Evangelischer Indikativ. Untergang oder Renaissance der Religion? (1995)
Von Eberhard Jüngel
Die Kirche hat gegenüber der Zivilreligion eine unterscheidende Funktion: Sie hat die Zivilreligion entweder »aufzuheben« im Hegelschen Sinne oder aber sie als Aberglauben zu entlarven. Diese Auffassung erläutert Professor Dr. Eberhard Jüngel (Tübingen) in dem folgenden Aufsatz. Er macht darin deutlich, daß es der Kirche dabei vor allem darauf ankommen muß, Sachwalterin des Evangeliums zu bleiben.
Untergang oder Renaissance der Religion? Wer so fragt, will es offensichtlich wissen. Er will eine Antwort auf eine Frage haben, die doch nur die Zukunft selber geben kann. Wer die gestellte Frage angemessen erörtern will, müßte also die Zukunft entweder aufgrund von Offenbarung kennen oder aufgrund von Gegenwartsanalyse hochrechnen können, um wahrsagen zu können, was kommt. Ich bin Theologe, und der Theologe ist weder ein Prophet noch ein Wahrsager. Zum Propheten wird man bekanntlich berufen, und zwar auf andere Weise als man zum Professor berufen wird. Und zum Wahrsagen wird man in der Regel verführt oder gedrängt, wobei ich nicht ausschließen will, daß sich auch der eine oder andere Theologe nur zu gern dazu drängen läßt.
Ich möchte mich darauf beschränken, den Wahrsagern einige Ratschläge zu geben, deren Beachtung sie instand setzen könnte, beim Wahrsagen möglichst wenig Falsches zu sagen. Den Hauptvorschlag habe ich mir selber von Immanuel Kant geben lassen, der in seiner Schrift »Der Streit der Fakultäten« behauptet hatte: eine »wahrsagende Geschichtserzählung« sei dann und nur dann möglich, »wenn der Wahrsager die Begebenheiten selber macht und veranstaltet, die er im Voraus verkündigt«.
Die Frage nach Sein oder Nichtsein der Religion ist erst im Zeitalter der die Religion als fundamentales anthropologisches Selbstmißverständnis interpretierenden großen religionskritischen Entwürfe möglich geworden. Religionskritik hat es zwar schon immer gegeben. Und über Defizienzen der institutionalisierten Religion sowie über religiöse Defizite der Gesellschaft hat man auch in früheren Zeiten bewegt Klage geführt.
Früher undenkbar
Doch daß so etwas wie der Untergang von Religion überhaupt drohen könne, ist früheren Zeiten nicht in den Sinn gekommen: »Denn es ist nie kein Volk so ruchlos gewesen, das nicht einen Gottesdienst aufgerichtet und gehalten habe« urteilt etwa Martin Luther. Und noch Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, der doch immerhin zu ihrer Verteidigung »Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern« zu verfassen und sich veranlaßt gesehen hatte, hält die religiöse Veranlagung des Menschen für unzerstörbar und hat deshalb die individuelle Gottlosigkeit für einen Krankheitszustand gehalten, von dem der Atheist durch religiöse Bildung geheilt werden könne.
Selbst die besorgte Frage Schleiermachers, ob denn »der Knoten der Geschichte so auseinander gehn« solle: »das Christenthum mit der Barbarei, und die Wissenschaft mit dem Unglauben?« rechnet doch in großer Selbstverständlichkeit mit der Fortdauer des Christentums. Die Möglichkeit eines der Wissenschaft völlig entfremdeten Christentums und einer dem Glauben nicht nur fremd, sondern feindlich gegenüberstehenden Wissenschaft deutet nun allerdings eine Konstellation an, die der Religion durchaus lebensgefährlich werden konnte und ihr schon bald nach Schleiermacher durchaus lebensgefährlich zu werden begann.
