Jack R. Lundbom, mir durch seinen Gastaufenthalt am Lutheran Theological Seminary in Hong Kong 2007/08 wohlbekannt, dürfte in seinem Kommentar zum Deuteronomium von 2013 eine der wohl ausführlichsten Auslegungen zur aktuellen Predigtperikope zum Reformationstag 5. Mose 6,4-9 geleistet haben:
C. LITURGISCHE ANWEISUNG (6,4–9)
6⁴ Höre, Israel: JHWH, unser Gott, JHWH ist einer. ⁵ Und du sollst JHWH, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deiner Kraft. ⁶ Diese Worte aber, die ich dir heute gebiete, sollen in deinem Herzen bleiben. ⁷ Du sollst sie deinen Kindern einschärfen und von ihnen reden, wenn du in deinem Haus sitzt und wenn du auf dem Weg gehst, wenn du dich niederlegst und wenn du aufstehst. ⁸ Du sollst sie als Zeichen an deine Hand binden, und sie sollen als Stirnbänder zwischen deinen Augen sein. ⁹ Und du sollst sie auf die Türpfosten deines Hauses und an deine Tore schreiben.
Rhetorik und Aufbau
Diese liturgische Anweisung wiederholt sich in 11,18–21 und rahmt die Predigten der Kapitel 6–11 (Lundbom 1996, 304–6). Betrachtet man beide Anweisungen gemeinsam, fällt auf, dass die mittleren Abschnitte in umgekehrter Reihenfolge stehen:
Dtn 6,6–9
Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollen in deinem Herzen sein.
Und du sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Haus sitzt …
Und du sollst sie als Zeichen an deine Hand binden und sie sollen als Stirnbänder zwischen deinen Augen sein.
Und du sollst sie auf die Türpfosten deines Hauses und an deine Tore schreiben.
Die vorliegenden Verse sind am oberen Ende durch eine petuḥah in ML und eine Abschnittsmarkierung in Sam vor Vers 4 abgegrenzt, und am unteren Ende durch eine setumah in ML und eine weitere Abschnittsmarkierung in Sam nach Vers 9. Teile von 6,4–9 finden sich in 4QDeutᵖ; außerdem auf Phylakterien aus Qumran (4Q130, 135, 136[?], 140, 142; 8Q3; XḤev/SePhyl) und Wadi Murabbaʿat (Mur4); ebenso auf Mesusot aus Qumran (4Q150, 151, 152) und möglicherweise Wadi Murabbaʿat (Benoit, Milik und de Vaux 1960, 85–86; 1961, Taf. XXIV).
Der Beginn des Schema (6,4–5) ist auf dem Nash-Papyrus erhalten (S. A. Cooke 1903), einer liturgischen Handschrift, die Albright (1937, 149) in die zweite Hälfte des 2. Jh. v. Chr. datiert.
Anmerkungen
6,4
Das Schema (שְׁמַע = „Höre“) ist das herausragende Glaubensbekenntnis des Judentums, das von Frommen zweimal täglich rezitiert wird (m. Ber. 1:1–2; Josephus, Ant. 4.212). In hebräischen Bibeln sind die letzten Buchstaben des ersten und des letzten Wortes vergrößert, sodass sie zusammen das Wort עֵד („Zeuge, Zeugnis“) bilden.
Das Schema – mindestens 6,4–5 umfassend – fasst die ersten beiden Gebote zusammen und formuliert sie positiv: Es bekräftigt die Einheit JHWHs und verneint die Existenz einer Vielzahl anderer Götter (P. D. Miller 1984, 18). Diese beiden Themen prägen das gesamte Predigtmaterial der Kapitel 6–11.
Im Nash-Papyrus (Zeilen 22–23) und in der LXX wird dieser Vers eingeleitet mit:
„Und dies sind die Satzungen und Rechtsbestimmungen, die Mose [LXX: der Herr] den Kindern Israels in der Wüste gebot, als sie aus dem Land Ägypten zogen“ (S. A. Cooke 1903, Taf. II).
Zur Stellung des Schema in der jüdischen Liturgie vgl. Vermes (1959) und Tigay (Exkurs 10, S. 440–41).
