Verheißung und Verantwortung der christlichen Gemeinde im heutigen Zeitgeschehen
Von Karl Barth
Die christliche Gemeinde, die im heutigen Zeitgeschehen eine bestimmte Verheißung und Verantwortung hat, ist heute wie zu allen Zeiten da, wo zwei oder drei versammelt sind im Namen Jesu.
Ob es an einem Ort eine christliche Gemeinde gibt, das ist also damit noch nicht entschieden, daß da eine Kirche steht, daß da ein Pfarrer, ein Kirchgemeinderat, ein Organist und ein Sigrist ihres Amtes walten, daß da am Sonntag in Anwesenheit einer Anzahl Personen gepredigt wird, daß da die Kinder getauft und konfirmiert, die Ehepaare kirchlich getraut und die Toten kirchlich beerdigt werden. Diese ganze Einrichtung ist doch nur gewissermaßen das Dach, unter dem es eine christliche Gemeinde geben kann. Es gibt aber auch außerhalb der Landeskirche keine Gemeinschaft oder Gesellschaft, deren Mitglieder das nun einfach so unter sich ausmachen könnten: daß sie eine christliche Gemeinde seien. Es braucht wirklich mehr dazu, als eine noch so gute gemeinsame Überzeugung. Ob wohl wir, die wir uns hier zum kirchlichen Bezirksfest zusammengefunden haben, eine christliche Gemeinde sind? Wir wären wohl nicht hiehergekommen, wenn uns die Kirche und das Christentum ganz gleichgültig wären oder wenn wir geradezu zu ihren Gegnern gehörten. Irgendein Interesse an religiösen Dingen, auch irgendein Respekt vor der Botschaft der Bibel ist gewiß Keinem, der hier ist, ganz fremd. Und es könnten wohl solche hier sein, die bekennen dürften, daß sie mit den christlichen Dingen sogar sehr stark und lebendig beschäftigt sind. Aber ob wir jetzt eine christliche Gemeinde sind, das hängt doch noch von etwas ganz Anderem ab. Das ist eben die Frage, die überall da auf die Menschen zukommt und auf die die Menschen selbst überall da antworten müssen, wo es so aussieht, als sei da christliche Gemeinde. Wenn der Papst als der angebliche Nachfolger des Petrus dem Volk von Rom seinen Segen spendet, wenn die Delegierten des Schweizerischen Kirchenbundes zu ihren Beschlußfassungen zusammentreten, wenn die Heilsarmee eine ihrer Erweckungs- und Bekehrungsversammlungen abhält, wenn hier und anderswo jeden Sonntag eine Predigt gehalten wird oder wenn wir uns nun also zum kirchlichen Bezirksfest versammelt haben, dann sieht es gewiß an allen diesen Orten so aus, als ob da christliche Gemeinde sei. Aber vergessen wir nicht: ob es nur so aussieht oder ob es auch so ist, das ist die andere Frage, die an allen diesen Orten auf die Menschen und so jetzt auch auf uns zukommt und auf unsere Antwort wartet. Was führt uns hier zusammen? Wenn wir eine christliche Gemeinde sind, dann kann es nur Eines sein: daß auch hier zwei oder drei versammelt sind in Jesu Namen. Das ist nicht meine Erfindung und Meinung. Jesus selber, der es schließlich besser wußte als wir alle, hat es so und nicht anders gesagt. Wir wollen auch nicht zu schnell denken und hinzufügen, daß es doch auch mehr als nur zwei oder drei sein könnten. Die kleine Zahl «zwei oder drei», die ja auch in der kleinsten Sekte fast übertrieben klein erscheinen könnte, erinnert uns in heilsamer Weise daran, daß die Frage nach der christlichen Gemeinde eine sehr scharf gestellte Frage ist: eine Herzens- und Gewissens frage, die Glaubensfrage, die Frage der Erwählung und Berufung, die man, wenn überhaupt, dann jedenfalls schwerlich gleich im großen Chor (wie etwa bei der Konfirmation oder beim Fahneneid) richtig beantworten kann.
Die im Namen Jesu versammelt und also die rechte christliche Gemeinde sind, sind nämlich die, denen Jesus seinen Namen ins Herz und ins Gewissen geschrieben hat. Sie gehören wohl selten zu den Vornehmsten und Angesehensten. Sie sind auch gar nicht immer die Gescheitesten und Geschicktesten, die Besten und Frömmsten. Unter ihnen wird Keiner sein, dem man nicht etwas vorzuhalten hätte und vor allem Keiner, der sich auf sich selbst auch nur das Geringste einbilden wollte. Was sie Besonderes haben, ist eigentlich nur dies, daß sie weder sich selbst noch sonst jemand, sondern eben Jesus gehören, ihm allen Dank und allen Dienst schulden, von ihm nicht mehr loskommen, wenn sie es schon wollten. Daran erkennen sie sich gegenseitig, obwohl nicht immer gleich deutlich. Das führt und das hält sie zusammen. Das macht sie zur christlichen Gemeinde. Der Name «Christen» bedeutet ja eben: Leute, die zu Jesus Christus gehören, weil sie sein Wort gehört und durch sein Wort seinen Geist, d. h. wörtlich: seinen Atem in sich aufgenommen haben, so daß ihr Leben nun von ihm her ist. Es ist ein großes Geheimnis, daß es das geben darf: Menschen, die von Jesus her leben. Es ist aber auch wieder ganz einfach: Jesus hält sie, obwohl sie doch gar keine vollkommenen, sondern sündige Menschen sind wie alle Anderen, obwohl sie es also gar nicht verdient haben und nie verdienen werden; er hält sie sehr schlicht damit, daß sie daran denken dürfen, daß er für ihre Sünden wie für die der ganzen Welt gestorben ist und also reinen Tisch zwischen ihnen und Gott gemacht hat. Jesus tröstet sie, obwohl das Leben für sie nicht leichter ist als für die Anderen, obwohl ihnen alles das, was sie selbst und Andere trifft, eher noch mehr Kummer macht und jedenfalls mehr zu denken gibt als denen, die nicht in ihrem Falle sind; er tröstet sie ganz einfach damit, daß er ihnen vor Augen steht als der Herr, der von den Toten auferstanden ist und die Welt, in der sie Angst haben, überwunden hat. Jesus ermutigt sie, obwohl sie nicht mehr Macht haben als Andere, obwohl sie so wenig wie irgendwelche Andere voraussehen und wissen können, was morgen und übermorgen oder auch nur heute abend sein wird; er ermutigt sie wieder ganz einfach damit, daß sie wissen dürfen: Alles, was kommt, das Große und das Kleine, das Schöne und das Schreckliche, ist auch ein Zeichen und auch die Ankündigung seines Kommens, und zwar seines Kommens als Sieger und in der Herrlichkeit, die einmal alle Verirrung und Verwirrung, in der wir jetzt leben, überstrahlen wird. Indem Jesus sie hält, tröstet und ermutigt, gehören sie zu ihm und leben sie von ihm her. Und indem sie das Alles durch ihn und in ihm gemeinsam haben, obwohl es in Jedem wieder etwas ganz Eigenes ist, gehören sie auch unter sich zusammen, leben sie als Brüder und Schwestern miteinander, auch wenn sie sich persönlich gar nicht kennen sollten, sind sie Glieder an einem Leibe, an dem Leibe, an dem er, Jesus, das Haupt ist. So geschah es zu allen Zeiten und so geschieht es auch heute, daß immer wieder zwei oder drei versammelt werden in seinem Namen. So entsteht und so besteht christliche Gemeinde. Dazu wäre nun freilich noch Vieles zu sagen. Ich habe jetzt nur auf die Hauptsache hingewiesen, ich denke aber, so viel ist in kürzesten Worten deutlich geworden: gerade die Hauptsache in der christlichen Gemeinde sind nicht die Christen und nicht einmal das Christentum, sondern Christus: Er für die Christen, Er in ihnen, Er mit ihnen, Er, das Wesen alles Christentums. Was wir damit gehört haben, ist das Evangelium, sein Inhalt, sein Angebot, seine Einladung. Es ist eine hohe und seltene Sache um das Evangelium. Es hält sich Mancher für sehr religiös und sehr christlich und hat doch das Evangelium noch nie verstanden. Aber eben dieses hohe und seltene Evangelium geht Alle an und kann auch von Allen verstanden werden. Es besteht also kein Hindernis, daß auch wir hier christliche Gemeinde sein können: zwei oder drei, die im Namen Jesu versammelt sind. — Wir versuchen es, von da aus weiterzudenken.
