Herr“, an dessen Stelle dann in einer säku­larisierten Welt zur Not auch die vielen kleinen und großen Her­ren der Wissenschaft treten können, die von Berufs wegen mit dem Tod fertig werden sollen. Die Herrschaft des Todes kann durch bloße Überlegenheit, kann durch einen Herrschaftsakt allein nicht überwunden werden. Nach biblischem Verständnis ist allein die den Tod erleidende Liebe (und das heißt das verletzlichste aller denkbaren Wesen) stark wie der Tod: wo die Beziehungen abbrechen, wo alle Verhältnisse enden, da schafft nur die Liebe neue Verhältnisse. Sie überwindet den Tod, weil sie allein ihn er­trägt. Eben deshalb ist es der gekreuzigte Gott, der nicht so sehr ein großer Herr – wie man sich auf Erden nun einmal große Her­ren denkt -, sondern mit dem 1. Johannesbrief (4, 8. 16) Liebe ge­nannt zu werden verdient. Liebe ist eine elementare Bewegung des Lebens. Leben aber heißt, wie wir gesehen haben, aus sich heraus­gehen, heißt Verhältnisse haben und Verhältnisse vollziehen. In der Regel geschieht das so, daß das aus sich herausgehende Ich immer wieder auf sich selber zurückkommt. Lebend will es sich selber durchsetzen, sich selber verwirklichen. In der Liebe hin­gegen will das Ich nicht bei sich selber sein, ohne ganz und gar bei einem anderen Ich zu sein, verläßt es sich also ganz und gar auf ein anderes Ich. Das liebende Ich nimmt am geliebten Ich ganz und gar teil, indem es sich diesem hingibt. Der Extremfall dieses liebevollen Wechsels von Teilnahme und Teilgabe ist aber Teilnahme des ewig lebenden Gottes am menschlichen Tod. In diesem Sinne versteht das Neue Testament Gott als die Liebe und das heißt als die Einheit des größten aller denkbaren Gegensätze, nämlich als Einheit von Leben und Tod – aber zugunsten des Lebens. „Gott ist Liebe“, indem er den Tod nicht von sich abstößt, sondern vielmehr erträgt und ebenso – aus dem tiefsten Abgrund heraus – überwindet. Der Tod wird also nicht dadurch besiegt, daß man ihn hinter sich bringt und dann hinter sich läßt, sondern so wie manche Insek­ten dadurch zugrunde gehen, daß sie ihren Giftstachel im Fleisch anderer Lebewesen zurücklassen, so und nur so wird auch – wie Luther sich ausdrückt – der Tod „getötet“: nämlich indem die Liebe den lebensfeindlichen Akt der Vernei­nung, den Stachel des Todes, erträgt. „Tod, wo ist dein Stachel?“ fragt Paulus (1. Kor. 15, 55) in der Gewißheit des Glaubens, daß der Tod diesen seinen Stachel in der Liebe zurücklassen mußte, die jeden Menschen im eigenen Tod vor der endgültigen Vernei­nung, vor dem Nichts bewahren wird.

Das Wort Gott hat keinen anderen Sinn als die Gewißheit auszu­drücken, daß es diese Liebe, daß es also eine Einheit von Leben und Tod zugunsten des Lebens gibt. Dieser Gewißheit entsprang Luthers kühne Umkehrung, die zu behaupten wagte, daß wir zwar mitten im Leben von dem Tod, erst recht aber mitten im Tod vom Leben – nämlich vom Leben der Liebe – umfangen sind.

Eine solche Gewißheit hat Folgen für unsere Einstellung zum Tod. Der christliche Glaube zeichnet sich dadurch aus, daß er nicht so sehr Vorstellungen über den Tod und ein Leben nach dem Tode vermittelt, als vielmehr eine neue Einstellung zum Tode möglich macht. Wenn Gott die den Stachel des Todes ertragende und so den Tod überwindende Liebe ist, dann läßt sich die Einstellung des Hasses auf den Tod verändern. Dessen gewaltige Herrschaft gleicht dann der Grausamkeit einer Diktatur, die sich selbst über­lebt hat und sich nur noch mit Exekutionen behaupten kann. Ge­rade in der Ausübung solcher Schreckensmacht verrät sich die sachliche Ohnmacht. Dem Tod selber sieht man das allerdings nicht an, daß ihm die Macht genommen ist. Daß er seinen Stachel in Gott zurücklassen mußte, das ist ein Satz des Glaubens. Ohne Glauben kann man den Tod deshalb in der Tat nur hassen – oder aber ihm gegenüber resignieren. Im Glauben hingegen verwandelt sich der Haß gegen den Tod in geistliche und weltliche Sorge für das Leben. Denn nur indem wir für das Leben sorgen und ihm zu seinem Recht und zu seiner Fülle verhelfen, lernen wir viel­leicht auch die Fähigkeit, sterben zu können. Gerade weil der Tod, der am Ende und als Ende kommt, das ganze Leben ständig be­droht, jederzeit und zur Unzeit sterben zu müssen, gilt es ihn da­durch zu bekämpfen, daß man dem Leben zu seinen eigenen Mög­lichkeiten verhilft. Wer sterben können soll, muß zuvor leben können. Ich möchte das zum Abschluß noch etwas genauer aus­führen.