Höre, Israel! (שְׁמַע יִשְׂרָאֵל)
Eine wichtige lehrhafte Einleitung im Deuteronomium, die hier den zweiten großen homiletischen Abschnitt in Kapiteln 5–11 eröffnet (vgl. Anm. zu 5,1).
JHWH, unser Gott, JHWH ist einer. (יהוה אֱלֹהֵינוּ יהוה אֶחָד)
Die vier hebräischen Wörter lassen sich unterschiedlich übersetzen, wie die Targume und moderne englische Bibelversionen zeigen:
- „Der Herr ist unser Gott, der Herr ist einer“ (TOnq)
- „Der Herr ist unser Gott, ein Herr“ (NEB)
- „Der Herr ist unser Gott, der Herr, unser einziger Gott“ (REB)
- „Der Herr, unser Gott, der Herr ist einer“ (TPsJ; NIV)
- „Der Herr, unser Gott, ist ein Herr“ (TNf; AV; RSV)
- „Der Herr ist unser Gott, der Herr allein“ (NJV; NAB; NRSV)
- „JHWH, unser Gott, ist der eine JHWH“ (JB)
- „JHWH, unser Gott, ist der eine, der einzige JHWH“ (NJB)
Einigkeit besteht darüber, dass dieses Glaubensbekenntnis die Einheit (oder Einzigkeit) JHWHs bekräftigt – „einer“ im Gegensatz zu „vielen“ (andere Götter). Das Bekenntnis schließt zudem ein – wenn auch nicht ausdrücklich –, dass JHWH einzigartig ist und allein Israels Gott (ibn Esra; Driver; G. E. Wright; Moran; Weinfeld; Tigay; Friedman; vgl. 1 Chr 29,1).
Exklusivität wird dann ausdrücklich, wenn אֶחָד („eins“) im Sinn von „allein, einzig“ verstanden wird (NJV; NAB; NRSV; vgl. Sach 14,9; Mk 12,32).
Weinfeld jedoch betont, dass die Exklusivität nicht direkt ausgesprochen ist – das Bekenntnis sage nicht: „JHWH ist Israels Gott, und es gibt keinen außer ihm“, wie in Dtn 4,35.39 und anderen alttestamentlichen Stellen (1 Kön 8,60; 2 Kön 19,15.19; Jes 44,5–6; 45,6.14.18.22; 46,9).
Moberly (1990, 213–15) übersetzt: „JHWH, unser Gott, JHWH ist einer“ – das Bekenntnis bezeuge die Einheit JHWHs, nicht notwendigerweise eine exklusive Beziehung Israels zu ihm; dennoch, so räumt er ein, sei Exklusivität vorausgesetzt, da „JHWH unser Gott“ sie impliziere.
Es herrscht weitgehende Übereinstimmung, dass das Bekenntnis monotheistisch ist („JHWH ist der eine und einzige Gott“), doch Tigay widerspricht dem teilweise und meint, echter Monotheismus erscheine erst in 4,35 und 39.
Vers 5
Und du sollst JHWH, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deiner Kraft.
Das Deuteronomium spricht häufiger als jedes andere Buch des Alten Testaments von der Liebe Gottes und der Liebe zu Gott. JHWHs Liebe zu Israel wird klassisch in 7,7–8 ausgedrückt (vgl. dortige Anmerkung). Hier wird Israel aufgefordert, JHWH zu lieben. Beide – Gottes Liebe zu Israel und Israels Liebe zu Gott – sind untrennbar miteinander verbunden.
Theologisch wird üblicherweise betont, dass JHWHs Liebe zu Israel der Aufforderung, diese Liebe zu erwidern, vorausgeht (von Rad; Moran 1963b). JHWH liebte die Väter (4,37; 7,12 [„beständige Liebe“]; 10,15) und erwählte Israel aus Liebe, um es zu seinem besonderen Eigentum zu machen (7,6–8; 10,15; 23,6[5]).