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Auch die christliche Gemeinde hat zu allen Zeiten Anteil am Zeitgeschehen. Wir hörten, daß sie von Jesus als ihrem Herrn gehalten, getröstet, ermutigt wird. Aber eben diese Worte erinnern uns daran, daß sie Halt, Trost und Ermutigung nötig hat. Indem sie Jesus gehört, lebt sie in der Zeit und ist sie von allem, was in der Zeit geschieht, mitbetroffen, angefochten und in Anspruch genommen.
Daß der Mensch Zeit hat, das bedeutet, daß Gott ihm einen freien Bereich gibt für seine eigenen Entscheidungen, Unternehmungen und Handlungen. Und was der Mensch in diesem Bereich vollbringt, das nennen wir eben das Zeitgeschehen, die Geschichte. Gott dankt nicht ab, indem er dem Menschen Zeit und also dem Zeitgeschehen seinen Bereich gibt. «Gott ist’s, der regiert und das Szepter führt.» Aber wie er das tut, das ist uns nicht offenbar, auch der christlichen Gemeinde nicht. In Jesu Christi Tod und Auferstehung ist es uns freilich offenbar. Und von da her hat die christliche Gemeinde eine bestimmte Verheißung und Verantwortung auch im Zeitgeschehen. Im Zeitgeschehen als solchen aber ist uns der Wille und die Regierung Gottes nicht offenbar, sondern verborgen. Wir sehen sie jetzt «in einem Spiegel in Rätselgestalt» (1. Kor. 13, 12). Gerade dieses Wort erinnert uns freilich daran, daß sie uns nicht etwa einfach unsichtbar ist. «Wir sehen» heißt es ja. Und in der Tat: das Zeitgeschehen, das gewaltige Wirken und Erleiden der Menschen in ihren Entscheidungen, Unternehmungen und Handlungen sehen wir wohl. Und so sehen wir wohl auch mit offenen Augen den Willen und die Regierung Gottes, die darin zur Vollstreckung kommen. Aber wir sehen ja auch sonst so Vieles und sehen es doch nicht, wenn uns die Augen für das, was es ist, obwohl es vor unseren Augen ist, nicht noch einmal ganz besonders geöffnet werden. So ist es mit dem Willen und der Regierung Gottes im Zeitgeschehen. Man könnte dieses mit einer großen Handschrift in lauter einzelnen mächtigen Buchstaben vergleichen. Diese Buchstaben sehen wir wohl. Sie stehen ja deutlich vor uns, geschrieben in dem Material der menschliehen Taten und Erlebnisse, das das Radio und die Zeitung täglich und stündlich vor uns ausbreiten. Wir müßten aber wissen, daß das Alles nicht nur irgendwelche wunderlichen Formen, sondern eben Buchstaben sind. Und wir müßten das Alphabet und die Sprache kennen, zu der diese Buchstaben gehören. Wir müßten sie lesen und wir müßten aus den Buchstaben das geschriebene Wort zusammensetzen können. Dann würden wir im Zeitgeschehen den Willen und die Regierung Gottes erkennen, obwohl sie verborgen sind. Das ist die große Frage: ob wir lesen können? Wir wollen nachher darauf zurückkommen, wenn wir von der Verheißung und Verantwortung der christlichen Gemeinde reden.
Bleiben wir noch einen Augenblick dabei stehen, daß auch die christliche Gemeinde, indem sie am Zeitgeschehen Anteil hat, vor jener großen Handschrift steht, in der der regierende Gott nicht offenbar, sondern verborgen ist. Was wir sehen, ist ein gewaltig bewegtes Meer von menschlicher Größe und menschlichem Elend, von menschlichen Plänen und Vollbringungen, von menschlichen Erfolgen und Katastrophen: alles menschlich, allzumenschlich! Dieses Menschliche enthält freilich das Göttliche: Gottes Gnade und Gericht, Gottes Absichten, Führungen und Bewahrungen. Eben dieses Menschliche verbirgt es aber auch. Und da drohen nun verschiedene Versuchungen. Das Menschliche im Zeitgeschehen ist immer dazu angetan, einem Lust zu machen, ihm den Rücken zu kehren, die Zeitung wegzulegen, das Radio abzustellen, von allem nichts mehr oder doch möglichst wenig wissen, vom weltlichen Getümmel fern mit Gott allein sein zu wollen. Aber das ist eine Versuchung. Gott hat uns die Zeit nicht dazu gegeben, hat uns am Zeitgeschehen nicht dazu beteiligt, damit wir täten, als ob uns Alles nichts anginge. Es geht uns ja doch an, ob wir es wahr haben wollen oder nicht. Und wer hier das Menschliche nicht sehen will — als ob er selber nicht auch menschlich wäre! — der würde allerdings bestimmt auch das Göttliche nicht zu sehen bekommen, der würde dann auch in seiner gleichsam gestohlenen Stille und Einsamkeit Gott schwerlich zum Gefährten haben. Die andere, schwerere Versuchung besteht in dem Gedanken, es möchte darum, weil wir überall nur das Menschliche und dieses fast immer in so schlimmer und trauriger Gestalt zu sehen bekommen, ein regierender Gott gar nicht sein. Aber die Anklage des Gottesleugners ist ein Pfeil, der nicht sein Ziel, sondern seinen eigenen Schützen trifft. Was wäre das für ein doppelt Blinder, der die Sonne, von deren Licht doch auch er lebt, darum leugnete, weil gerade er sie nicht zu sehen vermag! Eine dritte, noch schwerere Versuchung besteht darin, das Menschliche oder irgend etwas Menschliches im Zeitgeschehen mit dem Göttlichen zu verwechseln: sich, weil man Gott nicht sieht, wie die Israeliten in der Wüste, irgendeinen Gott zu erfinden und zu machen, zu erwählen und einzusetzen. Aber das ist törichter Götzendienst, auch wenn dabei nicht wie damals gerade ein Kalb, sondern vielleicht das Schweizertum oder Deutschtum, vielleicht die Vorstellung einer allgemeinen Aufklärung und Bildung, vielleicht die materielle Wohlfahrt des eigenen Standes die angebetete Gottheit ist — töricht darum, weil schließlich doch keine von diesen Gottheiten die Welt wirklich regiert, noch regieren kann. Wie ist man zum Narren gehalten, wenn man Gott gegen irgendeinen von diesen Göttern vertauscht! Die Versuchung besteht also immer darin, vor den wunderlichen Formen des Menschlichen im Zeitgeschehen Halt zu machen und sie als solche zu betrachten, als ob da keine Buchstaben, als ob da in deren Zusammenhang kein Wort zu suchen und zu enträtseln, keine Sprache zu verstehen wäre. Und außerhalb der christlichen Gemeinde gibt es wohl keinen Widerstand gegen diese Versuchung. Außerhalb der christlichen Gemeinde gibt es wohl immer nur jene drei Möglichkeiten: entweder die stumpfe Gleichgültigkeit oder die Gottesleugnung oder die Anbetung falscher Götter. Aber eben: auch die christliche Gemeinde steht jedenfalls in dieser Versuchung. Und wenn sie ihr nicht unterliegt, dann nicht darum, weil ihre Glieder, die Christen, bessere und klügere Leute wären als die Anderen, sondern dann nur darum, weil sie von Jesus gehalten, getröstet und ermutigt wird.
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Wir blicken jetzt kurz auf das heutige Zeitgeschehen, so wie es uns in der wunderlichen Form seiner Menschlichkeit vor Augen steht. Was geschieht heute, in derselben Zeit, in der wir hier — hoffentlich als christliche Gemeinde — versammelt sind? Wir bezeichnen jetzt nur ein paar Umrisse in einfachster Beschreibung.