Denn die Wissenschaft und insbesondere die ihr sich verdankende technische Zweckrationalität führte zur Entzauberung aller Wirklichkeitsbereiche. Und das hatte zur Folge, »daß (die) Institutionalisierungen in den westlichen Gesellschaften … von ökonomischen und wissenschaftlich-technischen Codes gelenkt werden, in denen das Religiöse immer weniger wirksam ist« (Willaime). Religionslosigkeit galt mehr oder weniger als Signet der »modernen Welt«, in der man leben müsse, »etsi deus non daretur«. Sogar die christliche Kirche wurde von ihren eigenen Theologen zur »nicht religiösen Interpretation« der biblischen Texte aufgefordert. Die in den sechziger Jahren unseres Jahrhunderts blühende »Gott-ist-tot-Theologie« schien theologie-intern die definitive Bestätigung des bevorstehenden »Untergangs der Religion« zu sein.
Doch als ein Jahr vergangen, simsalabimbambasaladusaladim, da war der Kuckuck wieder da«, sangen wir in unserer Jugend. Im Falle der Religion hat es vielleicht etwas, aber doch nicht sehr viel mehr als ein Jahr gedauert, bis ein neuer religiöser Frühling ins Land gekommen zu sein schien. Damit Hand in Hand ging die Entmythologisierung der Wissenschaft vonstatten. Gerade die von ihr ermöglichten gewaltigen technologischen Erfolge produzierten die bekannten Folgeprobleme, die ihrerseits Grundvertrauen in die Wissenschaft und in den durch sie ermöglichten technischen Fortschritt nachhaltig erschütterten.
Und mit dieser Entzauberung der Entzauberin ging und geht nicht nur eine Wiederkehr des Mythos, sondern auch eine neue Religiosität einher, die zwar eine ausgesprochen vagabundierende Religiosität ist, aber gleichwohl als »Wiederkehr der Religion« lauthals begrüßt wurde. Handelt es sich um ein Strohfeuer, dessen kurzlebige Glut nur verdeckt, daß der Untergang der Religion zumindest in unserem Kulturbereich unwiderruflich bevorsteht, oder handelt es sich um ein Indiz dafür, daß die Natur des Menschen eine »unheilbar religiöse Natur« (Pannenberg) ist? Erst in unserer geschichtlichen Situation kann die radikale Alternative von »Untergang oder Renaissance der Religion« überhaupt sinnvoll erwogen werden.
Der Wahrsager, der auf diese Alternativfrage antworten können soll, muß auch dann, wenn er die Geschichte selber machen wollte, die er vorhersagt, vor allem das tun, was wir bisher völlig unterlassen haben: nämlich zu fragen, was eigentlich gemeint ist, wenn von »der Religion« die Rede ist. Welche Religion ist gemeint? Eine bestimmte, eine der sogenannten positiven Religionen? Oder die »natürliche Religion« oder die »Zivilreligion«? Oder jene sedimentierte postkonfessionelle Religiosität, die man wenig glücklich als » Kulturreligion« zu bezeichnen pflegt? Oder gar jedwede vagierende Religiosität?
Daß positive, institutionalisierte Religionen untergehen können und immer wieder untergegangen sind, lehrt die Geschichte. Apollon, Athene, Aphrodite, Poseidon, Zeus und Hera sind nicht mehr. Doch eine positive, eine institutionalisierte Religion wurde nie durch Religionslosigkeit, sondern stets durch eine andere entweder schon bestehende oder aber neue Religion abgelöst. Auf Religion folgt immer Religion. Religionsgeschichtliche Erfahrung spricht also durchaus dafür, daß Religionen kommen und gehen. Die Religiosität aber, so scheint es, sie bleibt.
