Christine Lavant, Von meiner Seele, Herr, rede ich nimmer: „Dieses ist eine sehr große Rechnung, o Herr … / Und wenn ich dich jetzt sanftmütig bitte / und wenn ich dich jetzt zornmutig beschwöre / mir Zeit zu lassen die Summe meiner Verschuldung zu prüfen, / so solltest du mich wohl erhören, / solltest Einsehen haben um der Gerechtigkeit willen / und mir bis zur völligen Klärung / ersparen den Irrsinn.“

Von meiner Seele, Herr, rede ich nimmer

Von meiner Seele, Herr, rede ich nimmer,
die ist schon für alles verloren.
Aber den Geist, Vater, verschone mir noch!
Denn mit seiner Hilfe möchte ich anschauen und erkennen,
möchte zusammenzählen, kühl, alle Teile der Schuld
und kühler noch, das, was erlitten wurde.
Mein Elend wird mich nicht erweichen
und meine Angst mich nicht bestechen,
denn ich weiß: Das Gerechte ist mehr als die Gnade.
Doch wenn du mir auch den Geist noch zerbrichst,
dann weiß ich das nimmer und werde bloß schreien.
Unrecht! – werde ich schreien
und alles Ungezählte werde ich blindlings
zusammenraffen um es mit wütendem Wurf
dir in die Augen zu streuen.
Und – glaub mir: Es wird dort brennen!
Wie Pfeffer wird es dir dort brennen, lieber Vater,
denn auch in mir hat es wie Pfeffer gebrannt:
Es – das ist meine grässliche Kindheit
und dies, dass du mir jede Jugend vorenthieltest,
aber auch Ärgeres noch, dass du mich Alternde dann
preisgabst – ganz hilflos der Liebe.
Dieses ist eine sehr große Rechnung, o Herr …
Und wenn ich dich jetzt sanftmütig bitte
und wenn ich dich jetzt zornmutig beschwöre
mir Zeit zu lassen die Summe meiner Verschuldung zu prüfen,
so solltest du mich wohl erhören,
solltest Einsehen haben um der Gerechtigkeit willen
und mir bis zur völligen Klärung
ersparen den Irrsinn.

Christine Lavant

Quelle: Christine Lavant, Werke in vier Bänden, Band 3: Gedichte aus dem Nachlass, herausgegeben von Klaus Amann und Doris Moser, Göttingen: Wallstein Verlag, 2017.

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