Christus – die Hoffnung für die Welt (Evanston, 1954)
Von Karl Barth1
Das ist es, was wir als die Vertreter der im Oekumenischen Rat der Kirchen vereinigten christlichen Gemeinden als unser Zeugnis von der großen Wahrheit, daß Jesus Christus die Hoffnung der Welt ist, in der gegenwärtigen Stunde zu bezeugen haben. Es ist unser menschliches Zeugnis von dieser göttlichen Sache. Wir wissen um die Schwachheit und Dunkelheit, in der wir es aussprechen. Sie ist nur zum Teil bedingt durch gewisse uns immer noch trennende Verschiedenheiten unseres Denkens und unserer Lebensauffassungen. Sie stammt auch nicht nur aus der Begrenztheit aller menschlichen Erkenntnis, in der wir allein reden können. Wir wissen und bekennen vielmehr, daß wir alle, die es hier wagen, die Welt und die Kirche in der Welt anzureden, nicht nur fehlbare, sondern sündige Menschen, daß unsere Herzen hart und töricht sind. Das Geheimnis der christlichen Hoffnung wäre sehr viel angemessenerer Gedanken würdig als die, die wir hier zum Ausdruck gebracht haben. Wir müssen und wollen auch diese unsere Botschaft unter das barmherzige Gericht Gottes stellen. Zu unseren irdischen Hoffnungen gehört auch die: daß es denen, die nach uns kommen werden, gegeben sein möchte, dasselbe, was wir hier zu sagen uns bemühten, anders, wahrer, leuchtender zu sagen. Und wir warten darüber hinaus auf das ewige Licht, in welchem die Unklarheit aller, auch der besten Gedanken und Worte sündiger Menschen klar werden wird.
Das hindert uns aber nicht, Gott von Herzen dankbar zu sein für das Maß von Erkenntnis, in welchem wir hier ohne unser Verdienst gemeinsam reden dürfen. Es ändert auch nichts an dem Ernst, in welchem wir alle, die es angehen mag, mahnen, wohl zu bedenken, was wir hier nach bestem Wissen und Gewissen von Jesus Christus als der alleinigen, ganzen und gewissen Hoffnung der Welt zu bezeugen unternommen haben. Wir bitten Gott, daß Er unser Wort, wieder ohne und gegen unser Verdienst, durch die Macht Seines Heiligen Geistes Seinem eigenen allein heiligen und gerechten Wort dienen lassen wolle.
Wem sagen wir, was hier gesagt ist? Wir sagen es in erster Linie zu eben der Welt, deren Hoffnung — ob sie nun christliche oder unchristliche, glaubende oder nichtglaubende Welt sei — Jesus Christus ist. Die Welt, in der auch wir und alle Christen sind, hat Gott in Jesus Christus von Ewigkeit her geliebt. Zur Welt hat Gott in Ihm gesprochen. Die Sünde, die Schuld, die Not und den Tod der Welt hat Gott in Ihm auf sich genommen, damit sie von dem allen frei werde. Das Heil und das Leben der Welt hat Gott in Seiner Auferstehung offenbar gemacht für alle, die an Ihn glauben. Als Richter der Welt wird Er Gottes letzte Offenbarung vor aller Augen und Ohren und so das Ziel aller Seiner Wege sein. Ihre Hoffnung der Welt zu bezeugen, ist der Sinn der Existenz der christlichen Gemeinde aller Zeiten und Länder und ist die Absicht, in der wir hier gesprochen haben. Wer Ohren hat, zu hören, der höre! Er höre nicht unser Wort als solches, sondern das Wort Gottes, das uns zum Reden nötigt: das Wort Gottes, das eins und dasselbe ist mit dem Werk, das in Jesus Christus geschehen ist, geschieht und geschehen wird. Er ist nicht nur unser, sondern aller Menschen Herr. Er ist nicht nur unsere, sondern auch ihre Zukunft. Es gibt keinen Menschen, dem es nicht bestimmt wäre, in Ihm seinen Bruder und durch Ihn seinen Vater zu finden. Es gibt keinen, der vor Ihm nicht schuldig, der Ihm nicht verpflichtet und verantwortlich wäre. Was wir gesagt haben, ist in Solidarität mit jedem auch für jeden und zu jedem gesagt: nicht in unserem eigenen Namen, sondern im Namen dessen, der der Heiland der Welt und so auch sein Heiland ist.