Und so kann man im Horizont einer durch religionsgeschichtliche Erfahrung geleiteten Urteilskraft nicht ausschließen, daß auch das Christentum trotz bleibender Religiosität als institutionalisierte Religion irgendwann »untergehen« könnte. Im Horizont des Selbstverständnisses des christlichen Glaubens hingegen ist es unerschütterlich gewiß, daß »alle Zeit müsse ein heilige christliche Kirche sein und bleiben« (Confessio Augustana, VII). Denn der christliche Glaube lebt von der Verheißung Jesu Christi: »Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende« (Matthäus 28,20). Insofern kennt der christliche Glaube die Sorge um seinen eigenen Bestand nicht, sondern weiß die seine Fortdauer betreffende Existenzfrage in der göttlichen Fürsorge bestens aufgehoben.
Säkularisierte Kirchenschätze
Das bedeutet freilich ganz und gar nicht, daß die christlichen Kirchen sich dem unbestreitbaren Schwund ihrer Bedeutung gegenüber gleichgültig verhalten könnten. Die Entkirchlichung der deutschen Gesellschaft muß die Kirchen vielmehr in höchstem Maße interessieren. Sie wirft kategorial sorgfältig zu unterscheidende Probleme auf, die nicht zu unterscheiden verhängnisvoll wäre.
Es gibt spätestens seit der Aufklärung im Zusammenhang der Säkularisierung und des sich durchsetzenden gesellschaftlichen Pluralismus eine Art von Entkirchlichung der Gesellschaft, die von den Kirchen sehr begrüßt werden sollte. Gemeint ist nicht nur die Aufhebung des staatlich garantierten Geltungsmonopols für eine bestimmte Religion oder Ideologie. Gemeint ist auch die weltliche »Beerbung« ursprünglich christlicher »Güter«. Die weltliche Hochschätzung der Freiheit des Gewissens zum Beispiel, die weltliche Behauptung der Unantastbarkeit der Würde der Person, die weltliche Selbstverpflichtung zum Schutz auch des beschädigten Menschenlebens, die allgemeine Schulpflicht und viele andere Errungenschaften des modernen Rechtsstaates sind säkularisierte Schätze der Kirche: Schätze, die oft sogar erst durch ihre Säkularisierung in ihrer vollen Bedeutung erkannt wurden. Die Kirche sollte diese ihre weltlichen Kinder segnen statt sie in den Mutterschoß zurückzufordern.
Davon zu unterscheiden ist jede Weise der Entkirchlichung der Gesellschaft, die der positiven Religion ihren Sitz im Leben zu rauben droht. Gegen diese Entkirchlichung darf man nicht geltend machen, daß doch immerhin die christlichen Religionsgemeinschaften insgesamt trotz der großen Zahl der Kirchenaustritte noch immer mehr Mitglieder aufzuweisen haben als jede politische Partei oder irgendeine andere gesellschaftlich relevante Interessenvertretung. Das ist zwar wahr. Doch vor einer solchen harmlosen Argumentation sollte schon die ernüchternde Tatsache bewahren, daß in den neuen Bundesländern aufgrund der zur ideologischen Zielsetzung des ehemaligen Regimes gehörenden Begünstigung des theoretischen und praktischen Atheismus nach dem Zusammenbruch der sich sozialistisch nennenden Diktatur neben der statistisch faßbaren Entkirchlichung zugleich ein lawinenartiger Verfall der individuellen religiösen Kultur zu konstatieren ist, so daß man in den neuen Bundesländern auf eine geradezu barbarische, als solche aber schon wieder faszinierende religiöse Ahnungslosigkeit trifft Die Situation in den neuen Bundesländern ist auch deshalb von so hoher Bedeutung, weil sie die westliche Gesellschaft vor die elementare Frage stellt, ob die in unterschiedlichen Graden und Formen vollzogene antireligiöse Vergewaltigung, der man sich doch immerhin bei einiger Tapferkeit sehr wohl entziehen konnte, nicht akzelleriert zu Tage gebracht hat, was im Grunde schon der Fall war: nämlich das qualitative und quantitative Wachstum einer elementaren religiösen Bedürfnislosigkeit, die in einer keineswegs aggressiven Areligiosität nunmehr ihr »Reifestadium« gefunden hat.