Doch 5,10 (= Ex 20,6) und 7,9 sagen auch, dass JHWH „beständige Liebe“ (חֶסֶד) denen erweist, die ihn lieben (אָהַב) und seine Gebote halten (vgl. 7,12–13). Das bedeutet:
Obwohl JHWHs Liebe zuerst und unbedingt ist, bleibt sie im Deuteronomium innerhalb eines bedingten Bundes verletzlich. Israels Ungehorsam gefährdet diese Liebesbeziehung – auch wenn er sie nicht völlig zerstört.
Für Israel bedeutet die Liebe zu JHWH hingegen:
– Sie bringt den dringend benötigten Regen (11,13–14),
– sie bewirkt, dass JHWH feindliche Nationen vertreibt (11,22–23),
– sie führt zur Erweiterung der Landesgrenzen (19,8–9),
– und vor allem: sie schenkt das Leben selbst (30,16.20).
Versäumt Israel, JHWH zu lieben, so werden die Fluchbestimmungen des Bundes eintreten.
Die Gegenseitigkeit dieser göttlich-menschlichen Liebe findet ihr Gegenstück in der sogenannten Suzerän-Vasallen-Liebe in den altorientalischen Verträgen (Moran 1963b; Frankena 1965). Dort verspricht der Großkönig („Suzerän“) seinem Vasallen Liebe, während der Vasall verpflichtet ist, den Suzerän ebenfalls zu lieben. In den Mari-Texten (18.–17. Jh. v. Chr.) bezeichnet „Liebe“ die Treue und Freundschaft zwischen unabhängigen Königen, zwischen Herrscher und Vasallen, ebenso zwischen König und Untertan (Moran 1963b, 78–79). Moran weist darauf hin, dass der Begriff „Liebe“ auch in ägyptischen Verträgen der Amarna-Zeit (14. Jh. v. Chr.) als feststehende Formel vorkommt.
In einem späteren Vasallenvertrag des Assyrerkönigs Esarhaddon (7. Jh. v. Chr.) heißt es, dass ein Vasall den Kronprinzen Assurbanipal lieben müsse, den Sohn Esarhaddons, des Königs von Assyrien (Wiseman 1958, 49–50; iv 266–68; Frankena 1965, 144; ANET³, 537).
Im Alten Testament überschneiden sich die Begriffe אַהֲבָה („Liebe“) und חֶסֶד („Bundestreue“) häufig. Die Aufforderung, JHWH zu lieben, ist eine stehende Wendung im Deuteronomium (6,5; 7,9; 10,12; 11,1.13.22; 13,4–5[3–4]; 19,9; 30,6.16.20; Driver 1895, lxxviii Nr. 1; Weinfeld 1972, 333 Nr. 4), und „JHWH lieben“ geht Hand in Hand mit ihn zu fürchten, in seinen Wegen zu gehen, an ihm festzuhalten, ihm zu dienen, seiner Stimme zu gehorchen und seine Gebote zu tun. Diese Liebe zeigt sich also in konkretem Handeln – für Israel bedeutet sie vor allem Gehorsam gegenüber JHWH, seinem Bund und seinen Geboten.
Zwar bieten die internationalen Verträge den besten historischen Hintergrund für diese Art von Liebe, doch speist sich das deuteronomische Liebesverständnis auch aus anderen Bereichen. So stammt der Begriff „Liebe“ ursprünglich aus dem Familienleben – er beschreibt die Beziehung zwischen Ehemann und Ehefrau oder zwischen Vater und Sohn (G. E. Wright 1942; McKay 1972).
Der Prophet Hosea war vermutlich der erste, der den Begriff nutzte, um JHWHs Zuneigung zu Israel zu beschreiben – vergleichbar der Liebe eines Ehemannes zu seiner Frau (Hos 3,1) oder eines Vaters zu seinem Sohn (Hos 11,1). Hosea verwendet אַהֲבָה allerdings nicht für Israels Liebe zu Gott, sondern spricht davon, dass Israel „Bundestreue“ (חֶסֶד) zeigen sollte – eine Liebe, die jedoch vergänglich war, „wie der Tau, der früh vergeht“ (Hos 6,4–6).
Auch Jeremia stellt den Bund in ehelichen Bildern dar und sagt, Israels Liebe (אַהֲבָה) zu JHWH habe nur während der Wüstenwanderung wirklich bestanden (Jer 2,2).
