Leben nach dem Tod? Gegen das theologische Schweigen vom ewigen Leben
Von Eberhard Jüngel
Wer dahin unterwegs ist, für den vor allem schickt es sich doch wohl, über die Wanderung dorthin nachzudenken und sich in’s – allemal mythische – Bild zu setzen«. So Sokrates in seinem letzten, durch die schöpferische Hand Platons zu einem Grundtext abendländischer Metaphysik verewigten Gespräch (Phaidon 642 e), an dessen Ende der zum Tode verurteilte Denker in der Gewißheit kommender Freiheit den Giftbecher trank.
»Dahin unterwegs« sind wir allerdings nicht erst dann, wenn unsere letzte Stunde geschlagen hat. Wer von uns weiß zudem schon, ob er in seiner letzten Stunde seinerseits den sokratisch klaren Kopf hat, den man braucht, um »über die Wanderung dorthin nachzudenken und sich in’s Bild setzen« zu können? Die letzte Stunde könnte dafür zu spät sein. Christliche Frömmigkeit hat deshalb ebenso nüchtern wie unerbittlich daran erinnert, daß wir jederzeit »dahin unterwegs« sind. »Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen«.
Heute wissen wir das wieder. Heute kann man wiederum ein Lied davon singen, daß unser Leben auf Schritt und Tritt vom Tode bedroht ist. Doch was der alte Choral in seiner schweren, schleppenden Weise nüchtern feststellt, das wird von den Liedermachern unserer Tage in die hochdramatische Form der Anklage gebracht. Nicht der individuelle Tod ist gemeint, der irgendwann irgendwo auf einen jeden von uns zukommt, sondern das kollektive Ende, das das menschliche Geschlecht sich selber zu bereiten droht, wird apotropäisch besungen.
Heute lernt das bereits jedes Kind, daß nicht nur das eigene Ich, sondern tatsächlich wir, wir alle gemeinsam, mitten im Leben mit dem Tod umfangen sind. Und es lernt dies nicht als eine christliche Wahrheit im Religionsunterricht, sondern es lernt dies vom Sandkasten an, in dem es eines Tages nicht mehr spielen durfte, weil der Sand möglicherweise von Verderben bringenden Strahlen verseucht sein könnte. Die Sorge mag sich im Einzelfall hernach als unbegründet erweisen; doch das Wissen ist nun da und wird uns nicht mehr verlassen: das Wissen um die tödliche Selbstbedrohung, die uns nicht etwa aus unserem Unvermögen, sondern aus den Erfolgen unserer wissenschaftlichen Macht erwachsen ist. Die Natur ist durch die Erfolge unseres Erkenntnisstrebens und seiner technologischen Realisierungen in einem auf uns selbst zurückwirkenden Ausmaß verletzbar geworden. Erde, Meer und Luft treten dem forschend und umgestaltend in sie eindringenden Menschen nicht mehr als die dem menschlichen Eindringling schlechthin überlegenen kosmischen Mächte gegenüber. Wir erfahren ihre natürliche Stärke nur noch als die Macht sich rächender Naturgewalten.
Natur wird im Gegenzug zu unserem kollektiven Handeln immer mehr als Unnatur erfahren. Wir sind, so scheint es, den Folgen unserer Erfolge nicht gewachsen. Ob zu Lande, zu Wasser oder in der Luft, überall bedrohen wir uns selbst: Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen. Wir sind es, weil wir das Nichts, aus dem Gott die Welt geschaffen hat, mitten in der Welt über diese wieder heraufzubeschwören drohen. Man kann in der Tat ein Lied davon singen, ein trauriges, ein garstiges Lied. Doch die schwer, schleppend, aber unerbittlich sich aussprechende Feststellung des alten Chorals verwandelt sich dabei in scharf, spitz und hitzig vorgetragene Anklagen. Es sind Lieder gegen den Tod: Lieder, die zum Handeln motivieren sollen.
Eine Frage stellt sich freilich nicht. Jene Frage, in der die Feststellung des alten Chorals mündet, ist ihnen unbekannt und fremd: »Mitten wir im Leben sind mit dem Tod umfangen. Wo sollen wir denn fliehen hin, daß wir Gnad erlangen?« Der christliche Glaube kann allerdings gar nichts anderes, als dieser Frage nachzugehen.