Der Atheismus hätte dann das Stigma von Ehrlichkeit an sich. Die christliche Kirche aber könnte angesichts eines ehrlichen Atheismus wiederentdecken, daß sie ihrem Wesen nach eine missionierende und das heißt heute: eine den christlichen Glauben mit Gedanken, Worten und Werken glaubwürdig zur Geltung bringende Kirche ist. Sie muß also vor der zunehmenden Entkirchlichung keineswegs resignieren. Denn es ist »ein moderner Aberglaube. daß der Charakter eines Zeitalters als Fatum des nächsten fungiere« (Buber).
Für die sachgemäße Erörterung der Frage nach der Zukunft der Religion ist es schließlich von nicht zu unterschätzender Bedeutung, wie man die Funktion der sogenannten Zivilreligion in der Gesellschaft und das Verhältnis der in den Kirchen institutionalisierten christlichen Religion zu dieser Zivilreligion beurteilen soll.
Die neuere Religionssoziologie hat immerhin in einer nicht unerheblichen Korrektur der These von der schwindenden Bedeutung der positiven Religion für die Institutionalisierung der Gesellschaft darauf aufmerksam gemacht, daß »jede Institutionalisierung das Vorhandensein einer grundlegenden sozialen Ordnung voraus (setzt), die dieser als Rahmen dient«, und daß dieser jedem Institutionalisierungsprozeß immer schon vorgegebene Rahmen ein »symbolischer Raum« ist, der sich in einigen grundlegenden Glaubensinhalten und einigen rituellen Handlungen manifestiert, in denen »eine politische Gesellschaft … ihre Letztbegründung zum Ausdruck bringt« (Willaime). Und eben diese Produktion eines alle Individuen einer Gesellschaft verbindenden Sinnhorizontes nennt man seit Robert N. Bellah mit einem von Jean-Jacques Rousseau entlehnten Ausdruck »Zivilreligion«.
Die nationalen Gesellschaften wären dann also, obwohl ihre Institutionalisierung immer weniger religiösen Motiven gehorcht, ihrerseits an eine religiöse Bedingung ihrer Möglichkeit zurückgebunden. Dann entsteht aber für die positive Religion, in unserem Fall also für die christliche Kirche, die Frage, wie sie sich zu dieser Zivilreligion verhalten soll.
Bei der Beantwortung dieser Frage wird man sich vor Augen halten müssen, daß die jeweiligen Zivilreligionen der nationalen Gesellschaften nur in ihrer formalen Eigenart, also in ihrer identitätsstiftenden Funktion einander gleichen, nicht aber in ihrer materialen Eigenart. Zivilreligion ist der Name für »die Form, in der sich das politische System und dann speziell auch der Staat selber auf … Voraussetzungen, von denen er lebt, ohne sie garantieren zu können, ausdrücklich zurückbezieht« (Lübbe). Materialiter kann sich diese Form jedoch sehr unterschiedlich darstellen.
In der Regel sind es Minima religiosa, ist es ein Ensemble von Restbeständen einer religiösen Kultur, was als Zivilreligion existiert. Die heute in Anspruch genommene Zivilreligion vollzieht sich vor allem in Symbolen und Riten, die quasiaxiomatisch, ex opere operato ihre Sinnhaftigkeit zur Wirkung bringen, und die dabei implizierten Aussagegehalte sind extrem minimalisiert, in der Regel auf nicht mehr als auf die Existenz Gottes. Diese Minimalisierung erklärt sich aus den »zunehmende(n) strukturelle(n) Differenzierungen des Gesellschaftssystems«, die eine »zunehmende Generalisierung der für alle verbindlichen Symbolik« erfordern (Luhmann).