Die LXX übersetzt den Begriff hier mit ἀγάπη. Obwohl Israels Liebe zu Gott also durchaus eine innere und emotionale Dimension hat – D. W. Thomas (1939, 64) betonte, dass das hebräische Wort אהב „Atem“ und „Gefühl“ vereine –, überträgt das Deuteronomium diese intime Liebe nicht direkt in seine Bundesvorstellung. Dennoch kann das Motiv der pflichtgebundenen Liebe zwischen Vater und Sohn im Hintergrund mitgedacht sein (McKay 1972, 426–27, 433–35). Im Deuteronomium wird die Liebe zu JHWH stets begleitet von Ehrfurcht und Respekt (10,12; 13,4–5[3–4]).
Das Besondere an der deuteronomischen Vorstellung von Liebe ist, dass sie geboten werden kann. In Israels Liebe zu Gott schwingen daher Loyalität und Gehorsam mit (Frankena 1965, 140–41; Weinfeld 1972, 333 Nr. 4). Liebe mag eine spontane innere Regung sein – doch wenn sie es nicht ist, muss sie aktiv gesucht und erworben werden.
Israel soll auch den Fremdling lieben (10,19) – etwas, das nicht immer selbstverständlich geschieht. Jesus erkannte diese Seite der Liebe, als er das Schema das „größte und erste Gebot“ nannte (Mt 22,37–38; Mk 12,29–30; Lk 10,27). Im Johannesevangelium sagt er zu seinen Jüngern:
„Das ist mein Gebot, dass ihr einander liebt, wie ich euch geliebt habe“ (Joh 15,12; wiederholt in V. 17).
Und in Joh 15,10 erklärt er, dass „in seiner Liebe bleiben“ bedeutet, seine Gebote zu halten.
Mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deiner Kraft.
Die Wendung „mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele“ ist im Deuteronomium feststehend (vgl. Anm. zu 4,29). Das „Herz“ (לֵב) gilt in der hebräischen Anthropologie nicht nur als Sitz der Gefühle, sondern auch als Zentrum des Denkens und Wollens (A. R. Johnson 1964, 75–87). In Mk 12,30 wird bei der Zitierung des Verses zusätzlich „und mit deinem ganzen Verstand“ (καὶ ἐξ ὅλης τῆς διανοίας σου) eingefügt.
Die „Seele“ (נֶפֶשׁ) bezeichnet im Hebräischen die Lebenskraft des Menschen (A. R. Johnson 1964, 3–22), häufig auch einfach das Leben oder das persönliche „Ich“. Wörtlich bedeutet sie „Atem“ – der „Odem des Lebens“. Stirbt der Körper, so erlischt auch die נֶפֶשׁ; ein Konzept einer unsterblichen Seele wie im griechischen Denken ist unbekannt.
„Mit all deiner Kraft“ (LXX: ἐξ ὅλης τῆς δυνάμεώς σου) bedeutet so viel wie „mit allem, was du vermagst“ (ibn Esra; Rashi deutet, im Anschluss an den Targum, „mit all deinem Besitz“).
Doch die Wendung ist nicht in einzelne Bestandteile zu zerlegen – sie ist ganzheitlich zu verstehen: Der Mensch soll JHWH mit seiner ganzen Existenz, mit ungeteilter Hingabe lieben.
Der volle Ausdruck findet sich wieder in 2 Kön 23,25, wo über Josia gesagt wird, er „kehrte sich zu JHWH mit ganzem Herzen, ganzer Seele und ganzer Kraft – nach dem ganzen Gesetz des Mose“ – ein klarer Rückverweis auf diesen Vers. In einem Vertrag Esarhaddons warnt der assyrische König davor, den Eid nur mit den Lippen zu schwören, aber nicht „mit ganzem Herzen“ (vgl. V. 7).
Vers 6
„Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollen in deinem Herzen bleiben.“
Die Verbindung von „Herz“ (לֵבָב) und „Wort“ (דָּבָר) ist typisch für das Deuteronomium. Das Herz ist der Sitz des Denkens, der Erinnerung und des moralischen Willens. Das Gesetz (תּוֹרָה) soll also nicht nur äußerlich befolgt, sondern innerlich verankert sein.