Nicht um die neuen Lieder gegen den Tod ins Unrecht zu setzen! Nicht um die bedrohliche Situation, in die die Menschheit sich mit ihren gewaltigen Erfolgen unfreiwillig hineinmanöviert hat, zu verharmlosen! Sondern einfach deshalb, weil auch dann, wenn es uns durch kluge Selbstbeschränkung unseres erfolgreichen Handelns gelingen sollte, den kollektiven Selbstmord zu verhindern, weil auch dann, wenn die neuen Lieder gegen den neuen, selbsterzeugten Tod ihr Ziel erreichen sollten und der kollektive Selbstmord durch uns von uns abgewendet werden würde, dennoch ein jeder von uns irgendwann irgendwo einmal sterben muß. Und was kommt dann? »Wer dahin unterwegs« ist, für den schickt es sich allemal, über das, was mit dem Tod und nach dem Tod auf uns zukommt, »nachzudenken und sich in’s Bild zu setzen«. Wir neuzeitlichen Christen müssen die Bereitschaft dazu allerdings erst zurückgewinnen. Als Kinder der Aufklärung haben wir das Diesseits so sehr lieben gelernt, daß wir im Gefolge Ludwig Feuerbachs aus diesseitsblinden »Kandidaten des Jenseits« zu jenseits vergessenen »Studenten des Diesseits« geworden sind (Vorlesungen über das Wesen der Religion, Gesammelte Werke VI, 1967, S. 320). Die christliche Hoffnung auf ein Leben in Gottes kommendem Reich hat sich zum bloßen Interesse an einem Leben vor dem Tod ermäßigt.
Und das Interesse am ewigen Leben hat sich in eine esoterische, an der institutionell verfaßten Religion vorbei vagabundierende Religiosität verlagert. Sie ist mit Elementen fernöstlicher Mystik und wiederbelebter Gnosis eine undefinierbare Verbindung eingegangen. In ihr gewinnt der alte, von Platon erzählte Mythos neue Plausibilität, daß die menschliche Seele die Vernichtung des sterblichen Leibes überdauert und sich dann auf eine zweideutige Wanderschaft begeben muß, an deren Ende entweder die Rückkehr in ein anderes leibliches Leben oder aber die endgültige Erlösung der Seele steht.
Esoterik und Reinkarnationsspekulationen sind quicklebendig. Nur die kirchliche Verkündigung scheint des Nachdenkens über ein Leben nach dem Tode müde zu sein. Und die wissenschaftliche Theologie hütet sich ängstlich, davon zu reden, daß wir – wie Sokrates das nannte — »dahin unterwegs sind«. Ganz zu schweigen von dem Versuch, »sich in’s Bild zu setzend. Wo die christliche Hoffnung noch über den Tod hinausreicht, da ist sie bildlos geworden und stumm.
Doch muß das unbestreitbare Recht auf ein Leben vor dem Tode, muß das berechtigte und sich vielfältig artikulierende Interesse an der gegenwärtigen Welt, muß das nicht genug zu fördernde Studium des Diesseits der Hoffnung auf ein ewiges Leben dadurch im Wege stehen, daß es geradezu zu einer (eschatologischen) Sprachlähmung kommt? Gewiß, die Gefahr ist groß, daß gerade die Jenseitshoffnung den Glauben zum Opiat für den am Elend des Diesseits leidenden Menschen pervertiert.
Nicht erst Ludwig Feuerbach und Karl Marx, sondern schon der große Immanuel Kant und unter den Theologen Friedrich Schleiermacher haben davor gewarnt. Auf die »natürliche Neugierde des den Tod fürchtenden Kindes in uns« führte Schleiermacher (Sendschreiben an Lücke, Bolli 1983, S. 142) das religiöse Interesse am Jenseits zurück, um damit zu verstehen zu geben, daß solche Neugierde eines mündigen Christen unwürdig sei. Droht sie uns doch auf Vertröstungen zu fixieren, die »die Gegenwart verderben« könnten (Der christliche Glaube, Paragraph 158, 3).
Der Himmel den Engeln und den Spatzen
Heinrich Heine hat diese Einstellung dann in Versen populär gemacht, die noch heute gern mit religionskritischem Pathos propagiert werden: »Ein neues Lied, ein besseres Lied / O Freunde, will ich euch dichten / Wir wollen hier auf Erden schon / Das Himmelreich errichten … / Es wächst hienieden Brot genug/ Für alle Menschenkinder / Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust / Und Zuckererbsen nicht minder / Ja, Zuckererbsen für jedermann / Sobald die Schoten platzen / Den Himmel überlassen wir / Den Engeln und den Spatzen«.