Ein großer Krieg, ein zweiter Weltkrieg, aber grimmiger und furchtbarer als der erste, scheint heute, wenigstens in Europa, seinem Ende entgegenzugehen. Es fing im Jahr 1933 an mit der Begründung eines Kriegerstaates, wie ihn die Welt noch nie gesehen hatte: eines Staates, der sich die Ausübung der Gewalt um der Gewalt willen und also unter Hintanstellung jedes Rechtes als eben dessen der Gewalt zum Sinn und Ziel gesetzt hatte. Ein großes, hochbegabtes, tüchtiges und in seiner Weise auch frommes Volk ließ sich davon überzeugen und zum Teil sogar dafür begeistern, daß die Bildung eines solchen Staates seine Bestimmung, seine Rettung, seine Ehre sei. Gottähnlich sollte er sein, und mit gottähnlichen Ansprüchen und Verheißungen ist er von Anfang an an die Menschen herangetreten. Die übrige Welt sah dem zu: ein wenig verwundert, ein wenig geärgert, aber ohne zu verstehen, d. h. ohne zu glauben, daß so etwas ernst gemeint und möglich sei. Daß diese kühne Sache von Anfang an nicht nur ohne, sondern in beflissenster Feindseligkeit gegen die Juden gemacht werden sollte, fiel zwar von Anfang an auf. Es fiel auch auf, daß die christlichen Kirchen dabei sehr rasch und gründlich zum Schweigen gebracht wurden. Es fiel ferner auf, daß es bei diesem revolutionären Hobeln ohne merkwürdig viel Späne, d. h. aber ohne merkwürdig viel harte Verfolgung und Unterdrückung nicht abzugehen schien. Aber man verstand nicht. Man verstand auch das nicht, daß diese Sache die ganze Welt angehen könnte. Man ließ sich erzählen und glaubte es, daß es sich um innere Angelegenheiten handle, die nur jenes Volk angingen. Man spielte aber doch ganz gemächlich mit diesem Feuer. Man fand nämlich von weitem manches schön und bewundernswert an diesem Unternehmen. Man fragte sich auch in anderen Völkern, ob etwas Ähnliches nicht auch bei ihnen eine gute Sache sein könnte. Man hörte ja auch bei uns solche Töne. Besonders, daß es gegen die Juden ging, hat auch bei uns Vielen nicht schlecht gefallen. Und wenn Einer warnte, so mußte er damals auch bei uns ein Hetzer sein. So entstand, so wuchs, so erstarkte ohne alle Störung von außen das Dritte Reich des deutschen Nationalsozialismus. Bis es auf einmal, etwa vom dritten Jahr seines Bestehens ab, anfing, auch nach außen drohend zu werden, unterschriebene Verträge zu zerreißen, ans Schwert zu schlagen, erpresserische Forderungen zu stellen. Die Welt erschrak, aber sie wollte die Gefahr noch lange nicht wahr haben. S ie hatte den letzten Krieg in zu schrecklicher Erinnerung. Sie wich zurück, so weit es nur ging. Wir erlebten im Herbst 1938 — und es wurde damals mit allen Glocken geläutet — den Münchener Frieden, der ein halbes Jahr später von dem Sieger selbst, der ihn durchgesetzt, aufs neue zerrissen wurde. Und so weiter — bis der Widerstand der Anderen, ungern genug unternommen, durch neue Drohungen und Gewalthandlungen erzwungen, unvermeidlich wurde. Man erwachte. Aber nun erfuhr man erst, was es mit den Absichten und mit der Kraft des neuen deutschen Kriegerstaates auf sich habe. Nun hörten wir auf einmal, daß ganz Europa, ja die ganze Welt dazu bestimmt sei und darin das Heil zu erblicken habe, sich der Führung des deutschen Herrenvolkes und seinen Gesetzen zu unterziehen. Und nun zeigte es sich erst, was dieses Volk in seiner neuen Gestalt und Rüstung konnte. Nun fand es Verbündete und Vasallen. Nun fand es Mitläufer und Verräter in Menge. Nun mußten sich die Anderen zunächst eine Niederlage und Demütigung nach der andern gefallen lassen. Nun sah man das Hakenkreuz am Nordkap und an der Biskaya, auf Kreta und vor den Toren Ägyptens. Nun stand England zwar ungebrochen, aber eine Weile ganz allein, aufs schwerste gefährdet. Nun konnte es sich der unwiderstehliche Sieger leisten, auch noch das bisher abseits stehende Rußland anzugreifen. Nun sollte das Getreide der Ukraine, das Erz und das öl des Kaukasus gleich auch noch sein werden. Nun wurde der Zug des ersten Napoleon nach Moskau ein Kinderspiel neben den Erfolgen, die der deutsche Kriegerstaat auch in diesem Bereich zu erringen wußte. Bis dann auf einmal, langsam aber unaufhaltsam die Wendung einsetzte: bis dann England seine Kraft gesammelt hatte, bis dann Amerika eingriff, bis dann das scheinbar schon verlorene Rußland sich erholte und auf einmal mit einer von Niemandem erwarteten Kraft zurückzuschlagen begann. Es kam an den Tag, daß die Anderen, wenn es denn durchaus sein mußte, auch und sogar noch besser Krieg zu führen wußten. Es kam Stalingrad. Es kam Tunis. Es kam der Sturz Mussolinis und die Invasion in Italien. Es kamen an allen Ecken und Enden die Widerstandsbewegungen in den schon unterworfenen Ländern. Es kamen die furchtbaren Luftangriffe auf die deutschen Industriestädte. Es kam endlich, lange vergeblich erwartet, aber dann um so gründlicher vorbereitet und unternommen, die Invasion auch in Frankreich. Und die Russen rückten vor, rückten immer wieder vor und rücken immer weiter vor. Sie stehen heute schon fast auf deutschem Boden. Nur ein deutscher Sieg und Triumph ist während dem allem ebenso unaufhaltsam weitergegangen: die systematisch geplante und durchgeführte millionenweise Vernichtung und Ausrottung von Männern und Frauen, Kindern und Säuglingen des Judenvolkes, soweit dieses immer dem deutschen Zugriff erreichbar war. Das Spiel ist noch nicht zu Ende. Es kann noch zu allerhand Überraschungen und Stillständen kommen. Aber das Ende ist sichtbar. Ein Einsatz, wie ihn die Weltgeschichte noch nie gesehen hat, wurde gewagt, wurde von der anderen Seite schließlich überboten und dürfte jetzt schon als sicher verloren gelten. Der deutsche Kriegerstaat wird weder Europa noch die Welt beherrschen. Er wird sich auch in seinem eigenen Land und Volk sicher nicht behaupten können. Und es bestehen keine Anzeichen dafür, daß ein anderes Unternehmen von derselben Art so bald an seine Stelle treten wird. Seine Spuren locken nicht zur Nachfolge. Es bestehen aber allerdings Anzeichen dafür, daß im künftigen Europa viel Englisch, aber auch viel Russisch geredet werden wird. Das ist das heutige Zeitgeschehen in seinen Umrissen.
Fügen wir noch ein Wort hinzu über unseren schweizerischen Anteil an dieser Sache. Wir wurden in diesen Jahren auf einmal eine Insel im deutschen Meer und sind es noch immer. Wir haben unsere Neutralität behauptet und geschützt und eben damit unsererseits erklärt, daß wir eine Insel bleiben, uns also dem deutschen Unternehmen nicht unterwerfen wollten. Daß dies unser Wille war, daß unsere Neutralität ein in diesem Sinn aktiver Beitrag zum europäischen Widerstand war, das hat man freilich lange Zeit nicht offen sagen dürfen. Vielleicht soll es noch heute ein Geheimnis sein, wo die große Mehrheit des Schweizervolkes in ihrem Herzen steht und nicht steht, und daß wir Grund haben, aufzuatmen, wenn das Spiel nun so und nicht anders zu Ende geht. Die Wahrheit hat in diesen Jahren nicht laut, nicht öffentlich gesagt werden dürfen im Schweizerland. Die schweizerische Unabhängigkeit bekam eben in diesen Jahren eine etwas andere Auslegung als die, mit der man im Frieden des 19. Jahrhunderts laut gewesen war. Es wäre darum wohl zu wünschen, daß wir bei der kommenden Gedächtnisfeier der Schlacht bei St. Jakob mindestens etwas bescheiden sein möchten. Die Männer von St. Jakob waren nämlich nicht ganz so vorsichtig, wie wir es in dieser Zeit mit Recht oder Unrecht gewesen sind. Wir haben aber immerhin nur beiläufig und mehr oder weniger unfreiwillig manchmal ein bißchen mit den Wölfen geheult. Wir haben uns nicht derselben Nachgiebigkeiten schuldig gemacht, wie gewisse andere neutrale Staaten. Wir haben uns gegen die Flüchtlinge und andere Opfer des Krieges zwar nicht immer sehr edelmütig, manchmal sogar etwas herzlos, aber im Ganzen doch auch nicht geradezu unmenschlich benommen. Man muß überdies in Rechnung stellen, daß vielleicht auch von unserer Regierung in der Stille allerhand so Tapferes und Gutes getan worden ist, daß man es uns vorderhand der Vorsicht halber gar nicht mitteilen konnte. Sicher ist, daß wir beiden Lagern gewisse unentbehrliche Treuhänderdienste geleistet haben und daß ja auch das Rote Kreuz nach wie vor vom Schweizerboden aus am Werk gewesen ist. Unsere Armee hat ihre Aufgabe erfüllt und auch für unsere materielle Versorgung ist umsichtig gesorgt worden. Wir hoffen, daß wir auch Schwereres als das, was uns bis jetzt widerfahren ist, nicht unwürdig bestanden hätten oder noch bestehen würden. Der besonders kritische Sommer 1940 hat uns zwar zu einem Teil reichlich erschrocken und verwirrt, zum anderen Teil aber doch auch mutig und entschlossen gefunden. Die letzte Probe ist uns bis jetzt erspart geblieben. Wir waren und sind bedroht, und zwar äußerlich und innerlich. Wir sind aber bis jetzt in jeder Hinsicht mit einem blauen Auge davongekommen. Das ist unser besonderer, der schweizerische Anteil am heutigen Zeitgeschehen, soweit er sich bis jetzt überblicken läßt.