Vgl. 11,18: „So legt euch diese meine Worte ins Herz und in die Seele“;
30,14: „Das Wort ist dir ganz nahe – in deinem Mund und in deinem Herzen, dass du es tust.“
Damit wird die Tora zu einer inneren Lebensregel, nicht zu einer bloßen Vorschrift.
In der altorientalischen Welt war es ein verbreitetes Ideal, dass der König oder Beamte die Weisung seines Herrn „im Herzen trage“. In ägyptischen Texten heißt es z. B. über den idealen Beamten, er „lege die Worte des Herrn in sein Herz“ (vgl. ANET³, 432). Diese Parallele zeigt, dass das deuteronomische Motiv kulturell verständlich war, aber eine neue, theologische Tiefe erhält: Israels „Herr“ ist nicht ein irdischer König, sondern JHWH selbst.
Das Motiv, das Gesetz „im Herzen zu tragen“, verbindet das Deuteronomium mit der späteren prophetischen Theologie. Jeremia (31,33) nimmt es wörtlich auf, wenn er vom „neuen Bund“ spricht: „Ich werde mein Gesetz in ihr Inneres legen und es auf ihr Herz schreiben.“
Ebenso Psalm 37,31: „Das Gesetz seines Gottes ist in seinem Herzen; seine Schritte wanken nicht.“
Dass Mose hier sagt: „die ich dir heute gebiete“, betont die Gegenwart der göttlichen Ansprache. Die Offenbarung ist kein vergangenes Ereignis, sondern wird in jedem Akt des Hörens neu vergegenwärtigt. Diese Wiederholung des „heute“ (הַיּוֹם) zieht sich durch das ganze Deuteronomium (vgl. 4,40; 5,1; 7,11; 8,1 usw.) und hat eine liturgisch-didaktische Funktion:
Das Gesetz gilt immer jetzt. Jeder Hörer steht im Moment der Entscheidung – Glaube und Gehorsam sind keine Erinnerung, sondern aktuelle Verpflichtung.
Vers 7
„Du sollst sie deinen Kindern einschärfen und von ihnen reden, wenn du in deinem Haus sitzt und wenn du auf dem Weg gehst, wenn du dich niederlegst und wenn du aufstehst.“
Die Eltern tragen die Verantwortung, das Gesetz weiterzugeben. Das hebräische Verb שִׁנַּן („einschärfen“) bedeutet wörtlich „scharf machen“, „einprägen“ – so wie man eine Klinge schleift. Es geht also nicht um beiläufige Belehrung, sondern um nachdrückliche Wiederholung (vgl. 32,46; Ps 78,5–6).
Das Ziel ist, dass die Worte JHWHs unauslöschlich im Gedächtnis der Kinder verankert werden.
Das Deuteronomium betont die Unterweisung der nächsten Generation mehrfach:
6,20–25; 11,19; 31,12–13.
Diese häusliche Unterweisung ist ein entscheidender Teil des deuteronomischen Erziehungsmodells.
Im Gegensatz zu formaler Tempel- oder Priesterlehre geschieht die Weitergabe des Glaubens im Alltag – beim Sitzen, Gehen, Liegen und Aufstehen, also immer und überall.
Die rabbinische Auslegung (m. Ber. 1:1–2) verstand diesen Vers als Grundlage für das zweimal tägliche Rezitieren des Schema:
„Wenn du dich niederlegst“ → abends;
„und wenn du aufstehst“ → morgens.
Das Gebot wurde also liturgisch verankert – ein klassisches Beispiel dafür, wie das Deuteronomium nicht nur Ethik, sondern auch tägliche Frömmigkeit prägte.
Im altorientalischen Umfeld findet sich ein ähnlicher Gedanke in ägyptischen Weisheitstexten, wo die Unterweisung des Sohnes Pflicht des Vaters ist:
„Lehre deinen Sohn, dass er dein Wort kenne“ (Instruktion des Ani, 16,14–15; ANET³, 421).
Doch das Deuteronomium geht weit darüber hinaus: Nicht nur kluge Lebensregeln sollen überliefert werden, sondern das Wort Gottes selbst.