Eben darum haben wir aber, was wir gesagt haben, auch zu uns selbst und zu den von uns vertretenen christlichen Gemeinden auf der ganzen Erde gesagt. Wir proklamieren hier kein Dogma. Wir reden auch zu ihnen als Menschen zu Menschen. Wir bezeugen ihnen aber mit brüderlichem Ernst: Sie und wir sind durch das, was wir in dieser Botschaft auszusprechen versucht haben, ganz neu vor die Hoheit der der Kirche Jesu Christi anvertrauten Gabe und Aufgabe gestellt, vor die Würde und Verpflichtung ihrer Sendung als Träger und Zeuge der alleinigen ganzen und gewissen Hoffnung inmitten einer von so viel falscher Hoffnung und von so viel Hoffnungslosigkeit verdunkelten Welt. Sie und wir dürfen wissen, daß nicht der Tod, sondern die Offenbarung des Namens, des Reiches, des Willens, des heiligen und barmherzigen Gottes und so das ewige Leben das Ziel des Menschen und seiner Geschichte ist. Und eben diese gute Neuigkeit bekannt zu machen, ist der Sinn und die Ehre unserer christlichen Existenz. Dieser unser Auftrag ist aber, indem wir zuerst auf unseren Herrn, dann aber auf uns selbst, auf unsere Gedanken, Worte und Werke blicken, auch unsere tiefe Beschämung und der strenge Aufruf, uns der der Welt und uns geschenkten Hoffnung ganz anders als bisher bewußt zu werden und uns ihrer Bezeugung mit ganz anderer Treue als bisher zuzuwenden. Wenn wir Christen, wenn die christlichen Gemeinden nicht in der Freude dieser Hoffnung leben — so, daß sie durch sie auch anderen zur Freude wird —, wer soll es dann tun? Was machen wir mit dem gerade uns An vertrauten?
Das ist die Frage, die wir mit dieser Botschaft gerade der Kirche Jesu Christi und uns selbst als ihren Gliedern ins Gewissen schreiben möchten: Ist sie der authentische Zeuge ihres Herrn und Hauptes und also der Hoffnung der ganzen Welt, der zu sein sie berufen ist? Ist sie das Volk der Pilger, die hier keine bleibende Stätte haben, sondern die zukünftige suchen, und die die Leiden dieser Zeit der Herrlichkeit nicht wert erachten, die an ihnen soll offenbart werden? Ist sie die Schar der Wächter, die, weil sie im Osten schon Licht sahen, den neuen Tag schon angebrochen wissen, und also in die Trompete stoßen, um ihn allen anderen anzuzeigen? Ist sie die Gemeinde, die den kommenden König jetzt schon in Seinen hungrigen, durstigen, fremden, nackten, kranken, gefangenen Brüdern zu erkennen weiß, sie also in Seinem Namen zu speisen, zu tränken, zu beherbergen, zu bekleiden, zu besuchen, sich ihnen zuzugesellen willig und bereit ist? Ist sie bekennende und nicht etwa verleugnende Kirche? Es steht uns, die wir uns mit dieser Botschaft an die christlichen Gemeinden auf der ganzen Erde wenden, nicht zu, diese Frage für sie zu beantworten. Wir dürfen und müssen ihnen aber sagen, daß dies ohne Zweifel die Frage ist, die durch unsere Botschaft an sie gerichtet ist. Und ferner: daß sie unsere Botschaft dann recht verstehen, wenn sie diese Frage, wie auch wir selbst es tun möchten, als eine Gelegenheit zur Buße, zur Umkehr und zum Glauben, als einen Anruf zu einem neuen Anfang verstehen. Und ferner: daß ihre und unsere rechte Antwort auf diese Frage bestimmt nur in der Bitte bestehen kann: daß Gott der Vater, der Sohn und der Heilige Geist sich Seiner Kirche an allen Orten erbarmen, sie durch Sein Wort selber zur Kirche der Hoffnung und so zu Seiner Hütte unter den Menschen machen wolle. Und endlich: daß, wo eine Gemeinde auf jene Frage diese Antwort gibt und also in und von solcher Bitte lebt, die Kirche der Hoffnung schon heute gegenwärtig und am Werk ist — das Volk des Gottes, der uns zur Verkündigung Seiner großen Taten aus der Finsternis zu Seinem wunderbaren Licht berufen hat.
Christus – die Hoffnung für die Welt. Bericht des Beratenden Ausschusses für das Hauptthema der Zweiten Vollversammlung (3. Fassung), IV. Zum Beschluß, Nr. 126-130.
Quelle: Zweiten Vollversammlung des ÖRK, Evanston, Illinois, USA, 1954, Heft VII, Zürich: Gotthelf-Verlag, 1954, S. 60-62.
1 Karl Barth im Brief an Richard Imberg vom 17. Juli 1954 betreff der Verfasserschaft von Christus – die Hoffnung für die Welt: „Wörtlich von mir ist nur der Schlussabschnitt, den man mir übertrug, weil man fand, dass ich für einen solchen Challenge besonders gut sei!!“