III.

Üblicherweise konzentrieren sich die menschlichen Einstellungen zum Tod auf die ihm zeitlich unmittelbar vorangehende Phase des Sterbens. Fragen der Sterbehilfe, juristische, medizinische, psycho­logische und geistliche Probleme stellen sich ein und wollen gelöst werden. Und in der Tat wird sich die menschliche Einstellung zum Tod auch am Vorgang des Sterbens zu bewähren haben.

Der christliche Glaube kann aber im Vorgang des Sterbens allein keineswegs den Repräsentanten des Todes im Leben anerkennen. Der Vorgang des Sterbens ist vielmehr als – wenn auch letzter – Lebensvorgang in das menschliche Leben integriert, das als Ganzes – und nicht erst in seiner letzten Phase – auf den Tod bezogen ist. Das zeigt sich am deutlichsten am Phänomen der Angst vor dem Tod. Sie befällt ja keineswegs nur und erst den Sterbenden. Fast jeder Mensch hat, längst ehe es zum Sterben kommt, Angst vor dem Tod. Das ist gut so. Denn Angst – wenn sie sich von selbst einstellt, also nicht etwa künstlich erzeugt wird – ist eine Schutz­funktion des Lebens. Angst ist ein Zwilling der Hoffnung: beide signalisieren das Recht auf Zukunft. Angst vor dem Tod aber ist Angst vor vollkommener Verhältnislosigkeit. In ihr meldet sich die Selbstbedrohung des menschlichen Lebens, die zumindest als Tendenz in jedem Menschen schlummert. Man darf deshalb To­desangst nicht verdrängen. Verdrängung der Todesangst führt ohnehin nur zur Angst vor der Angst vor dem Tod. Statt Angst zu verdrängen, muß man vielmehr auf sie eingehen. Der christ­liche Glaube tut das, indem er einerseits Sorge trägt für das Got­tesverhältnis des Menschen. Denn dieses Verhältnis impliziert die Gewißheit, im Tode nicht durch das Nichts begrenzt zu werden, sondern durch den Gott, der Liebe ist. Doch daß die Liebe – nach dem sehr wahren Satz des Hohen Liedes (8, 6) — stark ist wie der Tod, eben dies gilt es andererseits bereits im Leben zur Geltung zu bringen. Denn wer nicht leben kann, kann auch nicht sterben.

Wem ein menschliches Leben und die Entfaltung seiner eigenen Möglichkeiten verweigert wird – und man kann sich das auch selbst verweigern, kann sich selbst sozusagen ausgesprochen un­gnädig sein! -, dem wird mit dem menschlichen Leben auch eine menschliche Einstellung zum Tode verweigert. Und es gilt Brechts Argument: daß wenn

„Zwischen ‚Laß los‘ und ‚Ich halt’s‘ bewegt sich das Leben, und beiden,
Dem, der hält, und dem, der entreißt, krümmt die Hand sich zur Klaue“ –

daß dann die Frage nur allzu begründet ist:

„Wer könnt in solcher Welt den Gedanken des Todes ertragen?“[5]

Der geistlichen Sorge für das Gottesverhältnis hat deshalb die weltliche Sorge für die irdischen Lebensverhältnisse zu entspre­chen. Und das heißt vor allem: für ein menschliches Verhältnis des Menschen zum Menschen. Und das auch da, wo dieses Ver­hältnis notwendig institutionalisiert wird. Die weitgehende Insti­tutionalisierung zwischenmenschlicher Beziehungen ist durchaus ein mögliches Mittel zur Förderung der Menschlichkeit zwischen­menschlicher Beziehungen. Sie kann aber – und sie wird es nur zu oft – mißbraucht werden zur Enthumanisierung des Umgangs mit Menschen.