Die vier Alltagssituationen („im Haus“, „auf dem Weg“, „beim Niederlegen“, „beim Aufstehen“) bilden eine poetische Merismus-Struktur – sie umspannen das gesamte Leben. Kein Moment ist vom Gedenken an Gottes Wort ausgenommen.
Dieses Konzept wurde in der jüdischen Tradition zum Muster für das kontinuierliche Gebet und die ständige Erinnerung an die Tora (vgl. Jos 1,8; Ps 1,2).
Vers 8
„Du sollst sie als Zeichen an deine Hand binden, und sie sollen als Stirnbänder zwischen deinen Augen sein.“
Der bildhafte Ausdruck „als Zeichen“ (אוֹת) und „als Stirnbänder“ (טוֹטָפֹת) wurde im Judentum buchstäblich verstanden und führte zur Praxis der Tefillin (Phylakterien).
Diese bestehen aus kleinen Lederkapseln mit Pergamentstreifen, auf denen die vier zentralen Texte stehen:
– Dtn 6,4–9,
– Dtn 11,13–21,
– Ex 13,1–10,
– Ex 13,11–16.
Die ältesten bekannten Phylakterien stammen aus Qumran (4Q128–145) und aus Wadi Murabbaʿat. Die Qumranfunde zeigen, dass die Praxis schon in hellenistischer Zeit verbreitet war.
Ob der Vers ursprünglich wörtlich oder metaphorisch gemeint war, ist umstritten. Viele Exegeten (Driver, Weinfeld, Tigay) sehen hier zunächst eine metaphorische Mahnung:
Das Gesetz soll so gegenwärtig sein, als wäre es auf die Hand geschrieben oder zwischen die Augen gebunden – also ständig sichtbar und handlungsleitend.
Später jedoch wurde die Mahnung rituell konkretisiert, indem man tatsächlich Schriftworte an Körper und Haus anbrachte (Phylakterien, Mesusot).
Der Ausdruck „an deiner Hand“ bezieht sich auf das Tun,
„zwischen deinen Augen“ auf das Denken – also auf das Handeln und das Bewusstsein.
Das erinnert an altägyptische und babylonische Schutzamulette, die an Stirn oder Arm getragen wurden und häufig Inschriften enthielten.
Das Deuteronomium ersetzt die heidnischen Schutzformeln durch das Wort Gottes selbst – der Glaube wird zum eigentlichen Schutzzeichen.
Vers 9
„Du sollst sie auf die Türpfosten deines Hauses und an deine Tore schreiben.“
Das ist die Grundlage für die Mesusa, die noch heute an jüdischen Haustüren befestigt wird – ein kleines Kapselröhrchen mit einem Pergamentstreifen, der Dtn 6,4–9 und 11,13–21 enthält.
Wie bei den Phylakterien war auch hier ursprünglich wohl eine metaphorische Bedeutung intendiert: Die göttlichen Worte sollen „an den Grenzen“ des Lebens sichtbar sein – am Haus (Privatleben) und an den Toren (öffentliches Leben, Stadt).
Doch wiederum wurde die symbolische Mahnung buchstäblich verstanden und in eine dauerhafte religiöse Praxis umgesetzt.
Das Motiv, Worte auf Türen oder Wände zu schreiben, ist im Alten Orient bekannt (vgl. Weinfeld 1972, 334; ANET³, 568). Neu ist jedoch die Heiligung des Alltagsraums:
Das eigene Haus wird zum Ort der Erinnerung an die Tora, jeder Durchgang zur Begegnung mit Gott.
D. DIE ZWEITE LITURGISCHE ANWEISUNG (11,18–21)
11,18 „So legt euch diese meine Worte in Herz und Seele, bindet sie als Zeichen an eure Hand, und sie sollen als Stirnbänder zwischen euren Augen sein.
11,19 Lehrt sie eure Kinder, indem ihr davon redet, wenn du in deinem Haus sitzt und wenn du auf dem Weg gehst, wenn du dich niederlegst und wenn du aufstehst.