Unsere Frage ist aber die: wie die christliche Gemeinde an dem Allem Anteil nimmt? Und unsere Antwort ist die doppelte: daß sie im heutigen Zeitgeschehen erstens eine bestimmte Verheißung und zweitens eine bestimmte Verantwortung hat. Davon soll jetzt die Rede sein.
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Die christliche Gemeinde hat im heutigen Zeitgeschehen eine bestimmte Verheißung. Eine Zusage, ein Versprechen, eine Garantie, kann man auch sagen. Indem sie in der Zeit lebt, ist sie doch des Herrn Jesus Eigentum. Indem sie zur Zeitgenossenschaft gehört, ist sie auch die Bürgerschaft seines Reiches. «Siehe, ich bin bei euch bis an der Welt Ende.» Eben von daher hat sie eine bestimmte Verheißung, die man außerhalb der christlichen Gemeinde so nicht hat. Ob sie sie erkennt und ergreift und von ihr Gebrauch macht? Wenn sie das gar nicht täte, so wäre sie nicht die christliche Gemeinde. Aber ob sie sie recht erkennt, tapfer ergreift, tüchtig Gebrauch von ihr macht und also rechte, tapfere, tüchtige christliche Gemeinde ist, das ist eine andere Frage.
Die Verheißung besteht vor allem darin, daß sie jener dreifachen Versuchung: der Versuchung der Gleichgültigkeit, der Versuchung der Gottesleugnung, der Versuchung, falsche Götter anzubeten, nicht erliegen muß, sondern widerstehen kann. Und das bedeutet, wie wir sahen: sie braucht nicht bloß zu glotzen auf das, was heute in der Nähe und Feme geschieht, als wären da keine Buchstaben, aus denen sich ein Wort zusammensetzt, das man lesen kann. Sie sieht also in dem, was heute geschieht, nicht nur die Ereignisse und Gestalten, nicht nur die menschlichen Wagnisse und das menschliche Mißlingen, den menschlichen Schlag und Gegenschlag, den menschlichen Aufstieg und Niedergang. Sie kann lesen. Sie hat die Verheißung, daß sie das kann und wenn sie diese Verheißung richtig erkennt, ergreift und in Gebrauch nimmt, dann kann sie nicht nur lesen, dann liest sie, dann versteht sie also etwas von dem, was heute geschieht: nicht Alles, aber auch nicht Nichts, nur Weniges, aber gerade die Hauptsache, gerade genug, um in dem, was geschieht, den regierenden Gott zu erkennen.
Sie müßte ja blind sein, wenn sie übersehen könnte, wie der deutsche Nationalsozialismus von Anfang an und, je mehr er sich seinem Ende nähert um so heftiger, gerade die Judenfrage in den Mittelpunkt seiner merkwürdigen Bemühungen gestellt hat. Sie müßte ja blind sein, wenn sie sich irgendeine von den phantastischen Erklärungen, die für diese Tatsache vorgebracht wurden, zu eigen machen könnte. Sie müßte ja blind sein, wenn ihr erster und einziger Gedanke in dieser Sache nicht der wäre, daß eben ihr eigener Herr Jesus Christus selber ein Jude war, ihre eigene Wurzel das von Gott erwählte und berufene Volk Israel, das Evangelium, von dem sie selbst lebt, die Botschaft, die zuerst an die zwölf Stämme dieses Volkes ergangen und zuerst von den zwölf Aposteln aus diesem Volk verkündigt worden ist. Die Judenfrage ist die Christusfrage. Daß die Juden Christus in ihrer Mehrzahl verworfen haben und in ihrer Mehrzahl noch heute verwerfen, ändert daran gar nichts, daß sie das Christusvolk sind: sie waren es ja auch in der Zeit des Alten Testamentes, wo sie Mose und alle Propheten Gottes ebenso wenig gehört haben. Und daß die Juden uns in der Regel nicht gerade gefallen, so daß es uns gar nicht so leicht wird, die allgemeine Menschenliebe nun auch auf sie anzuwenden, das kann daran, daß gerade sie das Christusvolk sind, auch nichts ändern. Wenn uns die Juden nicht gefallen, dann mögen wir als Christen die Augen auftun und uns sagen: So also, so mißfällig sieht der Mensch aus, dem Gott sein Erbarmen zugewendet hat. So ohne alles Verdienst, so über die Maßen sündig steht der Mensch da, für dessen Heil und ewiges Leben Christus am Kreuz gestorben ist. Mag denn der Splitter in unseres jüdischen Bruders Auge es uns offenbar machen, wenn wir es sonst noch nicht wissen sollten: so sehen auch wir aus, so stehen vor Gott auch wir da — wir, die wir erkennen dürfen, was die armen Juden immer noch nicht erkennen: als Mißfällige, denen Gott sein Wohlgefallen nun dennoch nicht versagen wollte. Was für Überjuden müßten wir selber sein, wenn wir bei allem, was wir gegen die Juden haben mögen, nicht zuerst an die Unbegreiflichkeit der göttlichen Gnade denken würden, von der doch auch wir ganz allein leben können! Und hier ist noch mehr zu sehen: Was ist denn das für ein Bild, das uns in der Mitte des heutigen Zeitgeschehens gerade in der grundlosen und wehrlosen Schlachtung und Opferung des Judenvolkes vor Augen gestellt wird? Ist es nicht jener um aller Anderen willen gestrafte und gepeinigte Knecht Gottes aus dem Jesaja-Buch, ist es «in einem Spiegel in Rätselgestalt» nicht unser Herr Jesus Christus selber, der im Schicksal jener unzähligen erschossenen oder lebendig begrabenen, im überfüllten Viehwagen erstickten oder schließlich durch Giftgas getöteten Juden aus Deutschland und Frankreich, Polen und Ungarn sichtbar wird? Was für ein Offenbarungszeichen, was für ein Buchstabe, was für ein Wort, was für ein Gottesbeweis sondergleichen! Ist es möglich, daß eine christliche Gemeinde nicht sieht, um was, um wen es da geht? daß ein Christ nicht in die Knie sinkt: All Sünd’ hast du getragen! Herr, erbarme dich unser! Nicht der Jude, sondern im Schattenbild des verfolgten und getöteten Juden du bist es ja, dessen Verwerfung hier noch einmal in ihrer ganzen Unbegreiflichkeit sichtbar wird, an dessen einsamen Tod wir hier noch einmal erinnert werden. Wie Gott seinen Sohn für uns dahingegeben hat, das ist es ja, was uns hier im Schicksal seiner leiblichen Brüder und Schwestern noch einmal vorgeführt wird. Was wir auch gegen die Juden zu klagen und zu brummen haben mögen — was sollen wir nur eigentlich sagen, wenn es Gott gefallen hat, aus diesem Volk mitten in unserer Zeit dieses Zeichen zu machen? Hat man das einmal gesehen, wo bleibt dann auch nur die geringste Neigung, uns den Nationalsozialisten gerade in dieser Sache zur Seite zu stellen? Wie kann man dann unwillig sein, heute gerade für die Juden einzutreten? Die christliche Gemeinde hat dafür einen ernsteren Grund als die allgemeine Menschenliebe, die wir auch dem Juden schuldig sind. Was ihr einem von diesen Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan. Und was ihr einem von diesen Geringsten nicht getan habt, das habt ihr mir nicht getan. Darum geht es in dieser Sache. Und die christliche Gemeinde kann heute sehen, daß es in dieser Sache darum geht.