Solche Generalisierung der für alle verbindlichen Symbolik kann nun allerdings auch in einem ausgesprochen antireligiösen Gesellschaftssystem die Funktion einer »Zivilreligion« übernehmen, zum Beispiel indem man »religioide Phänomene und funktionale Äquivalente für Religion« bemüht wie »Staatsfeiern oder Plakate, die im Namen der Arbeiterklasse, ihrer Partei und des roten Oktobers Überstunden fordern« (Luhmann). Mitunter werden Symbole der bekämpften Religion bewußt in eine säkularisierte Gestalt überführt wie in der ehemaligen Sowjetunion die Ikonenecken in die Friedensecke oder die Verehrung der Gebeine der Heiligen in die Verehrung heischende Zurschaustellung der einbalsamierten Leichen Lenins und Stalins im Mausoleum vor der Kremlmauer.
Eine solche »Zivilreligion« wäre freilich gerade nicht mehr die Form, in der eine Gesellschaft und speziell ihr Staat sich auf letztbegründende Voraussetzung zurückbezieht, die er nicht zu garantieren vermag. Der totalitäre Staat beansprucht vielmehr gerade, diese ihn selbst legitimierenden Voraussetzungen selber zu garantieren. Ja, er gibt vor, selber der Lieferant des Sinnes zu sein, von dem die ganze Gesellschaft und also auch jeder einzelne in ihr leben soll – ein Anspruch, den die fünfte These der Barmer Theologischen Erklärung 1934 ausdrücklich verworfen hat. Mit Religion hat eine solche »Zivilreligion« soviel zu tun, wie der Antichrist mit dem, gegen den er so heißt. Eine solche »Zivilreligion« wäre, würde sie sich auf Dauer behaupten, zwar nicht der Untergang, wohl aber – und schlimmer noch – die Perversion der Religion.
Eine positive Religion, die in der christlichen Kirche institutionalisierte positive Religion zumal, kann in der Zivilreligion also nur ein äußerst ambivalentes Phänomen zur Kenntnis nehmen. Auf jeden Fall entscheidet sich erst durch die Relation zur positiven Religion, also in unserem Fall in der Beziehung zur christlichen Kirche, was es mit dem Religionscharakter der Zivilreligion auf sich hat. Denn »erst in der Reflexion durch Bekenntnis, Gesichtspunkte rechten Glaubens und religiöse Kommunikation (das heißt: Kirche) erweist und präzisiert sich das, was als Zivilreligion unterstellbar ist, als Religion« (Luhmann) oder aber als Perversion der Religion.
Als Sachwalterin des Evangeliums hat die Kirche also für das ambivalente Phänomen der Zivilreligion eine ausgesprochen diakritische Funktion. Sie hat die Zivilreligion in jedem Fall »aufzuheben«: entweder in dem von Hegel beschriebenen bekannten dreifachen Sinn oder aber in dem einfachen Sinne, daß sie ihr als einem Exzeß von Aberglauben, so gut sie es kann, ein schnelles Ende macht. In beiden Fällen wäre das der Dienst, die die (als Teilsystem der Gesellschaft existierende) Kirche dem Ganzen der Gesellschaft, dem Staat und dem Volk, das in diesem Staate lebt, schuldet.
Im ersten Fall bestätigt sie, daß Staat und Gesellschaft von Voraussetzungen leben, die von ihnen nicht selbst garantiert werden können. Im anderen Fall widerspricht sie dem Staat und der von ihm totalitär bestimmten Gesellschaft in deren Anspruch, ein menschlicher Staat und eine menschliche Gesellschaft zu sein, und hält gerade mit diesem Widerspruch der Gesellschaft und dem Staat die Treue.
Doch ein solcher zweifellos extraordinärer Akt des Widerspruches hat sein Recht dann und nur dann, wenn die Kirche, indem sie den ihr aufgegebenen ordinären Akt der Verkündigung des Evangeliums vollzieht, den — in welcher Gesellschaft und in welchem Staat auch immer existierenden – Menschen die Treue hält. Das aber tut sie, wenn sie gemäß der sechsten These der Barmer Theologischen Erklärung ihrem Auftrag treu bleibt, »an Christi Statt … die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten an alles Volk«.