11,20 Schreib sie auf die Türpfosten deines Hauses und an deine Tore,
11,21 damit eure Tage und die Tage eurer Kinder zahlreich werden im Land, das JHWH euren Vätern geschworen hat, ihnen zu geben – so zahlreich wie die Tage des Himmels über der Erde.“
Beobachtungen zum Aufbau
Dieser Abschnitt wiederholt 6,6–9 fast wörtlich und bildet mit ihm eine literarische Inklusion, die die gesamte Predigtsektion von Kapitel 6–11 umrahmt.
Während 6,4–9 den Glaubensgrundsatz („JHWH ist einer“) und die persönliche Liebe zu Gott betont, schließt 11,18–21 mit einer Bundesverheißung: Wer diese Worte bewahrt und weitergibt, dessen Tage im Land werden „so zahlreich wie die Tage des Himmels“ sein.
Lundbom (1996, 305–6) weist darauf hin, dass die parallele Struktur absichtlich symmetrisch angelegt ist:
| Dtn 6,6–9 | Dtn 11,18–21 |
| Die Worte im Herzen tragen | Die Worte im Herzen und in der Seele tragen |
| Sie den Kindern einschärfen | Sie den Kindern lehren |
| Davon reden beim Sitzen, Gehen, Niederlegen, Aufstehen | Dasselbe viergliedrige Schema |
| Sie als Zeichen an Hand und Stirn binden | Wiederholung derselben Formel |
| Sie an Türpfosten und Tore schreiben | Wiederholung |
| – | Zusätzliche Verheißung: langes Leben im Land |
Die Wiederholung vertieft also nicht nur die Mahnung, sondern fügt am Ende den Aspekt des Lohns hinzu: Das Leben im Land wird verlängert, wenn das Volk im Wort bleibt.
Diese Parallele zwischen 6,6–9 und 11,18–21 zeigt das deuteronomische Prinzip:
Erinnerung → Unterweisung → Gehorsam → Leben.
Das Gesetz soll so tief in das Gedächtnis und den Alltag Israels eingeprägt sein, dass es über Generationen fortbesteht.
„Diese meine Worte legt euch in Herz und Seele“ (11,18)
Der Ausdruck erweitert 6,6, wo nur vom „Herz“ die Rede war. Nun wird auch die „Seele“ (נֶפֶשׁ) einbezogen. Das ist eine Verstärkung – die Worte sollen nicht nur gedacht, sondern gelebt werden.
Der Doppelausdruck „Herz und Seele“ ist eine stehende Formel für ganzheitliche Hingabe (vgl. 6,5; 10,12; 13,4–5[3–4]; 30,6).
Das Gebot, das Gesetz ins Herz zu legen, wurde in der späteren jüdischen Frömmigkeit als Hinweis auf das Auswendiglernen und Rezitieren verstanden. Schon die Mischna (m. Avot 3:8) betont, dass jemand, der das Wort Gottes vergisst, „seiner Seele Schaden zufügt“.
In der prophetischen Tradition hat dieses Motiv eine zentrale Bedeutung:
Jer 31,33; Ez 36,26–27.
Dort wird die innere Aneignung des Gesetzes zum Kennzeichen des neuen Bundes.
Das Deuteronomium legt damit bereits die theologische Grundlage für diese spätere Entwicklung.
„Bindet sie als Zeichen an eure Hand … als Stirnbänder zwischen euren Augen“ (11,18b)
Wie schon in 6,8 werden diese Worte sowohl symbolisch als auch rituell verstanden.
Der Text in Qumran (4QPhyl) zeigt, dass man in der hellenistisch-römischen Zeit den Vers buchstäblich umsetzte: Lederkapseln mit diesen Bibelstellen wurden am Arm und an der Stirn getragen (Tefillin).
Aber schon lange vor dieser Praxis dürfte die Wendung metaphorisch gemeint gewesen sein:
Das Gesetz soll sichtbar in allen Taten (Hand) und ständig im Bewusstsein (Augen) gegenwärtig sein.
In altägyptischen Quellen wird das Tragen von Schriftzeichen oder Götternamen als Schutzsymbol beschrieben – das Deuteronomium transformiert diese Vorstellung:
Nicht ein magischer Name schützt, sondern das Wort JHWHs selbst.