Eben von da aus kann sie dann auch das Andere sehen: warum sich das deutsche Unternehmen vor allem auch gegen die christliche Kirche richten, warum es schon in den ersten Jahren seines Bestehens gerade die Gestalt eines Kirchenkampfes annehmen mußte. Da war kein Mißverständnis. Wer es auf die Wurzel, auf Israel abgesehen hat, der mußte und muß auch dem Stamm, der Kirche, ans Leben gehen, der mußte und muß im Bekenntnis zu Christus seinen ersten Feind sehen. Wer ihn in den Juden haßt, der muß ihn in den Christen erst recht hassen. Die Verdrängung und Unterdrückung der Kirche, die in Sowjet-Rußland nicht notwendig war und darum neuerdings auch wieder abgestellt werden konnte, sie war und ist im nationalsozialistischen Deutschland notwendig und wesentlich. Und hier hat man nicht getötet, hier hat man das Schlimmere getan: hier hat man die Kirche von innen angegriffen und erledigt, indem man nicht ruhte, bis nur noch ein abgeschwächtes und verfälschtes Evangelium öffentlich laut werden durfte: ein Evangelium, wie es in den Kriegerstaat paßte, ein Evangelium, das diesem nicht zu nahe trat und das er schließlich für seine Zwecke nur zu gut zu gebrauchen wußte. Das sind Dinge, die die christliche Gemeinde heute sehen kann.
Sie wird sich aber, immer von demselben entscheidenden Punkt aus, auch darüber nicht verwundern, daß jenes ganze deutsche Unternehmen, das wir heute erschüttert seinem Ende entgegeneilen sehen, sich als eine so auffallend freche Offenbarung menschlicher Ungerechtigkeit dargestellt hat. Das ist kein Zufall und das läßt sich auch nicht daraus erklären, daß die deutsche Art etwa eine ganz andere und so viel mächtigere und schlimmere wäre als die der anderen Völker. Die christliche Gemeinde kann und muß das wirklich besser wissen. Nicht weil sie Deutsche sind, sondern weil sie unter die Herrschaft des furchtbaren Gedankens gerieten, sich selber in ihrem Staat zur Gottähnlichkeit zu erheben, sich selber damit helfen und Ehre verschaffen zu wollen, daß sie das Volk Jesu Christi und damit folgerichtig auch die Botschaft der christlichen Kirche aus dem Weg räumten, weil sie an jene Wurzel und damit an jenen Stamm rührten — darum und damit sind die Deutschen in ihrem Kriegerhochmut so ungebärdig und maßlos, in ihrer Kriegführung so schrecklich geworden. Man streitet nicht umsonst gegen den Juden Jesus. Man erhebt sich damit gegen das Geheimnis der göttlichen Erwählung. Man greift damit an das Einzige, was den Menschen mit Gott verbindet. Man will damit die zwischen Beiden vollbrachte Versöhnung rückgängig machen. Man wird damit bodenlos. Eben diesen Streit haben die andern Völker — ihn haben auch die viel angeklagten Sowjetrussen, so gewiß sie nicht besser waren und sind als die Deutschen, nie aufgenommen. Wo man diesen Streit aufnimmt, da wird man stark und bös wie der Teufel. Da gewinnt man Macht über die Menschen. Da lernt man es, sie zu verachten. Da bringt man es fertig, sich seine Jugend zu einer Generation von zähnefletschenden kleinen Wölfen zu erziehen. Da singt man es kühn heraus: «Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt!» Da traut man es sich zu, selber den Herrgott spielen zu können. Und da gelingt es auch beinahe, das Alles wahr zu machen. Da lernt man es jedenfalls, solche Wunder zu tun, wie sie zwischen 1938 und 1941 geschehen sind. Da kann es dann wohl längste Zeit so scheinen, als ob man den sog. «Allmächtigen» und die sog. «Vorsehung» wirklich ganz auf seiner Seite habe. Es muß alles so sein. Das Widergöttliche hat zweifellos die Kraft des Übermenschlichen. Aber das Übermenschliche hat ebenso notwendig die Art des Unmenschlichen. Was sind alle einzelnen deutschen Härten und Greuel, was sind alle Fehler und Vergehungen der andern Völker, der Russen z. B., was sind schon unsere braven neutralen Schweizer Sünden neben der Ursünde, deren sich die Deutschen — tiefsinniger und geheimnisvoller veranlagt als wir Alle— in jenem entscheidenden Punkt schuldig gemacht haben? Sie ist die einzige durchschlagende Erklärung der besonderen deutschen Ungerechtigkeit im heutigen Zeitgeschehen. Die christliche Gemeinde kann bei dem üblichen Schimpfen über die «Schwoben» auf keinen Fall mittun. Sie kann nur erschrecken vor der Warnung ihres Schicksals, in welchem sie nun merkwürdigerweise gerade dem von ihnen so gehaßten und verfolgten Judenvolk so seltsam ähnlich geworden sind. Sie kann nur beten: Führe uns nicht in Versuchung! — nicht in diese letzte, höchste Versuchung, Gott zu versuchen, in der der Mensch so stark und bös, solcher Schwabenstreiche fähig wird wie die, die das deutsche Volk sich in diesen Jahren geleistet hat. Sie kann nur staunen über den Gottesbeweis, der im Geschehen unserer Zeit auch in dieser Hinsicht sichtbar ist.
Und nun kann uns endlich auch das nicht verwunderlich sein, daß das deutsche Unternehmen offenbar nicht gelingen konnte. Was die Deutschen mit ihrem Kriegerstaat und mit ihrem neuen Europa wollten, das geht nun einmal nicht. Alles Andere, eine kommunistische Weltordnung z. B. könnte zur Not gehen, aber das bestimmt nicht. Und die christliche Gemeinde weiß, warum es nicht geht. Wir sollten nicht denken, es gehe darum nicht, weil die andern Völker zu klug und zu stark, die Engländer zu hartnäckig, die Amerikaner zu tüchtig, die Russen zu tapfer und wir Schweizer zu freiheitsliebend und wehrbereit gewesen seien, um diese Sache durchgehen zu lassen. Ich wollte mein Vertrauen nicht auf solche Faktoren gesetzt haben. Es hat zwischen 1938 und 1941 sehr danach ausgesehen, als ob sie alle auch hätten versagen können. Das Hindernis sitzt tiefer und ist solider. Es ging und es geht darum nicht, weil Gott — der Gott, der sich in dem Juden Jesus mit uns Menschen verbündet hat — seiner nicht spotten läßt und weil auch die stolzeste und saftigste menschliche Ungerechtigkeit da sicher auf ihre Grenze stößt, da sicher zuschanden werden muß, wo sie sich an ihm vergreifen will. Das deutsche Unternehmen bestand in seinem Kern und Wesen — und das ist eben die deutsche Lösung der Judenfrage — darin, daß es in das Regiment Gottes eingreifen wollte. Eben darum war es schon von Anfang an gerichtet. Eben darum konnte man es von Anfang an nicht eigentlich fürchten. Eben darum brauchte man schon zwischen 1938 und 1941 nicht zu zweifeln und nicht zu wanken. Wer Augen hatte zu sehen, der konnte schon damals wissen: «Ein Wörtlein kann ihn fällen!» Ihm konnte Alles, was seither geschehen ist, nur Bestätigung über Bestätigung sein. Was da aufstand, das konnte keinen Bestand haben. Was da drohte, das konnte nicht siegreich werden. Alles kann weichen, Gott kann es nicht. «So spricht der Herr, der die Sonne gesetzt hat zum Licht am Tage, den Mond und die Sterne zum Licht für die Nacht, der das Meer erregte, daß seine Wogen brausten — Herr der Heerscharen ist sein Name —: So gewiß diese Ordnungen vor mir niemals vergehen, spricht der Herr, so gewiß werden auch die Geschlechter Israels nimmermehr aufhören, vor mir ein Volk zu sein für und für. So spricht der Herr: So gewiß die Himmel droben nicht zu ermessen und die Grundfesten der Erde drunten nicht zu ergründen sind, so gewiß will ich die Geschlechter Israels nicht verwerfen um all ihrer Taten willen» (Jer. 31, 35—37). Daran, daß das wahr ist, hat der deutsche Nationalsozialismus mit seinem Judenkampf und Kirchenkampf, mit seiner ganzen Übermenschlichkeit und Unmenschlichkeit scheitern müssen. Und so war Alles, was dann von so vielen Seiten getan worden ist, um jenes Unternehmen aufzuhalten, all das Rüsten, Marschieren, Fahren, Fliegen und Schießen der beunruhigten und empörten Völker ringsum doch nur die Ausführung eines Beschlusses, der zum vornherein feststand, lauter Buchstaben, die zusammen den Satz, den Gottesbeweis ergeben, der jetzt wieder einmal deutlich vor unseren Augen steht: Ich bin der Herr! Gerade wie die Wasserwogen, die damals über dem Pharao und seinem Heer zusammenbrachen, nur die Buchstaben waren, die zusammen schon damals eben diesen Satz ergaben.