Ich denke hier vor allem an den Umgang mit alten Menschen. Die gewissenhafte Erörterung des Problems der Sterbehilfe in allen Ehren! Nichts also gegen die wissenschaftlichen Bemühungen um die notwendigen Differenzierungen im Begriff des Sterbens als eines das Leben beendenden Lebensvorganges! Nichts gegen die unerläßlichen Differenzierungen im Begriff der Hilfe zum Sterben als einer letzten Hilfe am Lebenden! Vor allem die pragmatisch eingeführten Unterscheidungen der ärztlichen Vernunft scheinen in dieser Hinsicht ebenso lehrreich wie hilfreich zu sein. Aber alle diese nicht genug zu begrüßenden Bemühungen muten gesell­schaftspolitisch wenig überzeugend an, wenn man die Lebenshilfe, die gerade der alte Mensch im besonderen Maß erwarten darf, weithin verweigert. Dabei ist nicht nur an die sozusagen äußere Hilfe für die Gebrechlichkeit des alten Menschen zu denken, sondern an diejenige Lebenshilfe, die darin besteht, daß man den alten leistungsunfähigen Menschen als Person ernst nimmt. Es hängt mit dem christlichen Verständnis des Todes zutiefst zusam­men, ist sogar dessen pointiertester Ausdruck, daß der Mensch nicht um seiner gelingenden oder mißlingenden Leistungen willen interessant ist, sondern als Person ein unbedingter Selbstwert ist, dem man nur durch die Gewährung menschlicher Gemeinschaft ge­recht wird. Wenn das am Tode Jesu Christi gewonnene Urteil des Glaubens, daß der Mensch vor Gott etwas gilt nicht wegen, son­dern trotz seiner Leistungen, Aktivitäten und Werke, wahr ist, dann dürfte der zu Leistungen und Aktivitäten immer weniger fähige alte Mensch geradezu das Paradigma dafür sein, daß die Person um ihrer selbst willen interessant ist.

Dieses Zentrum der Menschenwürde wird aber mit Füßen getre­ten, wenn man dem Menschen die ihm um seiner selbst willen zustehende menschliche Gemeinschaft verweigert. Verweigerung von menschlicher Gemeinschaft ist Arbeit für den Tod. Sie macht die biologische Lebendigkeit des Menschen zum abstrakten Dop­pelgänger des Todes. Von ihr ist in unserer Gesellschaft in beson­derem Maße der alte Mensch bedroht. Die zunehmende Isolierung der in ihren Leistungen gesellschaftlich uninteressanten Alten in einer die Person an ihren Leistungen messenden Leistungsgesell­schaft, die Reduzierung des Lebens der Alten auf die Gemein­schaft allein mit Alten, droht deren Lebensgemeinschaft zu einer Sterbensgemeinschaft zu pervertieren. Eine solche Gesellschaft be­trügt sich jedoch selbst um den unbedingten Vorrang der Person vor ihren Leistungen. Und sie betrügt sich zugleich um die Erfah­rung, daß ein Mensch bereits durch sein bloßes Dasein – und nicht erst durch seine Taten – ein Gebender zu sein vermag, ganz zu schweigen von dem kritischen Erfahrungspotential, das im alten Menschen von der Gesellschaft zu deren eigenem Schaden ver­achtet wird.

In diesem Sinn sind wir denn wie dem alten Menschen, so auch dem Sterbenden vor allem unsere Gemeinschaft schuldig. Er ist als Sterbender die hilfloseste und gerade so die eindrücklichste Darstellung des Selbstwertes der menschlichen Person. In der Per­son des Sterbenden tritt der menschlichen Gesellschaft der letzte Ernstfall ihrer Verpflichtung zur Sorge für die Menschlichkeit des Menschenlebens entgegen. Er ist wie jeder Ernstfall ein ausgespro­chener Konfliktfall, voll von Fragen, die zu beantworten einer ehrlichen Gesellschaft alles andere als leicht fällt. Auch theolo­gischer Urteilskraft steht es gut an, allfällige Ratlosigkeit nicht durch falsche und unmenschliche Sicherheit zu überspielen.