„Lehrt sie euren Kindern“ (11,19)
Wie in 6,7 steht hier die religiöse Erziehung im Zentrum. Das Ziel ist pädagogische Kontinuität: Das Volk Gottes soll seine Identität durch ständige Unterweisung bewahren.
Diese Erziehung ist nicht Aufgabe einer besonderen Priesterkaste, sondern Verantwortung jedes Hauses.
Die vier Alltagssituationen (Sitzen, Gehen, Liegen, Aufstehen) tauchen wortgleich wieder auf.
Der Stil erinnert an die Weisheitsliteratur (vgl. Spr 1,8–9; 6,20–22):
„Binde sie ständig an dein Herz, hänge sie um deinen Hals … wenn du dich niederlegst, wird sie dich bewahren, wenn du aufstehst, wird sie mit dir reden.“
Diese Parallele zeigt, wie eng das Deuteronomium mit der israelitischen Weisheitstradition verbunden ist.
„Schreib sie auf die Türpfosten deines Hauses und an deine Tore“ (11,20)
Wiederholung von 6,9.
In Qumran wurden Mesusot mit genau diesem Text gefunden (4Q150–152).
Die spätere rabbinische Halacha entwickelte daraus präzise Vorschriften:
– das Pergament muss handgeschrieben sein,
– die Verse 6,4–9 und 11,13–21 müssen vollständig enthalten sein,
– das Kästchen soll am oberen Drittel des Türpfostens befestigt werden, geneigt zum Inneren des Hauses (m. Menah. 3:7; b. Menah. 33b–34a).
Die Mesusa symbolisiert das Bekenntnis im Alltag:
Wer ein- und ausgeht, begegnet sichtbar dem Gesetz.
So wird das Haus selbst zum Ort des Glaubens und der Erinnerung.
Im weiteren Sinne kann man sagen: Die Worte JHWHs sollen die Grenzen Israels markieren – seine Häuser, seine Städte, sein ganzes Land.
„Damit eure Tage … zahlreich werden im Land“ (11,21)
Dieser Zusatz unterscheidet 11,18–21 von 6,6–9.
Hier tritt die Bundesverheißung hinzu: Wer das Wort Gottes bewahrt und weitergibt, wird langes Leben im Land empfangen.
Das Motiv greift auf 4,40 zurück („auf dass es dir wohl ergehe und du lange lebest in dem Land“) und zieht sich durch das ganze Deuteronomium (5,33; 30,16.20).
Die Metapher „so zahlreich wie die Tage des Himmels über der Erde“ (כִּימֵי הַשָּׁמַיִם עַל־הָאָרֶץ) ist poetisch und einzigartig – sie bedeutet ewig, oder zumindest dauerhaft.
Das Land, das JHWH den Vätern geschworen hat, bleibt nur dann dauerhaft Besitz Israels, wenn die Erinnerung an das Gesetz lebendig bleibt.
Damit wird der Zusammenhang zwischen Glaube – Gehorsam – Leben – Land endgültig geschlossen:
Das Bewahren des göttlichen Wortes garantiert die fortgesetzte Existenz des Volkes.
Zusammenfassend
Die beiden liturgischen Abschnitte (6,4–9 und 11,18–21) bilden ein Rahmenelement, das den gesamten Lehrteil 6–11 umfasst.
Ihre gemeinsame Botschaft lautet:
- JHWH ist einer und alleiniger Gott Israels.
- Israel soll ihn mit ungeteilter Hingabe lieben.
- Diese Liebe zeigt sich in täglicher Erinnerung, Unterweisung und Gehorsam.
- Das Wort Gottes soll Herz, Haus, Körper und Gemeinschaft prägen.
- Wer in diesem Wort lebt, erfährt Leben und Bestand im Land.
Weinfeld (1972, 334) bezeichnet diese beiden Abschnitte als „die liturgische und didaktische Klammer des Deuteronomiums“.
Sie verbinden Theologie (Monotheismus), Ethik (Liebe und Gehorsam) und Pädagogik (Unterweisung der Kinder) zu einem einzigen Konzept:
Das Wort als Lebenszentrum.
Quelle: Jack R. Lundbom, Deuteronomy. A Commentary, Grand Rapids u. a.: Wm. B. Eerdmans, 2013.