Die christliche Gemeinde sieht diese Buchstaben und liest diesen mannigfaltigen Gottesbeweis. Sie vernimmt im heutigen Zeitgeschehen das klare Echo von dem, was von Jesus Christus, von Israel und von der Kirche, von des Menschen Sünde und Elend und von Gottes Gnade und Gerechtigkeit auf jedem Blatt der Bibel schon lange bezeugt ist. Sie findet im heutigen Zeitgeschehen das wiederholte und bestätigte Gotteswort. Sie hat ja Augen, zu sehen. Sie hat jedenfalls die Verheißung, daß sie sehen kann. Und wenn sie diese Verheißung richtig erkennt und ergreift und in Gebrauch nimmt, dann sieht sie wirklich. Und wenn sie mit sehenden Augen sieht, dann ist sie eben damit aufs neue die christliche Gemeinde, erfährt sie es eben damit aufs neue, daß Jesus bei ihr ist auch in diesen Tagen, auch im heutigen Zeitgeschehen und daß die Pforten der Hölle sie nicht überwältigen können. Indem sie sieht, empfängt und übt sie neue Treue, als christliche Gemeinde auszuharren, entfaltet sie neue Kraft, als solche zu leben, erfährt sie neuen Antrieb, als solche zu glauben, zu lieben, zu hoffen.
Sind wir christliche Gemeinde? Wenn wir es sind, dann haben war diese Verheißung. Dann müßten wir heute sehen können. Dann müßten wir uns heute, indem wir sehen, aufs neue aufgerufen finden, christliche Gemeinde zu sein. Es wird doch nicht an dem sein, daß wir gar nicht wissen, daß wir diese Verheißung haben. Und es kann doch nicht möglich sein, daß wir sie umsonst haben.
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Aber eben in der Verheißung steckt nun auch das Andere, nämlich unsere, der christlichen Gemeinde klare Verantwortung im heutigen Zeitgeschehen. Wir könnten auch sagen: ihr Beruf, ihre Aufgabe, ihre Sendung. Die christliche Gemeinde ist von Jesus dazu gehalten, getröstet und ermutigt, damit sie sein Zeuge sei. Und eben dazu hat sie auch die Verheißung, daß sie sehen darf und kann. Ihr Sehen kann kein müßiges Gaffen sein. Was sie sieht, geht sie selbst an. Indem sie sieht, ist etwas Bestimmtes von ihr gewollt und verlangt. Sie darf nämlich sehen, weil sie etwas sagen soll: etwas, was außerhalb der christlichen Gemeinde so nicht gesagt werden kann. Eine schweigende, eine dem Zeitgeschehen bloß zuschauende Gemeinde wäre nicht die christliche Gemeinde. Zu seinen Aposteln hat ja Jesus gesagt, daß er bei ihnen sein werde bis an der Welt Ende. Indem er bei seiner Gemeinde ist, bekommt diese die Verantwortung des apostolischen Zeugnisses.
Es kann also dabei nicht sein Bewenden haben, daß sie selbst jener dreifachen Versuchung, der Versuchung der Gleichgültigkeit, der Versuchung der Gottesleugnung und der Versuchung falsche Götter anzubeten, widerstehen kann. Sie muß vor aller Welt laut werden lassen und bekennen, daß dieser Versuchung die Macht genommen ist, daß niemand ihr erliegen muß. Wie könnte sie den Namen Jesu verkündigen, wenn sie das nicht bekennen würde? Jesus ist der Herr. Jesus ist Sieger. Jesus hat der Versuchung allen Menschen zugut gänzlich und endgültig widerstanden. Und wo Jesus geglaubt wird, da kommt den Menschen sein Widerstand zugute, da kann sie es auch über sie letztlich und endlich nicht gewinnen. Das ist’s, was die christliche Gemeinde zu bezeugen hat, so gewiß sie von Jesus her lebt, so gewiß sie das nicht schweigend tun kann. — Wenn ich recht sehe, so sind es drei Dinge, für deren Bezeugung die christliche Gemeinde im heutigen Zeitgeschehen besonders verantwortlich ist.
Das Erste ist schlicht und groß das Reich Gottes. Das ist es ja, was die Welt nicht weiß: daß Gott, nämlich der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der Vater Jesu Christi, regiert. Woher sollte sie es auch wissen? Wir sahen und sagten ja, daß das zwar in Jesus offenbar, im Zeitgeschehen aber immer verborgen ist. Aber wenn es nun, wie wir weiter sahen, auch im Zeitgeschehen doch nicht einfach unsichtbar, sondern als mächtiger Gottesbeweis für die, die Augen haben, zu lesen steht? Wie sollte dann die christliche Gemeinde, die Gemeinde der Sehenden und Lebendigen, die ja dasselbe schon zuvor und aus direkter Quelle weiß, davon schweigen können, daß wirklich und wahrhaftig Gott regiert? Sie hat den Auftrag, das zu sagen. Sie hat auch heute nicht etwa den Auftrag, den Leuten zu sagen, daß die Zustände in der Welt nun in allmählichem Fortschritt immer besser, schöner und angenehmer würden. Sie hat ihnen nicht zu sagen, daß der Mensch im Grunde gut sei und daß er es, wenn er nur wollte, auch gut haben könnte. Sie weiß wohl, daß der Mensch böse ist und daß darum die Welt, solange es eine Welt geben wird, im Argen liegen wird. Sie hat aber den Auftrag, zu bekennen und zu verkündigen, daß Gott auch diese arge Welt regiert, auch des bösen Menschen Herr, Richter, Erretter und Fürsorger ist, daß auch die arge Welt und der böse Mensch von ihm nicht fallen gelassen, sondern bei ihm geborgen sind. Die Welt leidet daran, daß sie das nicht weiß. Wir alle leiden daran. Wir fragen uns ja immer wieder: ob Gott wohl regiere? Wir leben ja immer wieder, als ob er es nicht tue. Das Zeitgeschehen, das ja eben das Werk des Menschen ist, ist immer wieder daran krank, daß die Menschen das nicht wissen, daß Gott regiert. Der Nationalsozialismus hätte gar nicht entstehen können oder er hätte sofort wieder verschwinden müssen, dieser ganze Krieg mit all seiner Not und Angst hätte gar nicht aufkommen können, wenn die Welt es gewußt hätte, daß Gott regiert. Und wenn es nach diesem Krieg nicht in näherer oder fernerer Zeit zu neuem — nach dem deutschen nicht zu irgendeinem amerikanischen oder russischen — Unheil kommen soll, dann muß die Welt vor allem anderen das wissen, daß Gott regiert. Wenn dieses Wissen das Werk des Menschen bestimmte, dann wäre ihm geholfen, nicht endgültig geholfen, aber doch weitergeholfen. Es steht nicht in der Macht der christlichen Gemeinde, der Welt dieses Wissen mitzuteilen. Sie muß ja selber immer wieder darum ringen. Sie hat ja selber immer nur ein kleines Stücklein von diesem Wissen. Sie muß ja selber beten: Dein Reich komme! d. h. Deine Herrschaft, die jetzt verborgen ist, werde offenbar, so daß es gar keiner besonderen Zeichen, gar keines besonderen Lesens mehr bedarf, sondern Alle es sehen, wie sie die Sonne sehen: Du regierst! Wir Christen machen es ja nicht, daß Gott regiert. Er tut es wirklich ohne uns. Und so können wir es erst recht nicht machen, daß sein Reich komme, daß sein Regieren in Herrlichkeit offenbar werde.