Eines kann theologische Urteilskraft allerdings mit Sicherheit sa­gen. Ist auch der Sterbende die um ihrer selbst willen zu beachten­de Person, der wir nur dadurch gerecht werden, daß wir ihr Gemeinschaft gewähren, dann schulden wir auch dem Sterbenden unsere Lebensgemeinschaft.

Bleibt die Frage, wie wir dem Sterbenden die Lebensgemeinschaft gewähren können, die wir ihm schulden. Sicherlich durch persön­liche Nähe, durch wahrnehmbare Weisen der Selbstmitteilung. Es ist allerdings nicht unbekannt, daß die Anwesenheit nächststehen­der Personen den Todeskampf verlängern kann, daß ein schwer sterbender Mensch oft erst dann stirbt, wenn ein anwesender ge­liebter Mensch das Sterbezimmer verläßt. Doch diesen letzten Augenblicken gehen Stunden, Tage und oft Wochen und Monate voraus. Und das ist die Zeit, in der wir dem Sterbenden die Lebensgemeinschaft durch die Freiheit des Wortes schulden. Der Sterbende sollte so angeredet werden, daß er selber noch einmal – wenn irgend möglich – zu Worte kommen und sich in der tief­sten Bedeutung des Wortes aussprechen kann. Und er sollte so angeredet werden, daß er, wenn er selber nicht mehr des Wortes mächtig ist, sich im Wort des ihn anredenden Menschen mensch­lich geborgen weiß. In vertrauten Worten zum Beispiel eines Psalmes, die er schon als Kind aus dem Mund betender Eltern gehört hat und in deren Verständnis er dann erst allmählich her­eingewachsen ist – so wie er sterbend vielleicht auch schon nicht mehr die Bedeutung versteht und gleichwohl den Sinn erfaßt und erfährt: „Ich bin bei Dir. Mein Stecken und Stab trösten Dich.“ Luther hat diese menschliche Rede, in der Gottes Wort zur Spra­che kommt, geradezu als einen Beweis dafür angesehen, daß wir „auch (mitten) im Tode unsterblich sind“. Denn „Gott redet mit uns in unserer (sc. menschlichen) Rede und unserer Sprache … Wo also und mit wem Gott spricht – sei es im Zorn, sei es in Gnaden -, der ist gewiß unsterblich. Die Person des redenden Gottes und (sein) Wort qualifizieren uns als solche Kreaturen, mit denen Gott bis in Ewigkeit und unsterblicherweise reden will.“[6] Lassen Sie mich das Ganze zum Schluß in ein etwas gewagtes Bild bringen: in das Bild eines noch zu malenden christlichen Toten­tanzes. Denn den alten Totentänzen fehlt das Entscheidende. Es ist die Person des Mensch gewordenen und deshalb menschlich redenden Gottes, die auf den so eindrücklichen mittelalterlichen Totentänzen fehlt. Sie fehlt wohl, weil sich das einfach nicht dar­stellen läßt: Gott im Totentanz. Denn das wäre eine Person, die da aus der Reihe tanzt, die mitten im Tod nicht nach dessen Pfeife tanzt. Gott im Totentanz – das gibt dem Ganzen eine andere Richtung. Die Person des menschlich redenden Gottes im Toten­tanz — das führt die Toten in das Reich der Leben und Tod zu­gunsten des Lebens vereinenden Liebe. Und die Lebenden, die Gott im Totentanz wahrzunehmen vermögen, die bringt es tiefer hinein in die den Tod weder verharmlosende noch vergötzende gefährliche Freiheit zur Freude am Leben.

Quelle: Johannes Schwartländer (Hrsg.), Der Mensch und sein Tod, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1976, S. 108-125.


[1] Die folgenden Ausführungen sind die überarbeitete, gekürzte Fassung der bei den Salzburger Hochschulwochen 1975 vorgetragenen Vorlesun­gen, die in den Akten dieser Hochschulwochen im Styria-Verlag er­schienen sind.

[2] [„Mitten im Leben sind wir im Tod. Kehrs um: Mitten im Tod sind wir im Leben. So sagt und so glaubt der Christ.“]

[3] Schelling, Philosophie der Offenbarung, Sämmtliche Werke, II. Abtei­lung, Band 4, Stuttgart 1958, S. 207 f.

[4] E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Band 3, Frankfurt/Main 1959, S. 1308.

[5] B. Brecht, Gesammelte Werke, Band IV, S. 899.

[6] Vorlesung über Gen. 26, 24 f., WA 43, S. 481, 26-35.

Hier der Text als pdf.

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