Nichts gegen das Gegenwarts-Pathos Schleiermachers! Nichts gegen Heinrich Heines Emphase für das Leben »hienieden«, für hinreichend Lebensmittel in die Hand eines jeden und darüber hinaus für die irdische Schönheit und Lust! Kein Wort also gegen die Freude an Rosen, Myrthen und Zuckererbsen! Doch muß man deshalb den Himmel gleich den Engeln und den Spatzen überlassen? Das ist doch wohl nur dann eine ernsthafte Alternative, wenn die Hoffnung auf das ewige Leben und auf Gottes kommendes himmlisches Reich so verkündigt wird, daß dadurch die Gegenwart tatsächlich verdorben wird.
Offensichtlich ist das lange, allzulange der Fall gewesen. Und als dann im Gegenzug dazu der neuzeitliche Mensch begann, den Sinn seines Lebens immer intensiver in der Gegenwart zu suchen, da haben sich Theologie und Kirche ihm angepaßt Doch die natürliche Neugierde des den Tod fürchtenden Kindes in uns läßt sich auf Dauer nicht verdrängen. Und wenn die kirchliche Verkündigung und die sie regulierende Theologie dieser Neugierde nur ein betretenes Schweigen entgegenzusetzen haben, dann wundert es nicht, wenn auch Christen für die vagabundierende Religiosität und ihre schillernden Verheißungen anfällig werden.
Solange Theologie und Kirche den Glaubenden nur den drohenden Tod und das Leben davor vor Augen zu malen verstehen, sind auch die frömmsten Augen versucht, nach den Bildern des Aberglaubens zu schielen. Das theologische Schweigen drängt sie geradezu auf den synkretistischen Markt unmöglicher Möglichkeiten.
Dabei ist der christliche Glaube von Haus aus alles andere als sprachlos und bildlos, wenn es um die Frage geht, was wir hoffen dürfen. Die christliche Hoffnung entwirft sich ja nicht von einem indifferenten Nullpunkt aus in eine leere und unbestimmte Zukunft. Wenn der Glaube zu hoffen beginnt, dann kommt er bereits von einer ganz bestimmten Vergangenheit her, einer Vergangenheit, die die Zukunft in sich hat und die über Zeit und Ewigkeit entscheidet. Denn alles, was wir Christen erhoffen, ist begründet in der Geschichte Jesu Christi, in seinem irdischen Leben, seinem Tod und seiner Auferstehung.
Aus dieser Geschichte bezieht die christliche Hoffnung ihre Gewißheit und zugleich auch die Bilder, mit denen sie ihre Gewißheit ausdrückt. Daß uns nach diesem Leben nicht das Nichts entgegenkommt, sondern Gottes himmlisches Reich, daß wir nicht nur unserer Verwesung, sondern unserer Auferweckung und einem Leben bei Gott entgegengehen, das hoffen wir, weil es uns in der Geschichte Jesu Christi durch Gott selber verbürgt ist. Sein Kreuz steht dafür gut, daß nicht der Tod das letzte Wort hat. Und seine Auferstehung und Erhöhung zu einem Leben bei Gott macht uns dessen gewiß, daß auch wir dahin unterwegs sind.
Wer aber dahin unterwegs ist, wer als Christ in der Gewißheit des Glaubens dieser Zukunft entgegengeht, der wird sich der Forderung des Sokrates stellen und also seinerseits beginnen, über die Wanderung dorthin nachzudenken und sich in’s Bild zu setzen. Er wird dies als Christ tun. Und das heißt, daß er sich nichts willkürlich ausdenkt und sich schon gar nicht von irgendeiner esoterischen oder okkulten Phantasie leiten läßt. Er wird als Christ vielmehr so über das ewige Leben nachdenken, daß er dem Worte Gottes nachdenkt und sich von der heiligen Schrift in’s Bild, in’s rechte Bild setzen läßt.
Quelle: Evangelische Kommentare 21 (1989), Heft 6, S. 31f.
Über die christliche Hoffnung habe ich erst gestern einen wissenschaftl. Text veröffentlicht: Weshalb überhaupt „Auferstehung“?