Das Zweite ist ein Geringeres, aber darum doch nicht Geringfügiges. Die christliche Gemeinde ist es heute ihrem Herrn und der Welt schuldig, die göttliche Wohltat und die göttliche Notwendigkeit des rechten und freien irdischen Staates zu bezeugen. Wir sehen am Anfang des heutigen Zeitgeschehens den gottähnlichen Kriegerstaat, der den König Christus und sein Volk nur als Feind ansehen und behandeln konnte, der in dieser Feindschaft groß und schrecklich, zum reinen Gewaltstaat wurde und der nun im Begriff steht, an dieser Feindschaft jämmerlich zugrunde zu gehen. Wir sehen aber zum Glück auch die andern Staaten, wahrhaftig auch sie keine vollkommenen Gebilde, aber in aller Unvollkommenheit immerhin rechte und darum freie Staaten, die nun das Mittel wurden, der Überschwemmung für diesmal einen Damm entgegenzusetzen. Wir haben Anlaß, dafür dankbar zu sein, daß sich im Geschehen unserer Zeit immerhin auch ein Stück irdisch-menschlicher Ordnungsmacht behauptet und als widerstandsfähig erwiesen hat. Die christliche Gemeinde weiß, wem alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf Erden. Eben darum weiß sie zwischen echter und lügnerischer, zwischen rechter und unrechter irdischer Gewalt, zwischen der von Gott eingesetzten und der von Menschen willkürlich erfundenen und auf den Thron erhobenen Obrigkeit zu unterscheiden. Darum ist sie dankbar für alle echte, rechte, von Gott eingesetzte Gewalt und Obrigkeit, die der Unmenschlichkeit eine Grenze setzt und für die Menschlichkeit Raum schafft. Darum ehrt sie sie als eine Anordnung der göttlichen Geduld, die die Menschheit auch außerhalb der christlichen Gemeinde, auch vor dem Anbruch der Herrlichkeit seines Reiches nicht sich selbst und ihrer Torheit und Bosheit überlassen wollte. Echte Politik ist nach dem klaren Wort des Apostels Paulus (Röm. 13, 4) auch Gottesdienst. Irdisches Recht und irdische Freiheit — beide dann echt, wenn das eine des anderen Erfüllung ist — sind auch Gottesgaben. Unsere Zeit mit ihrer Zerstörung aller Ordnung, mit der ganzen Mühsal ihrer Verteidigung und mit der vor uns liegenden bergehohen Schwierigkeit ihrer Wiederherstellung bedarf wahrhaftig gerade dieses Gottesdienstes, gerade dieser Gottesgaben. Das heutige Zeitgeschehen hat uns aber auch deutlich genug gezeigt, daß der Mensch gerade in dieser Sache allzu leicht verführbar ist. Der deutsche Kriegerstaat wird zwar, wenn er endlich beseitigt sein wird, so bald nicht wieder kommen. Es versteht sich aber nicht von selbst, daß das, was nachher kommen wird, die Politik des Rechtes und der Freiheit sein wird, die die geplagte, sich selbst so mannigfach plagende Menschheit so nötig hätte wie das tägliche Brot und gerade um des täglichen Brotes willen nötig hätte. Es wird sich das nicht einmal in der Schweiz von selber verstehen. Die Erhaltung und Entfaltung des rechten, freien Staates ist eine Sache, die sich nie und nirgends von selbst versteht. Die christliche Gemeinde darf nicht gleichgültig sein in dieser Sache. Sie hat sich auf diesem Gebiet viel zu oft einschüchtern lassen und geschwiegen, wo sie hätte reden sollen. Das ganze große Unglück in Deutschland wäre vielleicht nie möglich geworden, wenn die christliche Kirche sich dort nicht schon seit Jahrhunderten angewöhnt hätte, von der echten irdischen Gewalt und Obrigkeit, von Recht und Freiheit zu schweigen, wo sie hätte zeugen und reden sollen. Die christliche Gemeinde kann und soll gewiß nicht selber Politik machen und regieren wollen. Sie kann und muß aber den Völkern und den Regierungen bezeugen, daß Politik Gottesdienst, Recht und Freiheit Gottesgaben sind. Sie kann und muß in aller Offenheit und Liebe fragen, rufen, bitten, mahnen, wo der Staat sich aufzulösen oder wohl umgekehrt zu erstarren, wo er dem Unrecht statt dem Recht, der Unfreiheit statt der Freiheit dienen zu wollen, wo er den Menschen oder Gott oder beiden zunahe zu treten droht. Die christliche Gemeinde ist als solche verantwortlich für das, was im Staat und durch den Staat geschieht und nicht geschieht. Sie ist ihm ihr offenes Wort schuldig. Wäre sie ihrem himmlischen Herrn getreu, wenn sie nicht eben im Blick auf ihn zu unterscheiden und dann auch zu sagen wüßte, was echte irdische Herrschaft ist und nicht ist? Könnte sie das Gottesreich aufrichtig und kräftig verkündigen, wenn ihr in allem, was sie sagt, nicht auch die Fragen, Sorgen und Aufgaben der vorläufigen, der von den Menschen zu verwaltenden irdischen Ordnung am Herzen läge? Geht es mit rechten Dingen zu, dann müssen gerade alle die, die unter der Unvollkommenheit dieser Ordnung zu leiden haben, zu kurz kommen und benachteiligt sind, wissen, daß sie in der christlichen Gemeinde auch auf diesem Gebiet einen wachsamen Fürsprecher haben. Lieber soll sie dreimal zu viel für die Schwachen eintreten, als einmal zu wenig, lieber unangenehm laut ihre Stimme erheben, wo Recht und Freiheit gefährdet sind, als etwa angenehm leise! Wo es umgekehrt steht, da steht es nicht gut um die christliche Gemeinde. Sie hat es wohl gerade in dieser Hinsicht heute besonders nötig, zu erwachen und sich auf ihre Verantwortung zu besinnen.
Das Dritte, das hier zu nennen ist, führt uns noch einmal zurück in die Mitte von all dem, was uns heute beschäftigt hat. Die christliche Gemeinde ist gerade im heutigen Zeitgeschehen dafür verantwortlich, daß das Wort, in welchem das tiefste Geheimnis des Gottesreiches und unseres Herrn Jesus Christus ausgesprochen wird, nicht verschwiegen, sondern laut werde: das Wort von der Vergebung der Sünden. Die christliche Gemeinde lebt davon, daß sie von Jesus getröstet, gehalten und ermutigt wird. Nicht weil die Christen das verdient hätten, sondern obwohl und indem sie das nicht verdient haben. Sie leben von der Gnade Gottes, der gerade den sündigen Menschen nicht fallen läßt, der gerade nicht den Tod des Sünders will, sondern daß er sich bekehre und lebe, dessen Gericht nur in der Absicht geschieht, gerade die Ungerechten zurecht zu bringen. Die christliche Gemeinde weiß, daß dieser gnädige Gott im Regimente sitzt. Daß das wahr ist und daß sie das weiß, das wird sie nun erst recht sichtbar machen müssen. Nun erst recht! Es ist wahr, daß im heutigen Zeitgeschehen vor Gott und damit auch von Mensch zu Mensch übermäßig viel und schwer gesündigt worden ist. Was für ein Meer von wahrhaftig begreiflichem Zorn und Haß sich in diesen Jahren angesammelt hat, das werden wir wohl erst richtig sehen, wenn die Stunde anbricht, da es überall in furchtbarer Vergeltung über seine Ufer treten wird. Und schwere Wiedergutmachungen und auch Bestrafungen werden auch da, wo der Rückschlag nicht in Unordnung, sondern in Ordnung verlaufen wird, gerade um der Aufrichtung und Proklamation der Ordnung willen unvermeidlich sein. Es ist auch ganz richtig, was neulich in einer Basler Zeitung zu lesen stand: daß man jetzt von christlicher Seite nicht allzu rasch und glatt von der gleichen Schuld Aller und Jeder reden dürfe, sondern daß es heute ernste Unterschiede der Verantwortungen und ihrer notwendigen Folgen zu beachten gebe, die durch kein allgemeines Verzeihen und Vergeben aus der Welt zu schaffen seien. Das Alles kann und darf aber die christliche Gemeinde nicht hindern, zu glauben und zu bekennen, daß der, der im Regimente sitzt, der gnädige Gott ist: der Gott, der Sünden vergibt. Dieser Glaube und dieses Bekenntnis hat mit unaufrichtiger Gutmütigkeit gegen das Böse und gegen die Bösen nichts zu tun. Gewiß, so unzweideutig hat sich wohl noch selten ein Volk allen anderen gegenüber ins Unrecht gesetzt und das Urteil gesprochen, wie es das deutsche Volk in diesen Jahren getan