Indem die Kirche diese Botschaft ausrichtet, bringt sie einen evangelischen Indikativ zur Geltung, den weder sie noch irgendeine weltliche Instanz erzeugen oder auch nur garantieren kann: den Indikativ der Freiheit eines von seiner Schuld befreiten und vor Gott ins Recht gesetzten Menschen; den Indikativ der am Kreuz Jesu Christi vollbrachten Versöhnung der Welt mit Gott; den Indikativ des in der Person Jesu Christi präsenten Friedens. Die Kirche nimmt, indem sie diesen von ihr nicht erzeugten Indikativ bezeugt, zwar nicht direkt, nicht unmittelbar Einfluß auf die Gesellschaft, in der sie (in soziologischer Hinsicht, als deren Teil) existiert. Sie ist auch als Teilsystem der Gesellschaft keineswegs der dieser zur Verfügung stehende, sie zusammenhaltende Kitt.
Aber die Kirche wirkt indirekt mannigfaltig auf die Gesellschaft ein. Sie tut es nicht zuletzt dadurch, daß sie den notwendigen Imperativen, die Staat und Gesellschaft sich selber geben müssen, um ein menschliches Zusammenleben zu ermöglichen, mit jenem evangelischen Indikativ eine Voraussetzung gibt, die Staat und Gesellschaft nicht zu garantieren vermögen. Der Imperativ, den sich der Staat geben muß, nämlich (nicht nur, aber eben auch) unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Freiheit, Recht und Frieden zu sorgen, hat in jenem von der Kirche bezeugten evangelischen Indikativ eine Voraussetzung, die dem Imperativ eine von ihm selbst nicht erzeugbare Kraft gibt. Und die Kirche hat, indem sie jenen Indikativ bezeugt, zugleich deutlich zu machen, daß aus dem von ihr bezeugten Indikativ solche Imperative zwingend hervorgehen.
Insofern existiert die in der christlichen Kirche institutionalisierte Religion, obwohl sie nur einen Teil der Gesellschaft religiös bindet, in gesellschaftlicher Hinsicht pars pro toto. Und in dieser Hinsicht wirkt sie auch pars pro toto – sei es, indem sie die sich solche Imperative gebende Gesellschaft indirekt zusammenhält; sei es, indem sie der sich solchen Imperativen verweigernden Gesellschaft ihr wohlverdientes Ende ansagt.
Auch diese gesellschaftliche Pars-Pro-Toto-Funktion der christlichen Kirche ist nur eine ihre ordinäre Funktion, den evangelischen Indikativ zu bezeugen, begleitende extraordinäre Funktion, die man als gesellschaftliche Aufklärung im Lichte des Evangeliums bezeichnen könnte. Zur ordinären Funktion der Kirche aber gehört die Erzeugung der evangelischen Gewißheit, daß wie alle Zeiten so auch unsere Zukunft in Gottes Händen liegt (Psalm 31,16).
Gelingt die Erzeugung solcher evangelischen Gewißheit und gedeiht die sie begleitende gesellschaftliche Aufklärung im Lichte des Evangeliums, dann ist die christliche Kirche – in seltsamer Paradoxie – auf ihre Weise eine Wahrsagerin, die jedenfalls zu ihrem Teil die Geschichte selber macht, die sie ansagt.
Der Text basiert auf einem Vortrag, den Eberhard Jüngel bei einem wissenschaftlichen Kongreß der baden-württembergischen Landesregierung in Karlsruhe gehalten hat Er soll in leicht erweiterter Fassung demnächst in einem Sammelband des Suhrkamp Verlags erscheinen, den Ministerpräsident Erich Teufel herausgibt.
Quelle: Evangelische Kommentare 28 (1995), Heft 6, S. 329-332.