hat. Aber gerade diese Unzweideutigkeit der Sachlage muß uns als Christen zu denken geben. Gerade in seinem Streit gegen den gnädigen Gott hat sich das deutsche Volk auch menschlich so sehr ins Unrecht gesetzt und ist es nun so gewaltig gescheitert. Gerade in seiner Ohnmacht ihm gegenüber leidet es nun und wird es noch mehr leiden müssen. Daß er seiner gerade als der Gott, der Sünden vergibt, nicht spotten läßt, daß gerade der Thron seiner Barmherzigkeit feststeht gegenüber allen Übergriffen menschlichen Übermutes, das muß dieses Volk nun in großer Bitterkeit erfahren. Und das muß es lernen, daß das der Sinn seiner gegenwärtigen Erfahrung ist: seine Begegnung mit dem gnädigen Gott, den es verwerfen wollte, der sich aber offenkundig nicht verwerfen läßt. Das darf es jetzt lernen. Wenn irgendein Volk heute, ob es das weiß oder nicht, unzweideutig vor Jesus Christus steht als vor dem, der gekommen ist, die Sünder zu retten und nicht die Gerechten, dann ist es neben dem jüdischen Volk — und in merkwürdiger Ähnlichkeit gerade mit ihm — das deutsche Volk. Was folgt daraus für uns Andere? Wenn wir Christen und also solche sind, die wissen, daß sie allein von Gottes Gnade leben, dann sicher dies, daß wir ernstlich damit rechnen müssen: diese Letzten könnten noch einmal die Ersten werden. Und darum sicher dies, daß wir das Unheil, das jetzt übermächtig auf diese Letzten, von denen es gekommen ist, zurückzuschlagen beginnt, auf keinen Fall mit unserem Verdammungsurteil begleiten können. Wir konnten und durften in diesen vergangenen Jahren nicht auf ihrer Seite stehen. Wir konnten und durften auch nicht «neutral» zwischen ihnen und den Anderen in der Mitte stehen. Als Christen bestimmt nicht! Wir mußten uns an unserem Ort verwahren und wehren gegen die Übergriffe, die im Namen dieses Volkes und nicht ohne seine Zustimmung und Mitwirkung begangen wurden. Aber wenn wir das recht getan haben, dann haben wir es doch nicht nur gegen, sondern auch für dieses Volk, zu seinem eigenen wohlverstandenen Besten getan. Und wenn diese Abwehr nun in absehbarer Zeit überflüssig werden, wenn der deutsche Kriegerstaat unschädlich gemacht am Boden liegen wird, dann wird es unsere Sache nicht sein können, wo Gott gerichtet hat, nochmals zu richten. Wer in den vergangenen Jahren vor den Deutschen keine Angst gehabt hat, der wird nun die Freiheit haben, ihnen in den kommenden Jahren auch nicht mehr grollen zu müssen. Und es werden die unsicheren Kantonisten der vergangenen Jahre sein, die sich in den kommenden dadurch verraten werden, daß sie über das Grollen nicht hinauskommen. Das deutsche Volk ist in Gottes Hand; in der strengen Hand des gnädigen Gottes. Daran werden wir uns, nachdem wir ihm widerstehen mußten und widerstanden haben, zu halten haben. Und das ist es, was wir den Deutschen, wenn wir wieder mit ihnen werden reden können, werden sagen müssen. Wir werden ihnen ihre Verantwortung und deren bittere Folgen nicht abnehmen können. Wir werden sie bitten müssen, ihre Verantwortlichkeit nicht abzuleugnen und ihren Folgen nicht aus weichen zu wollen. Wir werden ihnen aber auch nicht verschweigen können, daß die große Verheißung: «Jesus Christus die Versöhnung für unsere Sünden» auch sie und gerade sie angeht, die nun so unbedacht und so wild gegen sie gestritten haben — jeden deutschen Menschen, auch den unglücklichen Mann, in dessen Namen sich alles Schreckliche dieser Jahre für uns zusammengedrängt hat. Wir werden dabei den Balken in unserem eigenen Auge nicht übersehen dürfen. Wir werden Jenen vielmehr zugestehen müssen, daß uns unsere eigenen Sünden — auch die braven Sünden, die wir hartgesottenen Schweizer unterdessen begangen haben — nicht verborgen sind. Wir werden mit ihnen bekennen müssen, daß wir wissen, daß uns wie ihnen nur dadurch beizukommen und zu helfen ist, daß uns das Wort von der Vergebung ganz neu gesagt wird und daß wir uns eben durch dieses Wort zurecht bringen lassen. Wir werden über das, was Jene im besonderen gesündigt haben, nur unter der Voraussetzung mit ihnen reden dürfen, daß sie als die, die wissentlich oder unwissentlich, führend oder verführt, so viel üble Gewalt verübten, in Wahrheit unglücklicher und mehr zu beklagen sind als die, die diese üble Gewalt von ihnen zu erleiden hatten. Und dann werden wir sie gewissermaßen bei der Hand nehmen müssen: nicht um mit ihnen zu rechten, sondern um ihnen zu sagen und zu erklären, wie nahe der gnädige Gott gerade ihnen, wie bereit er gerade für sie ist, und um dann mit ihnen das Unser Vater zu beten. Die Bitte: Gib uns heute unser täglich Brot! wird allenthalben nötig sein nach diesem Krieg, noch nötiger aber die folgende: Vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern! Und dann eben die letzte: Und führe uns nicht in Versuchung — nicht in neue, schwerere Versuchung — sondern erlöse uns von dem Bösen! Alles wird darauf ankommen, daß das Alles nicht gegen, sondern für die — nicht von oben herunter zu, sondern in voller Bereitheit zur Gemeinschaft mit denen gesagt und gebetet wird, von denen wir uns nun, um nicht untreu zu werden, so lange haben scheiden müssen. Und daß das wirklich geschieht, dafür wird die christliche Gemeinde in allen Ländern verantwortlich sein. Wenn es uns schwer fallen sollte, nun zu dieser Haltung und Gesinnung überzugehen, dann lasset uns bedenken, daß es den Christen in Frankreich und Holland, in Dänemark und Norwegen noch ganz anders schwer fallen muß als uns. Die Welt müßte und würde aber aus einem Chaos dem anderen entgegenstürzen, wenn der Übergang zu solcher Gesinnung und Haltung nun nicht stattfände, wenn in all das notwendig Harte, was nun zur Wiederherstellung der Ordnung gesagt und geschehen müssen wird, nicht auch laut und deutlich das Wort von der Vergebung der Sünden hineingerufen würde. Die christliche Gemeinde — und sie allein — kennt dieses Wort, kann und darf es aussprechen. Sie muß es aber auch aussprechen. Wehe ihr, wenn sie es nicht täte, wenn sie heute nur zu binden und nicht zu lösen, nur anzuklagen und zu schelten und nicht zu trösten und zu helfen, Sünden nur zu behalten und nicht zu vergeben, nur das Gesetz und nicht das Evangelium zu verkündigen wüßte! Die Verirrten und Verwirrten, aber auch die Verstockten und Verlorenen unserer Zeit — laßt uns bedenken, daß wir auch zu ihnen gehören! — bedürfen dessen, daß ihnen von Gottes Gnade geredet wird. An ihr haben wir Alle gesündigt. Zu ihr müssen wir Alle uns zurückrufen lassen. Sonst kann und wird auch das heilige Gesetz Gottes nirgends zu neuer Geltung kommen. Die christliche Gemeinde ist dafür verantwortlich, daß dieses Zurückrufen Ereignis wird. Es ist wirklich eine schwere Verantwortung. Heute von allen vielleicht die schwerste — die damit auf sie gelegt ist. Aber sie muß übernommen werden. Die Botschaft vom gegenwärtigen und kommenden Gottesreich könnte nicht kräftig, auch die Botschaft vom rechten, freien Staat könnte nicht heilsam, die christliche Gemeinde könnte nicht die christliche Gemeinde sein, wenn es nun aus ihrer Mitte heraus nicht wirklich erst recht laut würde, daß es der Gott «der Geduld und des Trostes» (Röm. 15, 5) der das Szepter führt. Vielleicht ist gerade diese Verantwortung auch nicht so schwer, und zwar darum nicht, weil es schließlich eine freudige Sache ist, gerade im heutigen Zeitgeschehen diese Freudenbotschaft ausrichten zu dürfen.
Vortrag gehalten am kirchlichen Bezirksfest Oberaargau, Sonntag, den 23. Juli 1944, in der Kirche Dürrenroth.
Quelle: Karl Barth, Verheißung und Verantwortung der christlichen Gemeinde im heutigen Zeitgeschehen, Zollikon-Zürich: Evangelischer Verlag, 1944.